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In der Bannmeile von Paris

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Die Parole „Siegen oder sterben” findet keinen Widerhall im tschechischen Volk. Dazu denkt dieses Volk zu nüchtern. Diese Nüchternheit ist ein Grund mit, warum der Josephinismus in Böhmen solche Wurzeln schlagen konnte und anderseits auch eine derartig starke Anfälligkeit für angelsächsische Ideen besteht.

Dazu kommt noch ein weiterer Umstand, der das tschechische Volk immer wieder mit äußerster Skepsis spontanen Gegebenheiten gegenüberstehen läßt: das Vorhandensein eines Katastrophenkomplexes im tschechischen Denken. Dieser Komplex ist allerdings nicht nur dem tschechischen Volke eigen (bei diesem ist er sogar durch Humor gemildert), er war in noch viel stärkerem Maße bei den Sudetendeutschen vorhanden, von den Juden Böhmens ganz zu schweigen. Er ist somit eine allgemeine böhmische Erscheinung.

Dieser Katastrophenkomplex ist das Ergebnis eines Jahrtausends Geschichte mit unendlich vielen Katastrophen, nicht eingehaltenen Versprechen, zahllosen Unglücksfällen. Vielleicht spielen bei diesem Komplex noch Belastungen aus einer bisher unbekannten Vorgeschichte mit. Dieser Komplex wirkt bis weit ins tägliche Leben. Viele Tschechen (das gleiche gilt für die ehemaligen Sudetendeutschen) werden kaum einen Zug besteigen können, ohne nicht gleich an eine Zugentgleisung zu denken oder beim Besteigen eines Flugzeuges schon dessen Absturz vorauszusehen oder bei jedem harmlosen Schnupfen schon Gedanken an den Tod zu haben. Es ist klar, daß ein solcher Komplex nicht nur hemmend im täglichen Leben des einzelnen sich auswirken muß, sondern auch im politischen Leben der Nation.

Jeder Kampf, der vielleicht ausbrechen könnte, läßt im tschechischen Menschen schon grauenhafte Visionen und Aengste über die kommenden Folgen desselben auferstehen. An die Möglichkeit eines positiven Ausganges des Kampfes zu denken, kommt er kaum noch dazu. Sein nüchternes Denken, das immer nur auf eine Politik des Möglichen hinzielt, erhält durch diesen Katastrophenkomplex eine weitere.

Wir alle stehen heute unter dem Eindruck, daß die Kolonialstaaten durch das Unabhängigkeitsstreben der Eingeborenen schwersten Erschütterungen ausgesetzt sind: vor allem Frankreich, das in Indochina, Marokko und Algier schwerste Verluste erlitten hat und dessen Bevölkerung zum großen Teil nur widerwillig in den Kolonien kämpft. Paix en Algerie! lesen wir in großen Lettern als Forderung auf Wänden und Säulen. Daneben berichtet uns die Presse nahezu täglich von den inneren Schwierigkeiten der französischen Regierung: Teuerung, Gefährdung des Franc, Lohnstfeiks, und in unserer Erinnerung lebt das unzählige Male wiederholte Wort von der „sterbenden Nation”.

Aber hinter dieser grauen Fassade des täglichen Existenzkampfes eines großen Volkes hat sich, von vielen unbemerkt, ein innerer Neuaufbau vollzogen. Wer nach Paris kommt, staunt über die vielen Kinderwagen in den Parks und auf den Boulevards, und dieser Eindruck verstärkt sich gegen die Peripherie zu und in der Bannmeile von Paris. Denn der nahezu plötzliche Umschwung von Kinderlosigkeit zu dem jetzigen Kinderreichtum hat zu katastrophalem Mangel an Wohnraum geführt und damit zu schwerstem Wohnungswucher. Die kinderreichen Familien leben vielfach auf Dachböden und in Baracken. Der Erfrierungstod eines Kindes hat Abbe Pierre veranlaßt, seine Emmausjünger zur Bekämpfung der Wohnungsnot auf den Plan zu rufen. Dadurch wurden auch die obersten Stellen veranlaßt, der Wohnungsnot durch Unterstützung von Neubauten abzuhelfen. Staatskredite werden gegen zwanzigjährige Abzahlung und eine verhältnismäßig hohe Anzahlung bewilligt. Das Bauen ist im Verhältnis zu uns sehr teuer. Eine Dreizimmer- oder Zweizimmer-Zweikabinett-Woh- nung kostet ungefähr 60Q.000 Francs Anzahlung. Das Vierfache ist in zwanzig Jahren abzuzahlen. Die jungen Familien müssen hohe Zinsen für das zur Anzahlung notwendige Kapital zahlen. Da die Gehälter im Verhältnis zur Teuerung nicht höher sind als unsere, bleibt ihnen wenig zum Leben. Freie Mietwohnungen stellen sich aber womöglich noch höher.

