6561692-1948_51_14.jpg
Digital In Arbeit

In dem alten Wayside Inn

Werbung
Werbung
Werbung

(Schluß)

Längere Zeit sah und hörte ich nun nichts mehr von Saly Allison, die keinen Anlaß mehr hatte, um Hilfe zu rufen und deren bei den abendlichen Sitzungen niemand Erwähnung tat. Offenbar schämte man sich, besiegt worden zu sein.

Dann aber, in einer unwirtlichen Nacht, Wurde ich ersucht, den Doktor anzurufen, da die Kranke einen Ohnmachtsanfall erlitten hatte und endlich doch weggebracht werden sollte.

Florrie hatte sie anläßlich der letzten abendlichen Inspektion in diesem Zustand aufgefunden und eilends die Wirtin geholt.

Der Doktor ließ Frau Pattison melden, er wende sobald als möglich um die Patientin schicken, und ich ging diese Botschaft ausrichten.

In dem kleinen Häuschen, dessen Besitzerin jetzt nicht mehr weißem Marmor, sondern verwittertem Stein glich, saß am Bett die Wirtin, die zu mir sprach, leise, wie man in einem Sterbezimmer redet: „Der Ohnmachtsanfall ist ein Glück! Auf diese Weise wird sie ohne viel Federlesens dorthin gelangen, wohin sie gehört.”

Im Dunkel des Hintergrunds unterschied ich Florries ängstliche Augen, den hängenden Schnauzbart Davids und Dick Nicholls breite Schultern. Davids Mutter hatte eine Vorahnung gehabt, der zufolge er gekommen war. Der andere hatte zufällig das eilends nach Salys Haus hingleitende Lichtfünkchen einer Taschenlampe erspäht und war dem Schein gefolgt.

Gegen Mitternacht kam der Rettungswagen, und unter uns erschien eine jener kerzengeraden, gertenschlanken Engländerinnen, vor deren kristallklarem Blick alles Trübe licht und alles Verworrene einfach wird. Sie sagte: „Ich bin dem Spital als Medizinerin zugeteilt. Hier die Fahrerin”, mit einer Bewegung nach einem zweiten jungen Mädchen, das ihr schüchtern folgte, „wird mir helfen, die Kranke gut fortzubringen.”

Sie beugte sich über das Bett und betrachtete die arme Saly, die plötzlich ihre Augen aufschlug. „Das ist schön”, lädielte die Studentin, „Sie’ werden sich bei uns gewiß bald ganz erholen.” Die Kranke aber hub alsbald zu zetern an, ohrenzerreißend wie noch nie nach der vorausgegangenen Stille: „Fort mit euch! Andrew, Andrew, solange du gelebt hast, hätte niemand sich so etwas unterstanden. Hinaus, ihr habt kein Recht, meinen Willen zu vergewaltigen! Ich bleibe hier.”

Die Medizinerin schüttelte kummervoll den Kopf: „Unter diesen Umständen getraue ich mich natürlich nicht, schon mit Rücksicht auf das kranke Herz der Patientin …” und nach einem Augenblick: „Hoffentlich wird sie auch ohne uns gesund. Leben sie alle wohl!” und schon unter der Türe: „Thank you!”, was Engländer immer sagen aus Erkenntlichkeit für größere, kleinere und kleinste Gefälligkeiten, aus allgemeiner Verbindlichkeit, oder um Verlegenheitspausen auszufüllen, was im vorliegenden Fall in Anbetracht einer überflüssigerweise gestörten Nacht aber wahrhaft rührend war.

Die Gesellschaft in Salys Küche blieb zurück — schwer enttäuscht.

Unversehens tauchte noch einmal im Türrahmen das schöne Gesicht der Studentin auf, rötlich vom Kaminfeuer beschienen. „Sind Sie alle Angehörige der Kranken?” fragte sie.

Die Wirtin antwortete so würdevoll, als hätte sie ihr schwarzseidenes Kleid getragen wie an hohen Festtagen: „Verwandt ist eigentlich niemand mit ihr, nur von alters her befreundet.”

