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In der Dämmerung

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Ich habe in meiner eigenen Knabenzeit sie nocHerlebt und ihren Segen, ihre Seligkeit ausgekostet: jene halbe Stunde der Besinnung, da der Tag abschied, die Nacht jedoch noch nicht hereingebrochen war.

In jener halben Stunde des Dämmerns wurde damals nicht Licht gemacht, und zwar nicht nur aus Sparsamkeit, sondern auch aus überkommener Lebensweisheit. Damals also wurde nicht gleich Licht gemacht, hastig, voreilig, ungeduldig, wie wir das heute tun, die wir nichts mehr erwarten können, nicht den Morgen, Mittag, Abend, nicht die Nacht: zunehmend veräußerlicht, auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen. Nein, damals wurde nicht vorzeitig Licht gemacht, künstliches, weil man die Unnatur des Zwielichtes scheut.

Dennoch war jene Stunde erhellt von einem inneren Licht, das uns Heutigen nicht ganz abhanden kommen darf. Wenn auch der schöne, sinnvolle Brauch kaum mehr zum Leben erweckt werden kann, so heißt es doch, sich nach einem Ersatz umschauen. Mit jedem Stück Innerlichkeit nämlich, das uns verlorengeht, entfernen wir uns von uns selbst, und es ist sehr die Frage, ob uns das auf die Dauer gut bekommt.

Jene tägliche halbe Stunde versammelte die ganze Familie zu einer plaudernden, hörenden Runde, und natürlich nahm auch die Magd daran teil. Die Großen, falls einer einmal abends ausgehen wollte, warteten diese Weile noch gerne zu. Und wehe uns Kindern, wenn wir um diese Zeit noch nicht heimgekommen gewesen wären, uns noch irgendwo draußen herumgetrieben hätten!

Oft galt das Gespräch nichts anderem als den Tagessorgen, dem Gestern, Heute und Morgen. Mit Vorliebe wurde von der Großmutter der Küchenzettel für den nächsten Tag vorgeschlagen, von den Eltern die Arbeitsfolge entworfen. Aber die nüchternsten Dinge erhielten durch den Zauber jener heimeligen Stunde eines von uns Kindern ritt Zumeist auf Vaters Knie etwas Feierliches und das Selbstverständliche Weihe und Bedeutung.

Manchmal gaben die Großen etliches aus ihren Erinnerungen zum besten, Erlebtes, Erfahrenes, uns Kleinen zum Gewinn.

Am köstlichsten aber wurde es, wenn die Großmutter Märchen erzählte. Ein einziges nur für den Abend, jedoch eingehend, ausschöpfend. Dann blühte die Dämmerstunde, je dunkler sie wurde, vön innen her erhellt, zum Weihnachtsbaum auf.

Romantik? Rausch und Traum? Nein. Eine gefährlichere Verkennung, eine leichtfertigere Unterstellung wäre nicht denkbar. Jene halbe Stunde Geistnahrung und Seelenspeise war ein Stück handfester Wirklichkeit, innerer freilich; ein Wirksames, einwärts allerdings; nicht zur Ergötzung, sondern auch Nutzen, wenn auch kein platter; war kein Wolkenritt ohne Boden unterm Fuß, sondern stark und gut auf die Erde gegründet; war kein überflüssiger Zuckerguß, sondern ein notwendiges, wirklich eine Not wendendes Stück Hausbrot.

Unzeitgemäß? Wenn wir uns heute angelegentlich bemühen, die Hausmusik wieder aufleben zu lassen, so wissen die Männer, die das tun, sehr wohl, warum und wozu.

Doch damit wollen wir uns hier gar nicht erst aufhalten. Kurzum, aus dem gleichen Grund und zu demselben Zweck wird, wenigstens für das Winterhalbjahr, da das freie, schöpferische Erzählen unterdessen eine allzu seltene Gabe geworden ist, zumindest das nachschöpferische abendliche Vorlesen sich wieder einbürgern müssen, und die Kunst- und Volksdichtung wird überall dort einzuspringen haben, wo wir aus Eigenem bereits versagen.

Wenigstens ab und zu wird für eine halbe Stunde lang die Familie aus der Vereinzelung und Zerflatterung dorthin und dahin, nach Tag und Zufall, ihre immer lockerer, loser werdenden Teile, alle, sammeln, versammeln, zu einem Ganzen, einer Runde schließen müssen: um ein gutes, wesentliches, handfestes Buch als Mittelpunkt, ein Buch, aus dem gelesen, vorgelesen wird, abwechselnd von einem jeden reihum, von einem jeden mit seinen Mitteln, und wären es die schlichtesten; es wird übrigens ein jeder an dieser Aufgabe wachsen. Zu einer tätigen Runde also der zugleich Hörenden und Lesenden, in der jeder nicht nur nimmt, sondern der Reihe nach auch gibt. So wenig nämlich der zum untätigen Aufnehmen verführende Rundfunk die Hausmusik ersetzen kann, so wenig das abendliche Vorlesen. — Und die Gemüter, die Herzen, die oft fremd auseinanderstreben, werden sich aus der Wirrnis vertraut wieder bündeln, wie der Haufen Feilspäne auf der Klangplatte sich zu ordnen beginnt nach dem Bogenstrich und im Banne der Schwingung sich bindet und bildet zum Geviert oder Stern!