In der Bannmeile von Paris wird gebaut: Gläserne Luxushäuser, deren Sechszimmerwohnungen sogleich zu haben sind, aber auch Eigentumswohnungen für die jungen Familien des Mittelstandes, wenn eine Bauvereinigung sich rechtzeitig Grund und Boden gesichert hat.

Ich habe diese Bannmeile kürzlich besucht. Vom Gare de l’Est ging es mit Taxi endlos weit am Bois de Boulogne vorbei, über St. Cloud hinaus auf den höchsten Punkt der Umgebung von Paris. Weithin sichtbar blickt dort ein Plateau auf Paris herab. Ein riesiger Friedhof, auf dem enggedrängt Kreuz an Kreuz steht, erinnert daran, daß hier französische Widerstandskämpfer des Maquis und auch viele, bloß des Widerstandes Verdächtige im zweiten Weltkrieg erschossen und beerdigt worden sind. Die Tradition reicht aber weiter bis ins Mittelalter zurück. Auf dieses Plateau wurden Verbrecher geführt, um hingerichtet zu werden.

Aber einige Stufen tiefer breiten sich Wiesen aus und spielen Kinder und eröffnet sich ein gewaltiger Weitblick über ganz Paris. Von da führt ein breiter Boulevard zu einem neuen Viertel der Bannmeile. Nicht weit davon entfernt liegt ein großer Häuserkomplex einer Siedlungsgenossenschaft, die vor allem für junge kinderreiche Familien um einen riesigen Park herum Wohnbauten errichtet hat. Es sind viele Akademikerfamilien darunter. Manche Paare kennen einander aus dem Foyer catholique der Cite Universitaire. Alle kommen aus Notwohnungen. Die Größe der Wohnungen ist hier auf Familienzuwachs berechnet. Drei- bis Vierzimmerwohnungen bilden den Durchschnitt. Zentralheizung, Gas, Elektrospeicher waren vorgesehen. Waschmaschinen und Kühlschränkemüssen die Parteien selbst besorgen. Die Fertigstellung war solange verzögert, daß viele Parteien in ihrer Wohnungsnot ohne Wasser, Elektrizität, Gas und Zentralheizung einzogen und alles erkämpfen mußten. Heute sind die Installationen fertiggestellt. Nur der große Park ist noch voll Geröll. Da inzwischen das Geld verausgabt wurde, müssen die jungen Väter an Samstagen und Sonntagen die Applanierungs- arbeiten selbst übernehmen. Ihre erste Tat war die Anlegung großer Sandhaufen in der Nähe riesiger alter Bäume für die Jüngsten, die noch nicht in die Schule gehen. Hier entfaltet sich das Leben des künftigen Frankreich.

Es geht sehr staatsbürgerlich gesittet auf diesen Sandhaufen zu. Meist ohne wesentliche Konflikte. Auf dem nächstliegenden hat eine gold- lockige, blauäugige,- rosigfe und rundliche dritt- hälbjährige Marie Therese ihr Reich, erstes Kind einer österreichischen Mutter und eines bretonischen Vaters. Wenn sie mit ihren Sandgeräten den Gipfel des Hügels erklimmt und eifrig zu spielen beginnt, erscheinen wie auf Signal die anderen Kinder und reihen sich um den Sandhaufen. Alle Temperamente sind vertreten. Zwei zierliche kleine Französinnen mit Schutenhütchen und Schleifen unter dem Kinn bleiben unentwegt dort sitzen, wo die Mutter sie hinführte, obwohl der kleine Gilles ihnen ihre Sandgeräte bis aufs letzte enteignet. Wenn dann ein Mädchen mit herrlichem Puppenwagen und größer Puppe erscheint, wird der Wagen sofort von den anderen beschlagnahmt. Meist ohne Protest der Besitzerin. Falls darüber Unruhe entsteht, erhebt sich Marie Therese langsam und bedächtig, steigt herab von ihrer Höhe, ergreift den umstrittenen Puppenwagen und zieht ihn zu sich herauf. Der Konflikt ist zu Ende, die Krone” hat eingegriffen.