„Was Krankheit aus einem Menschen machen kann!” sann das Mädchen laut, „sie muß wohl früher ganz anders gewesen sein, um sich so viel Liebe zu erwerben.”

„Jawohl”, sagte die Wirtin mit einer gewissen Verhaltenheit und jemand seufzte dazu.

„Ich wollte Ihnen nur noch nahelegen, daß die Kranke nie mehr allein gelassen werden darf”, flüsterte die Studentin noch, und fügte abgehend bewegt hinzu: „Obzwar bei Freunden, wie Sie es sind, solche Mahnungen sich erübrigen.”

„Thank you”, sagte nun ihrerseits die Wirtin und schloß mit einer geradezu höfischen Verbeugung die Türe.

Sie verschwendete keine Zeit auf Besprechungen der jüngsten Vorgänge und unnütze Betrachtungen. Sie schickte sich ins Unvermeidliche und traf sogleich eine praktische Diensteinteilung mit allen verfügbaren Hilfskräften: sie selbst, ihre Töchter, die Frauen, Töchter und Enkelinnen Richardsons und Nicholls’ bekamen ihre Ämter zugewiesen.

„Immer schön zwei und zwei”, bemerkte Dick, „vielleicht frißt sie euch dann nicht auf!” Der Ärger machte ihn sarkastisch.

Allein Saly, der Mittelpunkt alles Planens, war inzwischen eingeschlafen. Ich sagte mir: Fortab mag sie friedlich ruhen. Die Gutmütigkeit, die hier in der Luft liegt, hat allmählich aus ihren Nachbarn getreue Erben des. braven Andrew gemacht.

Sie lebte noch viele Monate, und starb zuletzt während eines zweiten Ohnmachtsanfalls so rasch, daß von einem Transport keine Rede mehr war. Nicht um den Krankenwagen handelte es sich in dieser Nacht, sondern um die Ankunft des Arztes.

Der Doktor stellte ein paar Fragen, betrachtete das Bett, aus dessen Tiefen nun kein Geschrei der Angst und Abwehr mehr hervorbrach, und ging wieder.

Dann verharrten alle in regungsloser Andacht, während die Wirtin vorsichtig ein Leintuch ausbreitete, unter dessen weißer Glätte das Bett und Saly verschwanden wie unter einer Decke von frischgefallenem Schnee.

Wir legten die Strecke zum Wirtshaus im Dunkeln zurück.

Eine Unmenge von Sternen flimmerte über Dachtraufen zu regen begann und die stählerne Dachkonstruktion mit ihren Fachwerkbindern, Verbänden und Sparren gleichsam gegen den Himmel wuchs, wurde der Baufortschritt augenscheinlich. Die Wiener merkten, der Stephansdom wird wieder!

Das verwirrende Bild des Dachstuhles, wie es sich heute zeigt, hat sich in ähnlicher Form unseren Vorfahren vor beinahe genau 500 Jahren geboten. Nur waren damals die Linien nicht so fein und das Netz nicht so weitmaschig. Man kannte auch damals noch nicht den Baustoff Stahl, man war beschränkt auf den Stein und auf das Holz. Den Stein für die Mauern und Pfeiler, das Holz für den Dachstuhl. So wie heute, wurde damals beim Langhaus, also dem über dem Heidentor liegenden Teil des Daches begonnen. Die Holzkonstruktion baute sich in fünf Geschossen als ein dichter Wald von Balken, Trämcn, Sparren und Zangen übereinander, Tausende von riesigen Lärchenstämmen bis zu 40 Meter Länge, verschlang der Bau. Sie umschlossen einen Raum, in dem ohne weiteres eine stattliche Dorfkirche samt Turm Platz gefunden hätte. Mit diesem Dachstuhl fiel eine Großtat mittelalterlicher Handwerkskunst den Flammen zum Opfer.

