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Im Sog des technischen Wettlaufs

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„Die Welt von morgen gehört den Ingenieuren!”

„Die Welt steht mitten in einem dramatischen Entscheidungskampf zwischen Ost und West. Moskau stampft im wahrsten Sinne des Wortes ganze Brigaden vop wissenschaftlich geschulten Fachleuten aus dem Boden. Mit ihrer Hilfe entwickelt sich Rußland zur stärksten techno kratischen Wirtschaftsmacht der Welt.”

Solchen und ähnlichen Ausführungen begegne! man heute in jeder Zeitung. Ein ungeheuer harter technischer, sozialer und geistiger Wettbewerb hat nahezu die ganze Welt erfaßt. Mit unwiderstehlicher Dynamik stürmt, die Entwicklung der Zukunft entgegen. Ein unfaßbarer Optimismus treibt die Menschheit unaufhaltsam vorwärts, ins Ungewisse.

Ist es da verwunderlich, wenn so mancher kopfschüttelnd innehält und sich nach dem Sinn dieses Ganzen fragt? Ist es nicht naheliegend, daß sich Vernünftige aus dem allgemeinen Wettrennen auszuschließen versuchen, dessen Ziel sie’ nicht kennen, dessen Tempo sie jedoch bis zur Erschöpfung beansprucht? Wäre es nicht verdienstvoll, sich dieser wilden Jagd entgegenzuwerfen, sie zum Halten, zur Rückkehr zu be- ‘ wegen?

Angesichts dieser Ueberlegungen wird der innere Zwiespalt verständlich, dem das an und für sich konservative Bauerntum heute ausgfttern setzt ist. Auf der einen Seite steht1 die solide- wirtschaftliche Basis des kleineren oder größeren Bauernhofes und das ausgewogene soziale Leben des gesunden Patriarchalismus. Beides ist umfaßt und eingebaut in ein Gesellschaftsbild, das sich im Laufe von Jahrhunderten organisch mtwickeln konnte.

Auf der anderen Seite stehen die neuen technischen Möglichkeiten, die eine wirtschaftliche und soziale Umstellung erlauben und erzwingen. Das neue. Gesellschaftsbild beginnt erst allmählich Formen anzunehmen.

Angesichts der eingangs aufgezeigten stürmischen Entwicklung erscheint es verwunderlich, daß. die Landwirtschaft noch nicht ungestümerin den technischen und sozialen Wettlauf der Zeit hineingezogen wurde. So hat sich etwa hier die Ueberzeugung noch lange nicht durchgesetzt. daß in der Nahrungsmittelproduktion ähnliche Entwicklungsmöglichkeiten denkbar sind wie in anderen Erzeugungstechniken. Man hält im Gegenteil die zufällig irgendwo geübte Produktionsmethode für naturgegeben.

Und dies trotz der Erkenntnis, daß sich die Erzeugungstechnik in zähem, Jahrtausende währendem Kampf vom Sammler zum Jäger, zum Hirten, zum Pflanzer mit Grabscheit, Hakenpflug, Eisenpflug bis zum Traktor und Mähdrescher vorgearbeitet hat. Und dies, obwohl wir heute noch alle Entwicklungsstufen nebeneinander auf der Welt finden und die höhere jeweils lijper die niedrigere lächelt.

Den sozialen Vorstellungen unserer Zeit hat sich der Bauernstand innerlich ebenfalls noch lange nicht angeschlossen. Sie werden als überspitzt, unberechtigt und unhaltbar abgelehnt. Dieser Ansicht steht wieder der kolossale soziale Aufstieg der letzten hundert Jahre gegenüber. Hand in Hand mit der Technik hatte sich sowohl ein sozialer Ausgleich als auch eine allgemeine Hebung des sozialen Niveaus angebahnt. Wer je in ihren Genuß kam, wird bereit sein, diese Sozialordnung mit allen Kräften zu verteidigen.

Auch an die bäuerliche Welt rückt der Lebens- Standard immer näher heran. Höherer Lohn, kürzere Arbeitszeit, schönere Freizeitgestaltung. Zum Vergleich wird auf die nichtbäuerlichen Berufe verwiesen, auf, die Angestellten, auf die Industriearbeiter, auf die moderne Industrie-, gesellschaft. Alte bäuerliche „Tugenden”, wie Anspruchslosigkeit, Sparsamkeit, Fleiß, patriarchalisches Sozialdenken usw., verlieren damit an Aktualität. Wer anspruchslos und sparsam ist, wünscht keinen Ernährungs-, Wohnungsund Bekleidungsluxus. Der Fleißige denkt nicht an verkürzte Arbeitszeit zugunsten einer ausgedehnten Freizeit. Patriarchalisches Sozialdenken verzichtet auf ein umfassendes kompliziertes Versicherungssystem, da es sich selbst genügt.

