6535645-1946_14_06.jpg
Digital In Arbeit

In den Schrecken der Völkerwanderung

19451960198020002020

Ans der abgrundtiefen religiösen Bedrängnis, in der sich ungezählte Menschen in der Flut der Völkerwanderung nach dem östlichen Deutschland befinden, kommt uns nachstehender Bericht — ein Hilferuf an die ganze katholische Welt — zu. Wir halten es für eine sittliche, einer ernsten Publizität auferlegten Verpflichtung, ihn wiederzugeben.

19451960198020002020

Ans der abgrundtiefen religiösen Bedrängnis, in der sich ungezählte Menschen in der Flut der Völkerwanderung nach dem östlichen Deutschland befinden, kommt uns nachstehender Bericht — ein Hilferuf an die ganze katholische Welt — zu. Wir halten es für eine sittliche, einer ernsten Publizität auferlegten Verpflichtung, ihn wiederzugeben.

Werbung
Werbung
Werbung

Die gesamte östliche Zone in Deutschland ist Diaspora. Zirka 5V* Mi Mi o n e n Flüchtlinge aus den deutschen Ostprovinzen sollen in dieser Besatzungszone eine neue Heimat finden. 3V Millionen Menschen warten noch an der Oder-Neisse-Linie und wollen nach Deutschland. Davon sind IV* Millionen für die britische Zone vorgesehen, 2 Millionen wissen noch nicht, wo sie ihre Heimat finden werden.

Die Not der Flüchtlinge ist mit Worten schwer zu schildern. Man muß diese Elendszüge gesehen haben. Ausgeplündert an Leib und Seele kommen Frauen mit ihren Kindern, alte Menschen, Kranke und Sieche — nur ein geringer Prozentsatz sind Männer — über die Oder-Neisse-Grenze. Abgehärmt, die Gesichtszüge verzerrt von Kummer, Hunger, Überanstrengung, mit fast erloschenen Augen, apathisch dem äußeren Geschehen gegenüber, unter Aufbietung der letzten körperlichen und seelischen Reserven erreichten Millionen die Grenze. An den Einfallsstraßen: Scheune, Löck-nitz, Pasewa! k, Küstrin, Frankfurt a. d. Oder, Forst, Kottbus müssen aus den Zügen als erster Liebesdienst an diesen Menschen ihre Toten ausgeladen, die Kranken und Sterbenden gesammelt und notdürftig untergebracht werden. Die Auffanglager an den genannten Grenzorten, die von den deutschen Landes- und Provinzialverwal-t u n g e n geschaffen wurden, sind höchst unzureichend. Die Baracken, Gasthäuser, Scheunen und Schulen sind fast alle ohne Fenster, ohne Türen. Es fehlt auch an geeignetem Lager- und Pflegepersonal. Der Dienst der Lagerleitung und der Pflegekräfte inmitten dieses Elendes ist für Menschen, die weder an Gott glauben, noch innere Achtung vor jedem, der Menschenantlitz trägt, haben, kaum tragbar. Darum wechselt die Lagerleitung dauernd, darum werden die Nahrungszuteilungen nicht in ihrem vollen Umfange an die Flüchtlinge ausgegeben. Darum müssen Tausende von Kindern hungern und alte Menschen sterben.