Es ist überdies ausgemacht: der nur still für sich Lesende schöpft heutigentags ein Buch nicht mehr aus, er hastet an zu vielem vorbei. Viel besser ist es schon, sich selber laut vorzulesen, was bei Gedichten zudem eine Selbstverständlichkeit ist, ja unbedingt vorausgesetzt werden muß. Denn nur wer die Worte hört, die er mit dem Auge liest, kann — nach Erwin Ackerknecht — mit seiner Einbildungskraft und mit seinem Weltanschauungsorgan den vollen Erlebnisgehalt und damit all die persönlichkeitsbildenden Werte einer wirklichen Dichtung in sein eigenes Wesen hinübernehmen. Weshalb ja auch die Vorlesestunde ein unvergleichliches Mittel ist, die sehr im argen liegende Kunst des Lesens überhaupt wiedergewinnen zu helfen — und damit, wenigstens bruchteilweise, die sinnenstarke, eindringliche, unhastige Lesegepflogenheit unserer Altvordern, die außerdem noch stets die Sprache der Bibel im Ohr hatten, die sie auswendig konnten. Nur das Vorlesen macht die Einbildungskraft der Hörer empfindlich für die Bildkraft der Sprache, für den Rhythmus des Stils, für die Abwandlung der Spannungsreize und gewöhnt durch die jeweilige Konzentration und weltanschauliche Abstimmung des Programms daran, sich mit der „tieferen Bedeutung" voij Werken der Wortkunst planmäßig zu befassen. ‘Wer daher gar keine Gelegenheit hat, Vorlesestunden zu hören oder zu halten, auch nicht im kleinsten Kreis, der lese sich wenigstens solange in stiller Kammer selbst vor, bis er hernach jedes Wort beim stillen Augenlesen so deutlich klingen hört wie ein Kapellmeister seine Partitur.

Von entscheidender Wichtigkeit ist das Hören, Zuhören — nach Robert Boehringer —, als die früheste Art der Aufnahme des gesprochenen Wortes, auch dessen, das nicht der Nützlichkeit dient, natürlich für die Kinder, die Jugend, alle erst zu Bildenden. Ein Vers aus einem Lied, halb gesungen, halb gesprochen, haftet im Ohr und Sinn des Kindes und formt es und bildet es mit, Stücke aus dem Text eines Bilderbuches sowie einstmals das regelmäßig vorgesprochene Tisch- und Abendgebet unserer Vorväter, der Choral im Gotteshaus. Liest oder trägt nun gar ein Beschwörer, der „des Geistes voll“ ist, ein rechter Mittler, ein großes Gedicht vor, eine bedeutende Erzählung, eine Sage, ein Märchen, so liegt vor allem über den jugendlichen Hörern bald jener befruchtende Bann, der sie zusammen mit dem Vorlesenden zu willigen Folgern auf der Bahn des dichterischen Geistes oder des Volksgeistes macht. Erregung und Verpflichtung sind die ersten Früchte solchen Hörens. So ist ein fünfzehnjähriger Knabe, nachdem sein Lehrer ihm eines Abends zum erstenmal ein Stück großer, hymnischer Prosa vörgelesen hatte, im Aufruhr des Geistes und der Sinne, so schnell seine Beine konnten, heimgelaufen und hat von jenem Lauf zeitlebens die Erinnerung an einen umwälzenden und fast unheimlichen Vorgang behalten. Für viele wird ja das Ohr und eine solche Vorlesestunde, ein solches Gastmahl des Geistes die einzige Pforte sein, die sie der Dichtung öffnen können. Und wir sollten sie ihnen nicht auftun, um ihr Wesen zu steigern, ihren seelischen .Reichtum wachsen zu machen?

Dann müßte ein Zweig unseres Wesens allmählich verdorren. Wir müßten infolge unseres hastigen Zeitungverschlingens in der Diagonale, infolge unserer vermaledeiten Lesefixigkeit allmählich den Umgang und Zugang verlieren, mit und zu allem, was richtig gelesen, also langsam und sorgsam aufgelesen werden muß wie die Ähren im Felde.

Natürlich kann es sich, darüber ist sich gerade auch Ackerknecht im klaren, nicht darum handeln, die moderne Lesefertigkeit unterbinden zu wollen. Diese ist ein notwendiger Ausdruck des durch unseren Selbsterhaltungstrieb erzwungenen Schrittmaßes im Leben der Gegenwart, und ihre künstliche Einschränkung wäre- eine rückschrittliche Tat. Der Weg der Entwicklung geht vorwärts. Gewiß. Aber: keine Zeit zeigt deutlicher als die unsrige, daß die kulturelle Entwicklung eines Volkes entscheidend davon abhängt, ob es — um ein Wort Nietzsches zu gebrauchen — „Fortschritte“ der Zivilisation sich einverseelen und so für die Kultur nutzbar machen kann.

Über die Lesefertigkeit hinaus muß die Kunst des Lesens wieder Allgemeingut werden. Die Schule allein kann es nicht leisten. Das Haus, die Familie müssen mithelfen — durch das abendliche Vorlesen „im trauten Schein der Lampe“. Zu spötteln ist darüber nicht. Sonst wird uns unwiederbringlich ein Licht verlorengehen, das keine Neonröhre uns ersetzen kann.

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