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Im Reich des Demolierers

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EINES TAGES KOMMT DER RÄUMUNGSBEFEHL. Die Mieter haben ihre Wohnungen zu verlassen... bis zum ... widrigenfalls... Die Zimmer sind finster, eng, feucht, ungesund. Wer könnte sich wünschen, hier zu wohnen? Trotzdem verlassen viele Leute auch solche Behausungen alles andere als'gern. Doch eines Tages steht der Möbelwagen vor dem Haus. Wer nicht freiwillig geht, wird delogiert.

Dann steht das Haus einige Zeit leer. Tage, Wochen, -in manchen Fällen sogar Monate.

Dann kommen die Demolierer.

Schließlich gähnt ein ! Loch neben der Straße, und wenn man sich an das Haus erinnert, das einst hier stand, erscheint es einem seltsam klein.

Und eines Tages steht ein neues Haus da. Und die Leute ziehen wieder ein. Allerdings selten dieselben . ..

Wohnverhältnisse, einst mit Selbstverständlichkeit hingenommen, werden heute als menschenunwürdig betrachtet. Manches alte Haus wurde für die Ewigkeit gebaut — aber das zwanzigste Jahrhundert weiß nichts damit anzufangen. Deshalb haben die Demolierer, die vor zehn Jahren, nachdem die meisten Bombenruinen abgetragen waren, um, ihre Vollbeschäftigung bangen mußten, nach wie vor Hochkonjunktur.

Autos werden heute weggeworfen, obwohl sie mit repariertem Motor und neuen Reifen noch tausende Kilometer fahren könnten. Gebrauchsgegenstände werden weggeworfen, weil es modernere gibt. Möbel werden weggeworfen, weil sie nicht mehr dem Geschmack der Zeit entsprechen. Doch ein Haus wirft man nicht so leicht weg.

*

DER CHEF DER DEMOLIERER KOMMT, schaut sich die Situation an, stellt ein paar Fragen und nennt dann einen Betrag. Nach dem Krieg, so ungefähr bis 1950 oder 1952, hieß das: So viel zahle ich ihnen für das Material. Heute heißt es: So viel müssen sie bezahlen.

Denn heute kostet es nicht nur Geld, ein Haus zu bauen; auch wenn man es wieder loswerden möchte, um den Platz anderweitig zu verwenden, muß man Geld auf den Tisch legen. Für 10.000 Schilling verschwindet ein ebenerdiges Häusel in günstiger Lage an der Peripherie. Für zwei Millionen Schilling wird ein weniger günstig ge-

legenes, solides Fabriksgebäude, vom Keller bis zum Dach aus Eisenbeton, dem Erdboden gleichgemacht. Eilt die Sache, sind die Pläne für den Neubau schon fertig und es soll möglichst schnell damit begonnen werden, muß man noch einen runden Batzen drauflegen.

Demoliererrekord: Acht Wochen für ein achtstöckiges Warenhaus aus Eisenbeton, mitten in der Stadt. *

HAT MAN SICH ÜBER DAS HONORAR GEEINIGT, KOMMEN DIE DEMOLIERER. Sie turnen über mächtige Eisenkonstruktionen, von Strebe zu Strebe, und zerkleinern mit dem Schneidbrenner, was oft noch treue Dienste leisten könnte und lediglich mit dem Wort „unrationell“ zum Tod verurteilt wurde.

Sie balancieren über schmale Mauerkronen, doch das Wort balancieren ist hier eigentlich fehl am Platz

— sie gehen da oben spazieren, als wäre das schmale Band auf einer zehn Meter hohen Mauer der sicherste Gehsteig. Die sogenannten „Schwindelfreien“, hochbezahlte Spezialisten nur weil sie schwindelfrei und kräftig sind, kann man mit Recht Artisten mit der Spitzhacke nennen. Sie brechen Ziegel nach Ziegel los, manchmal auch ganze Mauertrümmer, und lassen sie in die Tiefe poltern. Sie stehen da oben, als stünden sie zu ebener Erde und als wäre, was sie da tun, nicht im mindesten gefährlich, doch die Versicherungsgesellschaften rechnen die Arbeit der schwindelfreien Abbruchspezialisten zu den riskantesten Tätigkeiten, mit denen sich eine Institution, die ihr Geschäft mit der Sicherheit macht, gerade noch abgeben kann.

