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Im Schatten von Byzanz

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WER DURCH DEN LÄRM, den Staub und die Hitze der Stadt zu einem der vielen Aussichtspunkte hinaufsteigt, dem öffnet sich,x von vielen hundert Schiffen besetzt, der Bosporus; hellblau, mit dem Himmel sich verbindend, liegt die Marmara' da, und landeinwärts weist, trichterförmig sich verjüngend, das Goldene Horn. Wenn auch Rom und Athen wegen der Hügellage und der mittelmeerischen Verwandtschaft sich zum Vergleich aufdrängen, so wird durch die Steilheit der Hügel, welche die Häuser als übereinander getürmt erscheinen läßt* der mächtige Eindruck von New York oder San Franzisko erweckt.

Dieser Grundbegriff des Gewaltigen bleibt dem Besucher Istanbuls. Die Masse und die Dichtheit der wimmelnden Bevölkerung, des gedrängten, bis in die späte Nacht sich schiebenden Autoverkehrs zeigen, daß die alte Stadt auch heute ein Brennpunkt mit großer Anziehungskraft ist. Das agrarische Hinterland Thrazien und Anatolien kann bei der raschen Bevölkerungszunahme und der fortschreitenden Technisierung der Landwirtschaft seinen Menschen nicht mehr genügend Arbeit geben. So strömen sie ab, in die Städte. Die Einwohnerzahl Konstantinopels hat sich seit 1927 verdreifacht und wächst heute weiter, über die Zweimillionengrenze hinaus.

Allerdings ist mit der Stadtwanderung das Problem der Arbeitsfindung noch nicht gelöst. Das Bild des Lebens in Istanbul gibt Zeugnis davon. Schuhputzer, Wasserverkäufer und die zahllosen Limonadeproduzent?n bevölkern die Straßen. Die kleinen Händler, mit zwei, drei in Nylonhüllen verpackten Hemden vor sich auf dem Pflaster, die zahllosen Diener und Herumsteher in den Hotels, den Garderoben, Bibliotheken und Bedürfnisanstalten, die alle irgendwie kümmerlich ihren Lebensunterhalt bestreiten, sind ein Sinnbild / für die Unterbeschäftigung und die mangelnden Arbeitsgegebenheiten. Sie tragen eine Art von ab-: .gestumpftem Gleichmut, und; yen Erwartungs- . lo&igkeit zur Schau, und man begreift, daß die Würde des Menschen auch Von seiner Mögliche keit abhängt, eine klar umschriebene Leistung zu vollbringen.

DOCH GIBT ES DANEBEN das andere, hektische, mit Schwärmen von Taglöhnern den großen „Rekonstruktionsplan“ durchführende Istanbul. Die schaulustige Menge ist ganz orientalisch, aber die Raupenschlepper, die mit langen Drahtseilen Zeilen von Häusern niederreißen, kommen von der amerikanischen Wirtschaftshilfe. Das Gedröhn der Motoren setzt auch in der Nacht nicht aus, und, gespenstisch beleuchtet vom Scheinwerferlicht, wühlen sich die großen Planierungsmaschinen durch den Schutt. D'e öffentlichen Arbeitsprogramme ziehen Tausende von Menschen an, und viele Kilometer breiter„ zweibahniger Autostraßen laufen heute schon durch das alte Konstantinopel und seine Vorstädte. Man wird an die Epoche der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erinnert, da in Paris die Boulevards von' Haus-man gezogen wurden und in Wien die Ringstraße entstand. Doch ist der Stil der neuen Straßen in Istanbul vom Kraftwagen und den Gesetzen des motorisierten Massenverkehrs bestimmt. Die anfängliche Bewunderung für die Kühnheit des verkehrsplanerischen Konzepts wird bald von der immer wieder sich aufdrängenden Frage gedämpft, wie, wann und mit welchen Mitteln alle jene Baustellen zu Ende gebracht werden könnten. Istanbul ist an Hunderten von Stellen aufgerissen un4 bietet das Bild eines blessierten Giganten. Die Staubentwicklung auf manchen holperigen, unfertigen Stellen des Straßennetzes ist so intensiv, daß sich die Kraftfahrzeuge bei hellem Sonnenschein mit aufgeblendetem Scheinwerfer bewegen.

