Im Niemandsland und Nirgendheim
Atmosphärische Dichte und erzählerische Intensität: Christoph W. Bauers neuer Roman „Niemandskinder“.
Atmosphärische Dichte und erzählerische Intensität: Christoph W. Bauers neuer Roman „Niemandskinder“.
Man verliert eine Heimat nach der anderen.“ Dieser Satz von Joseph Roth, 1938 im Pariser Exil niedergeschrieben, geht dem Protagonisten von „Niemandskinder“ durch den Kopf, während er im „Tournon“, seinem Pariser Café, sitzt und zum Geschäft auf der gegenüberliegenden Straßenseite starrt, wo seine Geliebte Samira arbeitet. Von Anfang an ist die Liebe zwischen der Tochter marokkanischer Einwanderer, die sich für ihre Wohnadresse schämt, und dem jungen schwärmerischen Lyriker, der ihr Einkaufslisten wie Gedichte seiner Lieblingspoeten aufsagen könnte, eine schwierige Liebe. Die Lebensentwürfe und Erwartungen sind zu unterschiedlich, es kommt zum Zerwürfnis.
Fünfzehn Jahre später, kurz nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo im Jänner 2015, macht sich der Ich-Erzähler erneut in die Stadt auf, um sich auf die Spuren seiner verlorenen Liebe zu begeben, aber auch, um seinen Freund Stefan zu besuchen. Die beiden verbindet, dass sie als Zugezogene in einem Tiroler Wintersportdorf aufwuchsen. Stefan ist historischer Dokumentarfilmer und wegen seiner Liebe Sandrine nach Paris gezogen, der Ich-Erzähler hat seine Schriftstellerkarriere aufgegeben und ist Zeithistoriker. Stefan übergibt ihm ein wichtiges Dokument, das in Zusammenhang mit der Geschichte einer Frau steht, die den Protagonisten nicht mehr loslässt: die Biographie von Marianne, „geboren 1946, eine Innsbruckerin ihre Mutter, ihr Vater ein marokkanischer Soldat aus dem 4. Gebirgsregiment“. Als Tirol und Vorarlberg 1945 unter französische Besatzung kamen, bestanden die ersten Einheiten aus marokkanischen Soldaten, die, selbst auf der untersten militärischen Hierarchiestufe, bald wieder abgezogen wurden. Die Kinder, die aus der Verbindung von Österreicherinnen und marokkanischen Soldaten hervorgingen – aus Liebesbeziehungen, aber auch aufgrund von Vergewaltigungen –, führten, durch ihre dunkle Hautfarbe stigmatisiert, ein von der Tiroler Gesellschaft geächtetes Leben, erlebten Rassismus und Ausgrenzung.
Der Protagonist versucht, sich ein Bild von Marianne und ihrem Leben zu machen. Dabei trifft er auf Elisabeth, auch sie ein „Niemandskind“. Mittlerweile eine alte Frau, berichtet sie in mehreren Briefen von der Zeit unmittelbar nach dem Krieg. Der Erzähler bringt in Erfahrung, dass Marianne seit vielen Jahren abgängig gemeldet ist. Und so wird eine Verschwundene, die ihr Geheimnis allerdings nicht preisgeben wird, zum heimlichen Zentrum des Romans, von dem aus die Fäden in die unterschiedlichsten räumlichen und zeitlichen Richtungen gezogen werden (der Roman spielt auf mehreren Zeitebenen): vom Nachkriegs-Innsbruck zur Jahrtausendwende, die der Protagonist in Paris verlebt, wo – wie im Rest der EU – gegen das Haider-Österreich demonstriert wird, und von hier bis in die österreichische Gegenwart mit erneutem „Herkunftsgelaber“ und „Stammbaumgerede“.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!