Manchmal fühlen sich die Schwindelfreien allzu sicher. Hoch oben auf der Mauerkrone stehend, hieb einmal einer von ihnen mit der Hacke genau jenen Fenstersturz weg, auf dem er stand. Fazit: ein Toter. Im zweiten Weltkrieg bekam eine Abbruchfirma den zweifelhaften Auftrag, in der Zirkusgasse einen Tempel abzureißen

— ein Arbeiter setzte sich rittlings auf einen Eisenträger der Kuppel, der frei in die Luft hinausragte, und begann mit dem Schneidbrenner im wahrsten Sinn des Wortes den Ast abzuschneiden, auf dem er saß. In Anbetracht einer Höhe von zwölf Metern kam er mit schweren Verletzungen sehr glimpflich davon. Beim Demolieren

einer Ruine auf dem Rathausplatz gaben zwei Arbeiter einem Mauerblock, den sie in die Tiefe stoßen wollten, einen so heftigen Tritt, daß sie mit ihm zusammen in den Hof stürzten. Ein Toter, ein Schwerverletzter.

„Sehen Sie, hier liegen die Kabel der Hochspannungsleitung“, erklärte

man den Arbeitern, die erschienen waren, eine Fabrik in Breitensee abzutragen, ,,hier dürfen sie also auf keinen Fall den Boden aufreißen!“ Zur Sicherheit malte man noch Warnungszeichen auf das Pflaster. Einige Meter davon entfernt, an einer dem-

nach „harmlosen“ Stelle, begann die Planierraupe mit ihrer Arbeit. Die Schaufel senkte sich, der Raupenführer ließ die Kupplung los, im nächsten Augenblick gab's eine vier Stockwerke hohe Stichflamme und ein Stadtteil war ohne Strom. Die 50.000-Volt-Leitung!

Aus diesem Grund zieht man, wo immer es möglich ist, die Originalpläne zu Rate, nach denen das Gebäude errichtet wurde.

*

MANCHE DEMOLIERER ERBEUTEN SELTSAME TROPHÄEN. Der

Inhaber einer Wiener Abbruchfirma hat sich mit diesen Trophäen in seiner Kanzlei eine Art Privatmuseum eingerichtet.

Ein faustgroßer „Morgenstern“, eine Kugel mit Stacheln. Aus Kupfer, vergoldet, mit Spitzen aus Platin. Sie war auf dem Giebel der Sühnekapelle angebracht, die bekanntlich zur Erinnerung an die Toten des Ringtheaterbrandes errichtet worden war. Die Architekten der Ringstraßenzeit sparten auch dann nicht mit Geld und Mühe, wenn sie ihre Gebäude an ziemlich unzugänglichen, kaum sichtbaren Stellen verzierten, für die Katz, besser für die Tauben . .. Vergoldung und Platin haben Bomben und Brand überstanden. Fast wäre der nutz- und auch wertlose Gegenstand auf der Planie gelandet.

Zu besichtigen beim Demolierer ...

Ein Adelsbrief mit kunstvoll ausgeführtem Deckel, die Edelsteine sind allerdings nicht so echt wie die Unterschrift und das Siegel des Kaisers. Der Demolierer kam, ein altes Palais abzureißen. In einem der Zimmer: eine alte Dame, die schnell noch ihre Sachen zusammenpackt. Die schwere Mappe liegt auf dem Fußboden.