Durch den industriellen Aufstieg und die gleichzeitige Spezialisierung erfolgte eine einschneidende berufliche Umgruppierung. Viele Berufe entstanden neu, andere und insbesondere der Bauernberuf wurden volksanteilsmäßig stark dezimiert. Angesichts dieser Entwicklung und der Tatsache, daß der Bauernstand rein zahlen- mäßigfijabepuauch ’wirtschaftlich einst, -dominierend vtfär,’ließ sich “diS bäuerliche’Welt iiütner stärker in die Verteidigungsposition gegenüber den anderen Berufsständen drängen. Anstatt zu versuchen, die Entwicklung abzuschätzeiv und zu regulieren, wollte man sie äbbremsen. Man schilderte die Landflucht in den schwärzesten Farben, man diskriminierte ändere Berufe und glorifizierte den bäuerlichen. Man maß dem Bauernstand ein eigenes Ethos zu, einen Mythos. Man war bedacht auf die Erhaltung des noch Bestehenden, der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturformen. Dazu kam noch das Nahrungsmitteldumping aus Uebersee, das zu scharfen Schutzmaßnahmen vom Markt her zwang.

Inzwischen ging die Entwicklung unaufhaltsam weiter, sich zwar im Tempo, niemals jedoch in der Tendenz ändernd. Die Landwirtschaftsbevölkerung wurde in etwa 100 Jahren von 80 auf 20 Prozent der Gesamtbevölkerung dezimiert. Die erhöhte Technik der Nahrungs- prcduktion erlaubte nichtsdestoweniger eine bessere Ernährung trotz starker Bevölkerungszunahme. Die nicht landwirtschaftliche Bevölkerung erlebte einen enormen sozialen Aufschwung, dem der Bauernstand nicht zu folgen vermochte. Unter dieser sozialen Diskrepanz leidet der Bauernstand heute am meisten.

Es darf nicht wundernehmen, wenn der tagaus, tagein von schwerer körperlicher Arbeit in Anspruch genommene Bauer bei geringem Kontakt mit der Außenwelt traditionsbetont denkt. Trotzdem ist bis heute schon vielen der wirtschaftliche, soziale und geistige Anschluß an die moderne Industriegesellschaft oft gegen große Widerstände im eigenen Bereich gelungen.

Begreiflicherweise fühlt sich die geistige Führerschicht des Bauerntums der bereits erwähnten Verteidigungsposition der Landwirtschaft gegenüber weit mehr verpflichtet als der Bauer selbst. Das gilt für die Erziehung, Fachbildung und Politik. Die Presse trägt die konservative Auffassung vom Bauerntum laufend in die Breite.

Dadurch wird gerade der „geschulte”, der „belesene”, der-, „aufgeschlossene” Teil der praktischen Landwirte unsicher. Er vermag oft die Verbindung zwischen Gelerntem und Erlebtem nicht mehr herzustellen. Es fällt ihm schwer, seinen Berufsstand in die moderne Industriegesellschaft richtig einzuordnen.

Das landwirtschaftliche Sozialversicherungsund Kollektivvertragswesen baut auf der Grundlage des bäuerlichen „Unternehmers” auf. Diese Basis ist gerade in der Landwirtschaft und besonders für den Familienbetrieb weitgehend theoretisch. Denn sie erfordert genügende Produktionsgrundlage, genügende Produktionstechnik und volle produktive Einsatzmöglichkeit der Arbeitskraft. Alle drei Forderungen sind bei der derzeitigen Agrarstruktur unerfüllbar. Das rigorose Vorgehen auf der Grundlage Unternehmerbetrieb, besonders der Versicherungsanstalten, zwingt zu einer baldigen Lösung. Damit fällt viel von der bisherigen Auffassung über das Bäuerliche. Der volle wirtschaftliche und soziale Anschluß an die Gesamtgesellschaft ist näher gerückt.

Seit Kriegsende, insbesondere seit einigen Jahren, zeigen sich gute Ansätze zur Ueber- windung der aufgezeigten Schwierigkeiten. Die Betriebswirtschaftslehre wendet sich mehr dem Klein- und Mittelbetrieb zu. Die Agrarsoziologie wurde ausgebaut. Eine Reihe namhafter Wissenschaftler hat die neuen wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Anforderungen an das Bauerntum klar aufgezeigt. Die zwanglose Eingliederung in die moderne Industriegesellschaft scheint unter den Dezentralisierungstendenzen der gewerblichen und industriellen Wirtschaft immer leichter möglich. Die Landwirtschaftstechnik bietet neue Chancen. Die europäische Wirtschaftsintegration verspricht stabilere Marktverhältnisse.

Aufgabe für die geistige Führung des Bauernstandes wird es sein müssen, im sozialen Bereich die neuen zeitgemäßen, unseren allgemeinen sozialen Vorstellungen adäquaten Formen auch für den bäuerlichen Berufskreis zu finden. Die produktionstechnischen Möglichkeiten des gut ausgerüsteten Familienbetriebes müssen ebenfalls klar erarbeitet werden.

Vor allem aber hat das Bauerntum die Pflicht, einen entsprechenden Stock junger Leute in mittlere und höhere Schulen zu schicken, auch mit der Absicht, daß sie den geistigen Kontakt mit dem Berufsstand aufrechterhalten, von dem sie stammen. Sie müssen ein allgemeingültiges Wirtschafts-, Sozial-, Gesellschafts- und Weltbild vermitteln.

Trotz des zahlenmäßig geringen Anteils ist das Bauerntum heute keineswegs von einer geistigen Führungsposition ausgeschlossen. Ob es diese erringt - so wie die Arbeiterschaft in den vergangenen 100 Jahren —, wird davon ab- hängen, wie viele dynamische geistige Kräfte es zu stellen in der Lage ist und wie sehr es initiativ wertvolle Ideen für die Gesamtgesellschaft zu verwirklichen vermag.

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