Doch nicht nur Häuser lind Straßen werden „rekonstruiert“, sondern alles, was, in den Bereich der öffentlichen Hand fallend, für Renovierung in Frage kommt, wird mit Spitzhacken, Hämmern und Meißeln bearbeitet. Es gibt kaum eine Moschee, eine Friedhofsmauer, eine alte byzantinische Befestigung, an der sich nicht ein Gerüst emporrankte. So suchen Stadt und Staat Arbeitsplätze für Tausende von Menschen zu schaffen. Wie lange ohne großzügigen Ausbau und Gründung verschiedener Industriezweige die Arbeitslosigkeit auf diese Weise abgesaugt und das schon gefährdete wirtschaftliehe Gleichgewicht im Inneren und nach außen gehalten werden kann, ist ungewiß.

MEHR ALS EIN DRITTEL DES ZUGEWANDERTEN AGRARPROLETARIATS in Istanbul fluktuiert, strömt wieder aufs Land zurück oder verläßt zumindest Istanbul. Die alte Stadt ist zum guten Teil mit einer Art rotierender Bevölkerung erfüllt, die ihre eigene Lebensweise hat. Vieles, was man am Goldenen Horn sieht, ist nicht „städtisch“, sondern in den Bannkreis eines zivilisatorischen Zentrums versetzte arme Dörflichkeit. An Kleidung, Wohnform, Eß- und Schlafgewohnheiten der armen Viertel läßt sich das erkennen. So nimmt man auch nicht Anstoß, sich mit ein paar Teppichen und Tüchern in einer alten byzantinischen Befestigungsmauer oder einem räderlos aufgebockten Autobus einzurichten. Doch sind diese im Bereich der Stadt liegenden und doch nicht zur Stadt gewordenen sozialen Zonen nicht allein aus der Not der Gegenwart zu erklären. Grundlegende Unterschiede trennen den Osten vom Westen, wo ein städtisches Bürgertum, beruhend auf handwerklicher Lebensform einerseits und kaufmännischem Wohlstand anderseits, unter regionaler Herrschaft eine eigene, spezifisch städtische Kultur aufbauen konnte. In den Reichen östlicher Prägung konnten die Städte (und unter ihnen nur wenige) bestenfalls Verwaltungszentrum und Herrschaftssitz mit der durch das Beamtentum verstärkten strengen hierarchischen Bindung an die Mächtspitze werden.

ISTANBUL MIT SEINEN MOSCHEENBEKRÄNZTEN HÜGELN wirft für den Besucher auch die Frage nach der Lebenskraft des Islams1 an der europäischen Peripherie auf. Wohl liegen keine Zählungen von Gottesdienstbesuchern vor, und auch mit Schätzungen, daß die Ziffer der Moscheenbesucher zwei bis drei Prozent der Bevölkerung an keinem Tag der Woche überschreitet, ist nicht viel gedient, da es ganz ungewiß ist, wie. tief der alte Glaube das Ver- • halten der Menschen zu bestimmen vermag. Erstaunlich ist wohl, wie sehr — trotz starker, mit den Reformen unter Atatürk vor 30 Jahren ausgelöster, gleichsam öffentlicher ■ Säkularisierungswellen — der Islam seine Gläubigen zu ergreifen vermag. Die Intensität, die aus den religiösen Handlungen derer, die sie ausführen, spricht, schlägt den aufmerksamen westlichen Beobachter in Bann. Die Liebe, mit der von Angehörigen verschiedener ökonomischer und bildungsmäßiger Schichten die Einzelheiten der Waschungen an Gesicht, Händen und Füßen vor dem unbeschuhten Betreten der Moschee vorgenommen werden, ist mehr als ein Kulturdokument. Heftig atmen bei dem gesten- und verbeugungsreichen Gebet die Körper — sowohl beim gemeinschaftlichen wie auch beim persönlichen Gottesdienst.

Kühl und ruhig getönt, eine bildlose Oase in dem bunten, staubigen Gewimmel der Stadt, ist der innere Raum der Moschee. Nur die Bernsteinrosenkränze klimpern, und der magische, immer wieder auf Allah austönende nasale Gesang einzelner Vorbeter ist zu hören. Das Ornament dominiert, und die dekorativ-schriftlichen Formeln für Gott sind das sichtbare Richtzeichen für diesen „Puritanismus des Ostens“. In Wahrheit ist es der prophetische Grundton, der die Bildlosigkeit verursacht, und das Gebot, sich kein Bild zu machen, läßt auch heute noch den einfachen Mann in den Straßen Istanbuls das Gesicht vor der neugierigen Kamera des Fremden abwenden oder verstecken. An.imanchen.:WaDfahrtsbrten. tritt, doch das Bedürfnis nach sinnenhafter Realisierung des religiösen Gefühls hervor: so in Eyup, wo, umgeben von einem weitausgedehnten mohammedanischen Friedhof, der Bannerträger d-s