„Frau X, der Adelsbrief Ihres Herrn Vaters!“

Achselzucken. „Wohin damit?“

Gestrandet beim Demolierer.

Leintuchgroß, unter Glas, der „Völkische Beobachter“ vom 14. Juni 1940: „Paris gefallen!“ Von einem Dachboden in der Beatrixgasse. Eine alte Petroleumlampe aus einem uralten Haus in Erdberg. Eine Nachahmung des Schlüssels von Venedig — wozu? Ein antiker Gipsgott vom Bürgertheater. Ein Brief, der einst einem Herrn Dawinghoff in Sankt Petersburg das Recht eingeräumt hatte, die Operette „Fritzi“ in Odessa aufzuführen. Der letzte Akt wurde vom Demolierer gespielt.

Und dann wieder: Ein Hitlerjugend-dolch. Ein Luftschutzhelm. Was in alten Häusern, auf verstaubten Dachböden, so die Zeiten überdauert... Ein mit rotem Samt überzogener Zeremonienstab. Ein Holzengel aus dem

Palais eines Industriellen. sEin Säbel und eine Pistole aus dem Rainerpalais.

Wiens Kunstwelt hat um dieses Gebäude getrauert - aber Auftrag ist Auftrag. Der Demolierer ist Theaterfreund. Er fürchtet, daß er noch so manches traditionsreiche Gebäude unter die Spitzhacke bekommen könnte.

Beim Abbruch einer alten Mauer griffen die Arbeiter plötzlich in eine Höhlung. Ein Schatz? Nein, eine Steintafel, bei der Errichtung des Hauses von den Maurern zur Erinnerung eingemauert. Sie hatten ihre Namen ein-

graviert: Joseph Dürer, Joseph Strauch, gebürtig aus Wien, 27. 6. 1837.

Die sterbenden Häuser gebenf die letzten Reste dessen preis, was sie von menschlichen Schicksalen bewahrt haben. Es ist wenig. Der ausschmük-kenden Phantasie bleibt fast alles überlassen.

*

IRGENDWANN SCHLÄGT JEDEM HAUS DIE STUNDE. Der Zahn der Zeit kommt nicht mehr mit. Die Spitzhacke hilft ihm fleißig.

Die Parole lautet: Fort damit!

Was konnte man nach dem Krieg noch alles verwerten! Heilgebliebene Ziegel wurden auf einer Rutsche sanft zur ebenen Erde hinunterbefördert, aufgeschichtet und verkauft. Zerbrochene Ziegel wurden womöglich zu neuem Baumaterial verarbeitet, Fensterscheiben um schweres Geld losgeschlagen, aber auch Türen und Fenster fanden willige Abnehmer, um beschädigte Wohnungen wieder bewohnbar zu machen oder als kostbares Brennmaterial. Der Verkauf einer Ruine war damals ein gutes Geschäft.

Was ist heute verwertbar? Allenfalls gut erhaltene Dachziegel, Bretter, Parketts und Träme. Auch BBntmetall-leirungen wären zu verkaufen, aber meistens sind keine mehr da, wenn die Demolierer kommen. Die Objekte stehen, so heißt es, zu lange leer.

Heute werden die Fensterrahmen samt den Scheiben ausgehängt und einfach in den Hof geworfen, zusammen mit Tür- und Fensterstöcken, abgetretenen Fußbodenbrettern, alten Dachsparren zu einem mächtigen Scheiterhaufen aufgeschichtet, mit Benzin übergössen und angezündet, denn Verbrennen kostet am wenigsten. Heute wird sogar gutes, trockenes Brennholz zum Abfall getan. Wir haben es nicht mehr nötig. Verwertbares zu verwerten.

Oder sagen wir es genauer: Wir können es uns nicht leisten. Die Arbeitskraft ist zu teuer. Es wäre unrationell.

Kein frischlackierter Wirtschaftswunderhahn kräht nach alten Ziegeln.

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