Die Wahl des Baustoffes war auch die erste Frage, die es zu beantworten galt, als die planenden Stellen zum Wiederaufbau zusammentraten. Obwohl man bemüht war, dem Bauwerk möglichst die alten Formen wiederzugeben, mußte der Gedanke, wieder nach einer Holzkonstruktion zu greifen, schnell aufgegeben werden. Gewichtige Gründe verhalfen dem Stahl zum Vorrang. Schon die Beschaffung der Holzmengen in so gewaltigem Umfange sowie deren Transport zur Baustelle war in den Jahren unmittelbar nach Kriegsende unmöglich. Darüber hinaus war die Belastung der Pfeiler, die erhalten geblieben waren, sorgfältig zu erwägen. Es ergab sich die im ersten Augenblick verblüffende Tatsache, daß das Eigengewicht der Stahlkonstruktion ein geringeres ist als das des alten Holzdachstuhles. Weitaus am schwerwiegendsten aber fiel die Forderung ins Gewicht, den Dom für alle Zeiten vor einer Wiederholung der Katastrophe zu schützen, der er zum Opfer gefallen war. Die neue Konstruktion mußte also feuersicher sein. An ein Gerippe aus Stahlbeton, das gleichfalls feuersicher ist, war nicht zu denken, da es wegen seines hohen Eigengew’chtes die alten Mauern und Pfeiler überansprucht hätte.

Schon zwei Monate nach der Zerstörung wurde die Firma Waagner-Biro beauftragt, ein Projekt für die Stahlkonstruktion des Daches auszuarbeiten, das dann auch zur Ausführung kam. Es war eine Dachbodenfläcbe von ‘rund 3200 Quadratmeter zu überbauen, wobei der First des Langhauses zum Beispiel 36 Meter über dieser Dachbodenfläche liegt. Zur besseren Vorstellung dieser Ausmaße mag ein Vergleich verhelfen: auf der Dachbodenfläche fänden sechs uns und mit der Zeit konnte man rabenschwarz im tiefen Grau die Umrisse von Mauern und Astwerk erkennen.

Ich glaube, wir alle hatten die Empfindung, als wäre Salys Seele uns immer noch nah, gleichsam verwoben mit den Schatten ringsum — Mauern, Bäumen, Feldern, diesen Dingen, von welchen sie sich im Leben nie hatte trennen wollen.

Lizzy hate uns zu Ehren ein großes Feuer angefacht und Tee gekocht.

Nach und nach begannen nervenberuhigende Gespräche über die entfernte Verwandtschaft Salys, mit welcher die Verstorbene sich längst entzweit hatte, die aber nun doch ein schönes Stück Geld von ihr erben würde.

Jesse suchte sich und die anderen mit einem Witz aufzuheitern: „Man könnte bei der Verlassenschaft die Spesen anmelden, die wir gehabt haben: Mittagessen, Abendessen, Pflegen usw. Es käme eine ganz nette Summe zusammen und die Erben würden sich freuen.”

„Bevor ich mir meine Christenpflicht bezahlen ließe …”, fuhr der feurige Patrick auf. Sein weniger schwungvoller Schwiegervater jedoch bemerkte nüchtern: „Sie könnten uns darauf sagen: Warum habt ihr’s getan? Sie hätte ebensogut ins Spital gehen können.”

„Und recht hätten sie damit”, sagte die Wirtin. „Übrigens ist Patrick nicht der einzige, der gern etwas um Gottes Lohn tut. Wenn Andrew uns jetzt sehen kann, wird er sich freuen, und auch ich freue mich heute, daß Saly bis zuletzt ihren Willen gehabt hat.”

Viele alte Gaststätten stehen auf dem Moor, einstöckige graue Steinhäuser mit Spitzbogenfenstern, im Äußeren unverändert seit Urvaterzeiten, die im Inneren aber längst Bars und Damenzimmer beherbergen, wie irgendein Hotel oder ein Salondampfer.

Ich werde mich immer freuen, gerade in das Fleim der Frau Polly Pattison verschlagen worden zu sein, wo die altenglische Tradition sich noch so lebendig erhalten hat.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung