In den Schichten der Zeit blätternd

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Vor einem Jahr starb der französische Literaturnobelpreisträger Claude Simon. Seine Romane sind viel zu wenig bekannt und immer noch lesenswert.

Obwohl Claude Simon 1985 den Nobelpreis für Literatur erhielt, ist er hierzulande kaum im Gespräch, womöglich sogar kaum bekannt. Selbst unter Lesern. Das ist völlig unverdient, aber irgendwie auch erklärbar. Denn bis vor wenigen Jahren gab es einige seiner Werke noch gar nicht auf deutsch zu lesen. Der DuMont Literatur und Kunst Verlag lässt aber einen Roman nach dem anderen (neu) übersetzen und anlässlich des ersten Todestages des Autors erscheinen nun einige Romane in einer schönen Kassettenausgabe.

Widerborstig

Widerborstig sei dieser Autor, dessen dem "Nouveau Roman" zugeordneten Werke thematisch um Familiengeschichte und Kriegsepisoden kreisen. Dieses Urteil konnte man - durchaus als Lob gemeint - in einer Rezension über Simons Roman "Die Straße in Flandern" lesen. Die verschachtelte, vielschichtige, Chronologie und Perspektiven brechende Erzählweise verlangt dem Leser einiges ab. Postkarten dienen etwa als Ordnungsprinzip in "Geschichte" und ein Buch wie "Jardin des Plantes" wird so manchen Leser vielleicht schon aufgrund des Schriftbildes (Schriftsatz in Form von Rechtecken, Parallelsetzungen) verwirren oder gar abschrecken, so manch anderen, der Lust auf Wanderungen durch interessante Textgärten hat, aber vielleicht gerade anlocken.

Wie dem auch sei, Liebhaber der Sprache versäumen etwas, wenn sie nie Sätze, Satzgebilde von Simon gelesen haben. Und es gibt auch Bücher, die sich als Einstieg eignen. "Das Gras" etwa (L'Herbe, 1958 erschienen), ein wunderbar berührendes Buch, das eine Familiengeschichte entblättert und einen unsentimentalen Blick auf den Vorgang des Sterbens wirft, auf die Vergänglichkeit des Körpers ebenso wie der Liebe.

Von der ersten Seite an, einem Gespräch - "Aber sie hat doch nichts, niemanden, und niemand wird um sie weinen (und was ist der Tod ohne Tränen?)" - laden lange Sätze zu faszinierenden Entdeckungsreisen in Wort und Welt ein. "Also nichts" sagte sie (noch immer, über die Bäume, die Wiesen, die friedliche Septemberlandschaft hinweg, jenes Etwas betrachtend, das er nicht sehen konnte)." Ein Text, der ebenso berührend wie schön wie rätselhaft ist.

"Also: die alte Frau - der alte, zerbrechliche Haufen aus Knochen, Haut, erschöpften Organen, der sich nach Ruhe, nach dem ursprünglichen Nichts sehnt und - kaum das Laken wölbend - im Innern, in der Mitte des Hauses liegt und, unsichtbar und allgegenwärtig, nicht nur über alle Zimmer gebietet (den Mahlzeiten vorsitzend - ohne daß es eines Tischgebets bedürfte -, dem gemeinsamen Brechen des Brots im vertrauten Klappern der an die Teller stoßenden Bestecke, dem absurden Geplapper der anderen alten Frau), sondern noch über sie hinaus ihre Anwesenheit, ihr Reich ausdehnt, jenseits der Mauern, ja sogar jenseits des Röchelns, als brauchte es gar nicht vom Ohr wahrgenommen zu werden, um bis zum Fuß des Hügels und sogar noch weiter entfernt gehört zu werden, jetzt, in der stillen Nacht, im nächtlichen Frieden des Gartens, des Laubs und der schlafenden Vögel, der Insekten im schwarzen Gras, unter dem schwarzen Himmel, der kaum heller ist dort drüben, wo vorhin die Dämmerung entwichen ist wie durch eine Wunde, durch die das Licht sich langsam zurückzieht."

Gewisse Episoden und Themen begegnen immer wieder in Claude Simons Romanen, etwa die Auseinandersetzung mit Krankheit und dem Verfall des Körpers, so auch in der "Trambahn".

Diese literarische Erinnerungsfahrt des zur Zeit der Veröffentlichung bereits 88-jährigen Autors führt nicht nur in die eigene Kindheit, sondern auch zu Marcel Prousts Prosa zurück. Simon scheut in seiner literarischen Auseinandersetzung mit dem Tod diesen nicht, sondern - so scheint es - blickt ihm entgegen, wie lange schon erwartet, ohne dass aber seine Texte deshalb morbid wirkten. Vier Jahre nach der Veröffentlichung von "Trambahn" starb der Autor.

Entdeckung Sprache

"Wir werden beim Lesen, wenn man so sagen darf", schrieb Rolf Vollmann letztes Jahr in seinem Nachruf auf Claude Simon in der Zeit, "zusehends unvorbereiteter auf alles, was wir zu kennen glaubten." Bei Claude Simon - und die Übersetzungen von Eva Moldenhauer machen das auch in der deutschen Sprache nachvollziehbar - kann man erfahren, was Literatur ausmacht: die Sprache. Nachzulesen ist, wie Welt durch Sprache erwandert, aber vor allem erbaut wird, Wort für Wort, Satz für Satz, in poetischen Bildern, Naturbeschreibungen, Erinnerungsfetzen. Claude Simon blättert in den Schichten der Zeit.

Vielleicht gilt - gerade gegen den ersten Anschein - für die Lektüre von Claude Simons Romanen, was Friederike Mayröcker über das Lesen in ihrem zuletzt erschienenen Buch "Und ich schüttelte einen Liebling" schrieb: "Was den Leser betrifft, ist ihm nicht zuzumuten dasz er MITARBEITET beim Lesen, nicht wahr, das ist Unsinn, sage ich zu EJ, das einzige was er tun sollte, ist, sich einen angenehmen Platz zum Lesen zu finden und sich der Lektüre hinzugeben also die Lektüre über sich ergehen zu lassen, sich überschwemmen zu lassen von ihren Reizen Bezauberungen und Verführungen : er braucht sich also nicht anzustrengen - das ist wohl eine falsche Vorstellung, nicht wahr."

Sechs grosse Romane

Jardin des Plantes, Geschichte, Der Wind, Die Trambahn, Die Straße in Flandern, Das Gras.

Von Claude Simon

Deutsch von Eva Moldenhauer

DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2006

1675 Seiten, geb., e 100,80

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