Der stärkste Notschrei lautet: „Schickt uns Prieste r“. Wir brauchen zirka hundert, um die allergrößte Not ein wenig lindern zu können. Wir brauchen Priester, damit wir unseren Brüdern und Schwestern wenigstens zu einem menschenwürdigen Sterben und Begräbnis verhelfen können. Tausende von deutschen Soldaten, die aus der russischen Gefangenschaft bis zur Oderlinie gekommen sind, sind bei dem Ubertritt auf deutschen Boden gestorben. Sie sind in den Lauf- und Schützengräben längs den Bahnbefestigungen bei Küstrin und Frankfurt a. d. Oder verscharrt. Niemand hat ihren Namen verzeichnet. Zehntausenden von Flüchtlingen dienten' ausgehobene MG-Nester, Laufgräben als Massengräber. Kein Priester war da oder fand die Zeit, diese letzte Ruhestätte dieser Menschen zu segnen, die Namen der Toten testzustellen. Monatelang ist ein großer Teil unserer Flüchtlinge, besonders in Mecklenburg und Pommern ohne Gottesdienst, monarelang müssen Mens hen ohne religiöse Stärkung leben. Die ordentliche Diasporaseelscrge kann die seelsorgliche Betreuung der Flüchtlinge gar nicht leisten. Die anwesenden Priester sind zum Teil körperlich schon so erschöpft, daß sie nur noch unter den größten Anstrengungen zelebrieren können. Sie haben ja hionate-lang ihre schmale Kost mit den Flüchtlingen geteilt. Keine Presse sagte von diesen Priestern und Ordensleutcn, wieviel Kalorien sie täglich zu sich genommen haben und doch legen sie täglich weite Wege bei jedem Wetter zu Fuß zurück, um Christenmenschen in ihrer Not seelisch beizustehen. Es fehlt unserer Diasporaseclsorge an Geld, an Lebensmitteln, an Kleidung, an Decken, an Medikamenten für ihre Schutzbefohlenen. Die geringe Zahl der ansässigen katholischen Menschen ist zu klein, um ihren Brüdern und Schwestern wirkliche Hilfe leisten zu können. Hinzukommt, daß der Krieg diese Gegend verheert hat, nicht einmal das Saatgut für das Jahr ist da. Der Viehbestand beträgt in einzelnen

Gegenden oft nur zwei bis fünf Prozent des Normalbestandes. Die evangelische Kirche hat durch ihr Hilfswerk bereits materielle und ideelle Hilfsquellen des In-und Auslandes erschlossen. Leider muß gesagt werden, daß dies auf katholischer Seite noch nicht — das heißt bis zum 7. März 1946 — geschehen ist. Es fehlt unseren Diasporaseelsorgern und den Flüchtlingspfarrern, die bei ihrer Herde geblieben sind, an Kleidung und Schuhwerk. Sie haben nicht einmal ein Brevier. Sie stehen vollkommen allein und verlassen auf ihren schweren Posten. Außerdem muß auch gesagt werden, daß einzelne ansässige Diasporaseelsorger noch nicht die großen strukturellen Umwälzungen innerhalb ihrer Pfarrgemeinde sehen und hilflos den neuen Anforderungen gegenüberstehen.

Tausende von katholischen Kindern sind seit einem Jahr ohne Religionsunterricht, müssen unter den erdrückendsten Lebensverhältnissen dahinvegetieren, unterernährt, verkümmert an Leib und Seele. Die ungeheure Not unserer Frauen und Mädchen zu schildern, würde den Raum dieser kurzen Abhandlung sprengen. Ihre körperliche und seelische Gesundheit ist vollkommen erschüttert.

Unser zweiter Notruf an die katholische Welt ist: Schickt uns Ordensschwestern, vor allem Krankenschwestern. Allein in Mecklenburg, Vorpommern, können wir dringend zirka 300 Ordensschwestern braudien. Die Karitas weiß um die Bedenken und um den mangelnden Schwesternnachwuchs durch die Terrorherrschaft des Nationalsozialismus und doch bittet sie um Schwestern, die um der Liebe Christi willen kommen und den Kranken in der Furchtbarkeit ihrer Seuchenerkrankungen beistehen. Landesverwaltungen, selbst führende Männer der KPD wenden sich an die Katholische Kirche und bitten um Ordensschwestern. Sie sind bereit, selbst die größten und besteingerichteten Krankenhäuser in die Hände der katholischen Ordensschwestern zu geben. Bisher hat die Karitas an die Türen und Herzen der weiblichen Ordensgemeinschaften vergeblich gepocht. Ein großer Teil der vertriebenen Sfehwestern aus dem Osten ist nach der britischen und amerikanischen Zone gezogen. Mensdilich sehr wohl verständlich,

aber vor Gott nicht zu verantworten. Eine Ausnahme machen die Elisabethin e-rinnen, die Hedwigsschwestern, die Grauen Schwestern aus Breslau; aber die Zahl der heldenmütig schon arbeitenden Schwestern reicht bei weitem nicht aus. Außer Schwestern fehlt es uns an katholischen Ärzten, Fürsorgerinnen, Lehrerinnen, fehlt es an der katholischen Intelligenz. Alles zieht nach dem Westen.

Wir brauchen die erbarmende Hilfe der katholischen Welt!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung