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Immer mit der falschen Identität

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Die Aufzeichnungen des russischen Juden David Vogel, die erstmals veröffentlicht werden, beschreiben die Vorstufen der Deportation und die Absurdidität des Lageralltags. Vogel wurde 1891 in Weißrußland geboren und hatte, als er mit 21 zu schreiben begann, bereits Jahre unsteter Wanderschaft, Gefängnis und Hunger hinter sich. „Der Dreck ist groß, und im Herzen ein trauriges Zwicken", schreibt er in sein Tagebuch. Er kommt illegal nach Wien, um dem russischen Militär zu entgehen. Er erlernt die deutsche Sprache als Autodidakt mit der Ribel und hungert sich als Hebräisch- und Russischlehrer durch. Im Büro für Palästinafragen erfährt er zum ersten Mal, was ihm später zum Verhängnis wird: Obwohl er hungert, erhält er aus Prinzip keine Unterstützung, weil er nicht nach Palästina will. „So schaffen mich die Prinzipien aus der Welt", notiert er bitter.

Als Busse wird er im Ersten Weltkrieg interniert. Die Freude über warmes Essen und Schlafstatt weicht schnell der Verzweiflung. Nach 23

Monaten wird er entlassen, es bleibt ein Riß in seinem Inneren. Er veröffentlicht hebräische Gedichte und bleibt arm. 1925 emigriert er nach Paris. Als Frankreich 1939 Hitler den Krieg erklärt, wird er wieder ein Opfer der falschen Identiät. Wieder passen seine - nun österreichischen - Papiere nicht zur politischen Lage. Er wird Chronist der bitteren Groteske, die sich in den französischen Inter-nierungslagern abspielt. Anfangs sind die Aufseher wenig interessiert, Deutsche und Österreicher zu bewachen, die darauf trinken, daß Hitler und die Kommunisten endlich stürzen. Doch bald wird die Zahl der Internierten größer und der Ton der Bewacher feindlicher.

Vogels Schilderungen gehen, manchmal verzweifelt, manchmal sarkastisch, bis ins kleinste Detail. Mithäftlinge, Alltag, Enge, Gesundheit - David Vogel hat Tuberkulose. Er beschreibt die Lagerwelt mit Fundbüro, Kabarett, einem Arbeitsminister und Gericht. Jeder erhält eine Rolle zugeteilt, die ihm das Durchhalten erleichtert. Und immer wieder die Angst, als Individuum in der Masse die Identität zu verlieren.

Als Schriftprobe muß er viermal in großen Lettern „Ich möchte Frankreich willig dienen" schreiben. Der Abstand zwischen den Zeilen muß 8 Millimeter betragen. Ein Beamter rät ihm bei der Einvernahme freundschaftlich zu Schlammpackungen gegen den Rheumatismus. Wie Schmul Leib Zwetschkenbaum bei Albert Drach, ist Vogel dauernd damit beschäftigt, eine sinnhafte Erklärung für alle Ungereimheiten zu finden.

Die Repressionen werden unerträglich. Die Nervosität der Rewacher wächst mit den deutschen Luftangriffen. Die Lebenskräfte des Häftlings schwinden. Sein autobiographischer Roman endet mit der Verladung in Viehwaggons. Vogel schrieb ihn 1941 nach der Haftentlassung und vergrub ihn 1944 im Garten seiner französischen Quartiergeberin. Er wurde denunziert und trat selbst die dramatisch beschriebene letzte Fahrt an. Er hat Auschwitz nicht überlebt.

BDAS ENDE DER TAGE Tagebücher und autobiographische Aufzeichnungen 1912 - 1922,1941/42 Von David Vogel Paul List Verlag, München 1995 512 Seiten,, geb., öS 555,-

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