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Immer wieder verloren die Juden eine Heimat
Zwei Chassidim an einer Bushaltestelle in New York. Die Stadt wurde für viele Menschen aus dem osteuropäischen Schtetl zur Endstation einer langen Reise. Hier können sie ihrer tradito-nellen Lebensweise treu bleiben und sind vor Verfolgung mindestens so sicher wie irgendwo sonst auf der Welt Nirgends, jedenfalls außerhalb Israels, hat die liebenswerte Kultur der gläubigen Juden so gute Chancen, zu überdauern.
Diese lange Reise schildert ein Bildband von ganz besonderer Schönheit: „Die Juden in Europa” von Elena Bomero Castellö und Ur-iel Marias Kapön (Heyne Verlag) mit einem Untertitel, der fast ein Programm bedeutet: „Geschichte und Vermächtnis aus zwei Jahrtausenden”.
Wer die Werke jüdischer Autoren ein bißchen kennt, der hat auch eine Ahnung von der Entschlußkraft, die notwendig war, um der geschlossenen Welt des Ostjudentums zu entfliehen. Von den Wunden, die der ihr Entfliehende sich und anderen dabei zufügte. Aber auch von den gewaltigen intellektuellen und kreativen Kräften, die bei diesem Befreiungsakt freigesetzt wurden. Denn ein Befreiungsakt war das Verlassen dieser Welt zweifellos.
Kapön und Castellö zeigen uns die andere Seite: Die Welt, die der sich emanzipierende Jude verließ. Ihre zwei Jahrtausende lang bewahrten Werte, ihre Wandlungen und Anpassungen an veränderte Bedingungen, ihre Strenge, ihre Schönheit.
Der Hinweis, um wieviel die Welt ohne die emanzipierten Juden auf allen Gebieten ärmer wäre, ist trivial und nicht neu. Unsere beiden Buchautoren aber zeigen, um wieviel sie ärmer wäre, wenn alle Juden den Weg der Emanzipation beschritten hätten, nämlich um nicht mehr und nicht weniger als eine uralte und nach wie vor eigenständige Kultur - und was sie durch die Untaten eines verbohrten Kleinbürgers aus Oberösterreich verloren hat.
Der Band ist durchgehend dermaßen opulent illustriert, optisch eine solche kulturhistorische Fundgrube, daß man ins Blättern gerät und Gefahr läuft, an den Qualitäten des Textes einfach vorbeizuschauen.
Ganz wichtig: Das Kapitel „Al-Andalus”. Unter dem Kalifen Abd-ar-Rhaman III. (912 - 971) gelangte das Judentum zu seiner höchsten, bis ins 12. Jahrhundert währenden Blütezeit und Bedeutung in Europa. Den Todesstoß erhielt diese Kultur aber nicht von den siegreichen Christen. Bereits 1085 waren die Heere der von den Mauren gegen die Christen zu Hilfe gerufenen berberischen Almoraviden auf der iberischen Halbinsel gelandet und hatten zahlreiche Juden gezwungen, in den christlichen Norden zu fliehen, die aber zurückgekehrt waren, sobald sich die Lage beruhigt hatte. Ab 1150 eilten den Almoraviden aber die Almohaden zu Hilfe, ein in Glaubensfragen noch intoleranteres Herrschergeschlecht ebenfalls von berberischer Abkunft; sie forderten von ausnahmslos allen Untertanen den Übertritt zum Islam.
Damit verloren die Juden wieder einmal eine Heimat, die übrige Welt aber gewann, was stets ihre Entwicklung gefördert hat und was sie trotzdem kaum je zu schätzen wußte: Heimatlose Kulturbringer, Ärzte, Philosophen, Kaufleute, mit Know-how auf vielen Gebieten. Ein Teil der andalusischen Juden floh in arabische Länder (der Philosoph Maimönides ließ sich schließlich in Ägypten nieder), ein anderer Teil in die Provence, die meisten aber in die christlichen Königreiche von Kastilien und Aragonien, wo sie herzlich aufgenommen und solange dringend benötigt wurden, bis die iberische Halbinsel „moslemfrei” war.
Das Judentum wurde letzten Endes Opfer im Wesen fundamentalistischer religiöser Machtansprüche. Jahrhundertelang konnte es nur in Nischen der vom Bedarf diktierten Pseudotoleranz überdauern.
Oder aber dort, wo „die Gesellschaft, in deren Mitte Juden lebten, jenes Maß von Weltoffenheit und wahrer Humanität errungen hatte, das Voraussetzung dafür ist, das Andere oder den Anderen als Bereicherang an- und aufzunehmen.
Das war, nach der andalusischen Blütezeit, ab dem 17. Jahrhundert in Amsterdam wieder einmal der Fall. Wie das andalusische, so beweist auch das „holländische Jerusalem”: Wo alles in Toleranz gedeiht, dort blüht auch das Judentum. Wo es aber mit Gesellschaften bergab geht, da geht es auch mit der Toleranz bergab, und wo es mit der Toleranz bergab geht, da geht es mit der ganzen Gesellschaft bergab.
Genau darin liegt die Lehre dieses Buches für unser Jetzt und Hier. Selbstverständlich verlieren Castellö und Kapön kein Wort übers heutige Österreich. Doch die Lehren der jüdischen Geschichte gelten in jedem Jetzt und Hier, und in unserem Hier möglicherweise ganz besonders jetzt.
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