Ab und zu kommt eine der jungen Mütter nachsehen, eilt aber dann rasch zu ihrer Hausarbeit zurück. Denn die häusliche Arbeit verrichtet sie ganz allein. Hausgehilfinnen gibt es hier nicht. Dafür sind nahezu alle diese Frauen nur im eigenen Haushalt und in der Betreuung ihrer Kinder tätig. Der französische Staat unterstützt diese häusliche Arbeit der Frau durch den S. U. (Salaire unique), der nur bezogen werden kann, wenn nur der eine Ehepartner Lohnempfänger ist. Diese Zuwendung beträgt für das erste Kind, wenn es in den ersten fünf Jahren der Ehe kommt, 3450 Francs (240 Schilling), für ein Kind nach fünfjähriger Ehe 1725 Francs (120 Schilling), für zwei Kinder 6900 Francs (480 Schilling), für mehr als zwei Kinder 600 Schilling. Dazu kommt vom zweiten Kind an die Familienbeihilfe, die für zwei Kinder etwa 277 Schilling und für jedes weitere Kind 415 Schilling beträgt. Eine Familie mit zwei Kleinkindern bezieht samt Wohnungszulage etwa 17.500 Francs monatlich an Familienzulagen, falls die Frau im Hause arbeitet. Die französischen Frauen streben überdies eine Hausfrauenzulage an, die aber wohl erst bei Besserung der Finanzlage gewährt werden kann. Bisher gibt es nur für die Frauen der in nichtentlohnter Arbeit stehenden Familienerhalter der landwirtschaftlichen Berufe eine Beihilfe für Mütter am Herd”. Daneben bestehen Beihilfen für Wohnung, Uebersiedlüng, Geburten und Schwangerschaft, bezahlter Urlaub der Mutter nach Geburt eines Kindes. — Wer sich über dieses System der Familienbeihilfen genauer informieren will, findet in den Informationen des Oesterreichischen Familienbundes eine Ueber- setzung der Schrift von Jean Negre mit genauen Angaben. — Der Erfolg dieser Familienförderung ist sichtbar.

Neben diese finanzielle Förderung tritt die Bestimmung, daß vom zweiten Kind an die militärische Einberufung des Vaters um zwei Jahre nach der Geburt jedes Kindes verschoben wird, was derzeit bei den Einberufungen für Algier als große Erleichterung empfunden wird.

Zugleich mit der Rückkehr zur Familie hat in den Schichten der Akademiker und des Mittelstandes ein Wiederaufleben des religiösen Lebens eingesetzt, das vor allem durch Betreuung der Studierenden in der Cite Universitaire, die ein Foyer catholique besitzt, gefördert wird. Die in diesem neuen Viertel erbaute Krypta, die ursprünglich eine Kathedrale werden sollte, ist an Sonntagen vor allem von Männern und Frauen der mittleren Schichten besucht. Auffallend ist für den Ausländer das Fehlen der Ministranten am Altar, besonders an Wochentagen.

So hat Frankreich, das Land der schwersten sozialen und politischen Kämpfe, auf dem Gebiet des Familienaufbaues mustergültige Arbeit geleistet und ein Problem gelöst, das uns seit der Industrialisierung Europas nahezu unlösbar schien: die kinderreiche Mutter ihren Kindern zu erhalten. Denn gerade die Notwendigkeit, bei Kinderreichtum mitzuverdienen, drängte die Frau, vor allem seit dem ersten Weltkrieg, aus dem Haus. Die Familienbeihilfen tragen dazu bei, den Kindern die Mutter zu erhalten. Damit wird auch für die Jugend vorgesorgt. Die Kinder, die daheim ihr warmes Nest bei der Mutter hatten, stehen sicherer im Leben und sind widerstandsfähiger gegenüber schlechten Einflüssen. Hier, im Hause, muß der Kampf gegen die Jugendkriminalität einsetzen.

Der plötzliche Kinderreichtum hat allerdings die furchtbarste Wohnungsnot heraufbeschworen, da Frankreich die längste Zeit keine Wohnbauten auf führte und die Altwohnungen sich Generationen hindurch vererben. Die jungen Familien führen einen heroischen Kampf um ihren Lebensraum. Den Tüchtigsten gelingt es, aus den grauen Gassen der Wohnviertel von Paris in die grüne Weite der Bannmeile zu ziehen.

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