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Im Strom der Seelen und der Zeit

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ERZÄHLUNGEN. Von Nikolai L e s s k o w. 380 Seiten, als „Buch der Neunzehn" im Biederstein-Verlag, München. Preis 7.80 DM. — HAUS AUS HAUCH. Roman von William G o y e n. 196 Seiten. Bibliothek Suhrkamp. Preis 5.80

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ERZÄHLUNGEN. Von Nikolai L e s s k o w. 380 Seiten, als „Buch der Neunzehn" im Biederstein-Verlag, München. Preis 7.80 DM. — HAUS AUS HAUCH. Roman von William G o y e n. 196 Seiten. Bibliothek Suhrkamp. Preis 5.80

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DM. — TRUNKENER SOMMER. Erzählung von Hamza H u m o. 178 Seiten. Bibliothek Suhrkamp. Preis 4.80 DM. — DIE ERFAHRUNG. Roman von Albert Palle. 368 Seiten. Rowohlt. Preis 18.80 DM. — DAS LIEBESNEST. Roman von Roger Vail- l ad. 274 Seiten. Piper. Preis 0000 DM. - VON LICHTERN GEJAGT. Roman von Paul Stanton. 285 Seiten. Rainer-Wunderlich-Verlag. Preis 8.80 DM.

Wer das Rußland von heute mit all seinen erregenden oder kuriosen Phänomenen des Lebens und der Politik besser verstehen will, sollte unverzüglich Nikolai Lesskows Werke in der vorliegenden Ausgabe lesen. Er wird daraufhin dem Zauber dieses hierzulande zuwenig bekannten großen Russen erbgen sein und wohl bald zu den im Biederstein-Verlag herausgekommenen Erzählungsbänden „Alte Zeiten“, „Leidenschaften", „Charaktere und Sonderlinge", „Geschichten vom Lande“, „Von Gauklern, Heiligen und Hetären“ sowie zu dem Roman „Die Klerisei" greifen. Lesskow, der 1895 als Vierundsechzigjähriger starb, ist erst in der Gegenwart als der russische Balzac wiedeientdeckt worden, „vollgestopft mit russischen Wirklichkeiten bis zum Bersten" und eines der größten „Magazine von Dokumenten über die menschliche Natur“, wie Kritiker richtig formulierten.

Das, was man so leichtfertig und numinos „die russische Seele“ nennt, ist ausgespannt zwischen den Seiten seiner Werke. Leidensbereitschaft, ja Leiden als Lust, daneben und gleichzeitig grausamste Willkür, Despotentum, ebenso maßlos wie Knechttum, schrankenlose Auschreitungen in Berauschung, Laster und schwärmerische Gläubigkeit, dies alles als Flucht aus der Lebenswirkiich- keit, als Narkotikum. Daneben sublime bis dekadente Kultur, daneben der gerissene, der geniale Betrüger als Kavalier, als Idol intelligenter Lebensbewältigung. Dies alles funkelt und west, breiter angelegt als bei Dostojewskij, lockerer, gelassener gesehen und deshalb weniger an ein Grundschema fixiert, vitaler und gesünder, in Lesskows Erzählungen. Dabei an vielen Stellen nicht weniger tief, nie der Faszination durch das Krankhafte, das tödliche Extrem erliegend, geduldig in polaren Spannungen schwebend, im richtigen Augenblick zum Lächeln, zur Ironie, zur Weisheit des Verzeihens bereit.

Die Führer der westlichen Welt sollten sich diesem wunderbar lauteren Dichter, der episch, erstaunlich modern und unerhört spannend erzählt, hingeben. Sie würden die Finten und Brutalitäten, die echte und di? erheuchelte Todesbereitschaft, die maßlosen Empfindlichkeiten, die ihnen aus sowjetrussischer Pojitik ent- gegenbfanden,’ richtiger eintüscfiätzen wissen. Sie würden all das Unvorhersehbare und Widersprüchliche, die blindwütige Drohung und den wirklichen

Machtanspruch, den Bluff, den kaltblütigen Mord und den Spaß als wahrhaftige Lebensvorgänge begreifen lernen. Als Urtriebskräfte, die alten Verwundungen entstammen, alter Not und Sklaverei, als Triebkräfte, die, so unverstehbar sie sich zunächst ausnehmen, zutiefst im Menschlichen verwurzelt sind, und, in ferner Zukunft, die Balance der Seele zum Ziel haben.

Eine hymnische Dichtung an das Leben schuf Goyen mit seinem „Haus aus Hauch“. Um die Geschichte eines Knaben ausgebreitet, sind bei ihm die Realitäten des Daseins alle vorhanden, doch eingeschmolzen in einen dunkel leuchtenden Strom, der das Leben selbst ist. Eingeschmolzen und verwandelt, mit magischem Kindheitsblick, mit dem Recht der Seele, für die die Wirklichkeit des Außen nur Material liefert für das Werk des Innen.