Propheten ruht. Er fiel im 7. Jahrhundert vor Konstantinopel und wurde nach dessen Eroberung durch den Islam im 15. Jahrhundert feierlich am Ufer des am weitesten landeinwärts gelegenen Stückes des Goldenen Hornes bestattet. Hier wird der Sarkophag umschritten, es werden die eisernen Gitter und Geländer, Heilkraft suchend, betastet. Die Konzentration mancher Gläubiger scheint sie aus ihrer Umwelt entrückt zu haben. Erst seit wenigen Jahren wird, mit mißtrauischem Blick, der Fremde dort überhaupt geduldet, vor einem halben Jahrhundert noch wäre der Versuch, in diese heiligsten Bezirke einzudringen, ein tollkühnes Wagnis gewesen.

Man verläßt diese Totenstadt mit Gedanken an Nikolaus von Kues, den dialektischen Theologen und diplomatischen Kardinal, der, knapp vor dessen Eroberung, 1453, Konstantinopel besuchte und mit den ernsten Ideen über die Möglichkeit einer inneren Verbindung zwischen Judentum, Islam und Christentum seine ekkle-siologischen Traktate füllte.

DOCH VERMÖGEN WEDER DIE INTENSITÄT NOCH DIE PRACHT DES ISLAMS: der Kranz der Moscheen und die Paläste der Sultane noch, das für den Wiener merkwürdige Gefühl, sich an der “Ausgangsbasis der bis an seine Heimatstadt vorgetragenen Expansionen zu befinden, den Blick auf das kaiserliche Byzanz zu verstellen. Immer noch sind die alten Mauern, die jahrhundertelang berannt wurden, Siedlungsgrenze der heutigen Stadt gegen Westen und trennen sie von den Vororten. Die Autobahnen, die durchgezogen wurden, folgen den kaiserlichen Straßen und verlassen die Stadt durch die majestätischen Tore der Befestigungen. Noch sind die Grundlinien des Hippodroms vorhanden und die alten Hafenanlagen von Byzanz erkennbar. Die Krönung des alten Konstantinopel jedoch ist, äußerlich schlicht und die innere Dimension nicht ahnen lassend, die Kirche der göttlichen Weisheit, Hagia Sophia. Es kommt einer Erschütterung gleich, sich bewußt zu machen, wie Grundriß und Architektur dieses christlichen Gotteshauses zur Matrix, zur Meisterform für den erobernden Islam geworden sind. So edel die Variationen der vielfältig entwickelten Moscheen auch sein mögen, das Urbild der „göttlichen Weisheit“ geht ihnen allen voran, der Zeit wie der geistigen Ausgewogenheit nach. An ihr wird ganz deutlich, daß — wie der große österreichische Kenner des Orients, Jakob Philipp Fallmerayer, sagt — im byzantinischen Reich der Versuch unternommen wurde, nur „eine Kraft tätig sein und alle übrigen in dieser einzigen untergehen“ zu lassen: christlich verklärtes Gottkaisertum. Auch die byzantinische, mit dieser Machtkonzentration gegebene Stille — „der griechische Widerwille gegen den Glockenton“ — drückt sich aus in der sakralen Architektur der Sophienkirche, und die Entwicklungslinie bis herauf zu den hesychastischen Mönchen ist angedeutet.

Vom Platz vor diesem Scheitelpunkt Konstantinopels geht der Blick den Bosporus hinauf, gegen das Schwarze Meer hin, jene Wasserstraße entlang, über die Dareios eine Brücke schlagen ließ„ um sein Invasionsheer nach Europa überzusetzen. Schräg gegenüber, auf der asiatischen Seite, brachte — der Sage nach — Jason, aus dem Kolcherlande über das stürmische Schwarze Meer heimkehrend, sein Dankopfer dar ... Gibt man sich Gedanken über solche mythischen Gemarkungen hin, nimmt es einen dann gar nicht mehr wunder, daß im Gewirr der Hinweistafeln und Verlautbarungen am Flugplatz von Istanbul, während die Augen vor dem Aufruf für die Maschine nach Wien noch herumwandern, das zu einem Kurzstreckenflug einladende Plakat plötzlich auffällt: „Fly to Troy.“

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