Eingebettet in eine tief empfundene Natur, brüderlich benachbart den Tieren, entwachsen die Kinder in der Begegnung mit dem Hohen und der Niedrigkeit, mit der Liebe und der Grausamkeit, mit der unerschöpflichen Fülle der Welt der fruchtbarkeitsträchtigen Landschaft am Fluß. Der heiße Atem des Südens weht und der zerstörende der fernen Großstädte, das kleinste Ding, selbst Unrat, Glasscherben, Sägemehl, ist wirksam, treibt an, steigert, hemmt, befreit die furchtbar-schönen Urkräfte der Triebe, vermählt in Widerspruch, in Zerbrochenwerden und Wiedergeburt mit dem Geistigen, mit den Verzückungen methodi- stischen Glaubenslebens. Dies alles strömt bei Goyen als reine Poesie in mythischem Ton, als Dichtung, durch die das Städtchen Charity an der Grenze von Louisiana zum Weltsymbol wird. Goyen, von dem, ebenfalls in der Bibliothek Suhrkamp, der Band „Zamour und andere Erzählungen“ vorliegt, ist für uns eine wichtige Neuentdeckung.

Einfach erzählt wie ein Märchen ist Hamza Humos „Trunkener Sommer“, eitle von einem Studenten erlebte Hirtengeschichte in bukolischer Landschaft. Wie schon vor der Jahrhundertwende, lebt hier die Kunsterzählung won der klugen und disziplinierten Verwendung naiver und dämonischer Motive aus den Jugoslawischen Volksepen. „Der Mittag liegt im Karst. Irgendwo schläft der uralte Gott." Sätze wie dieser sagen uns den Ton der

Erzählung, der klar ist, unmißverständlich, von leidenschaftlicher Vitalität, reich, bunt, heiß, wie aus dem Frühling der Völker stammend, voll unverdorben wilder Sinnlichkeit, aus einer Zeit, da Dekadenz und Gedankenblässe noch unbekannte Begriffe waren.

„Die Erfahrung“ von Palle ist die eines halbblinden alten Mannes mit seinem Leben, das ihm mißglückt ist, mit hartem Realismus in Rückblendungen erzählt. Gelungen ist ein fesselnder Stil, sind die Gescheiterten, die Erniedrigten, die Mädchen der billigen Kneipen. Gelungen ist auch, zu zeigen, daß das Leben stärker ist als die Niederlagen der Lebendigen. Probleme über Probleme, solche der Gemeinschaft, der Selbsterhaltung, der Liebe, sind zwanglos eingefügt, nicht immer fugenlos dicht, manchmal als trockene Rede statt als Lebensfunktion. Ein Rest unbesiegbarer Zuversicht, die sich am Weiblichen aufrichtet, belebt, trotz dominierender Resignation, den Schluß des Romans. Ausdruck, Motivationen und Sinn sind ausgewogen und doch nicht befriedigend. Warum wohl? Vielleicht deshalb, weil es schon viele ähnliche Bücher gibt und wohl zahlreiche noch folgen werden, mit Gestalten, die etwa seit Zola stereotyp wiederkehren, zeitgemäß variiert und dekoriert.

„Du siehst doch aus, als hättest du eine gute Figur.“ — „Ich habe eine genau so gute Figur wie du“, sagte Lucie schnell. - Leone hielt es für unwahrscheinlich, daß Lucie eine ebenso gute Figur hatte wie sie. Aber eine gute Figur hatte Lucie sicher. — „Ich beneide dich um deine Gelassenheit“, sagte Lucie, „dich bringt nichts aus der Fassung.“ — „Hast du gut geschlafen?“ — „Ich habe nicht geschlafen. Und du?“ — „Ich schlafe jmmer ausgezeichnet.

Dialoge solchen Niveaus spulen sich seitenlang ab in Roger Vallands Roman, der im Original „La fete“ heißt. Für die Leser ist er kein Fest, wirklich nicht.

Im sauberen Stil eines guten englischen Kriminalromans verfaßt ist Stan tons Roman „Von Lichtern gejagt“, den der österreichische Leser bereits durch einen Zeitungsabdruck kennenlernte, der in rund ein Dutzend Sprachen übersetzt und auch ver- filmt wird. Er erzählt im Hauptteil die Geschichte der Besatzung eines Düsenbombers am Rande der Gefahr des Ausbruchs von Weltkrieg Nr. 3, dazu eine erfreulich hübsche Liebesgeschichte. Im ganzen eine Warnung, die nachhaltiges Echo verdient, ein , Buch, das die wahre Drohung der Zeit v6n der Technik, die eia neutrales Medium -ist, fort und zurück • in Menschenhand verweist, zu empfehlen für alle Leserschichten, auch für die Jugend.

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