6618785-1955_50_03.jpg
Digital In Arbeit

In der Gegenwart für die Gegenwart

Werbung
Werbung
Werbung

Die Schwierigkeit unserer Zeit ist zum Teil darin begründet, daß wir in einer Art Bewußtseinsspaltung leben. Wir leben teils als Homo oecononiieus und teils als Homo socialis. Und in falscher Alternative liegen Individualismus und Kollektivismus im Streit. Eine neue echte Gemeinschaft hat sich noch nicht auszuformen vermocht. Daher agiert man nicht, sondern reagiert. Man empfindet das Risiko, das in unserer heutigen Situation liegt, stärker als die Chance, die jedem Risiko entspricht.

Im Wirtschaftlichen beruhen die angestrebten Profite auf der künstlich abgeschirmten Marktlage, nicht auf leistungsbedingtem Vorsprung. Kurzsichtige Produzenteninteressen blockieren

ebenso wie Nationalitätskomplexe die Entwicklung zum übernationalen Zusammenschluß.

Dies alles schafft besonders für die Erziehung der jungen Generation Schwierigkeiten und gibt viele Probleme zu lösen. Sie, die junge Generation, hat keine Möglichkeit, machtpolitisch einzugreifen, und jedes politische Eingreifen beruht ja auf Macht. Schon in den Familien zeigt sich die Situation brüchig: Die Regenerationskraft der Familie ist schwach, weil die Familie nicht genug geschützt ist. Das bringt wieder mit sich, daß die Begabungsreserven in den unteren und mittleren Schichten nicht voll ausgeschöpft werden können. Die schulische Erziehung leidet nur zu oft unter der zu geringen Bezahlung des Lehrstandes.

Das politische Bemühen muß dahin gehen, die Zustände zu ändern. Der technische Fortschritt muß endlich gesellschaftlich gemeistert werden. Auf der einen Seite in seiner Anwendung gehemmt, auf der anderen Seite unserer Kontrolle entgleitend, haben wir eine der fortschreitenden Industrialisierung angemessene Neuordnung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens noch nicht geschaffen. Wir müssen in der politischen Arbeit aus der Zeit für die Zukunft schaffen. Nun enthalten ja die Programme aller politischen Bewegungen Wunschziele, die aber zum Teil utopisch sind, zum Teil so stark traditionsgebunden, daß sie vergangenheitssüchtig wirken. Bei beiden .ist dadurch der praktische Wert oft nur der, daß die Gegenwart, für die doch

eigentlich gearbeitet werden soll, weil man eben in ihr lebt, zu kurz kommt.

Dieser Umstand wird auch wohl bemerkt, doch wie es schon in der menschlichen Natur liegt, meist, ja fast immer von der jeweiligen Gegenseite, so daß also die eine Gruppe der anderen vorwirft, sie träume einer nie erfüllbaren Zukunft entgegen und vernachlässige dabei die Gegenwart, während dieser wieder der Vorwurf entgegengeschleudert wird, sie sei so der Vergangenheit zugewandt, daß sie überhaupt vergesse, für die Gegenwart zu sorgen. Aus solch fruchtlosem Streit entspinnt sich dann eine ebenso fruchtlose Tätigkeit, wobei alles nach verschiedenen Seiten zieht; das Ganze

aber gereicht der Demokratie zum Schaden. Es ist daher notwendig, die politische Haltung und ihre Ideenwelt vorerst gedanklich zu klären und dann gedanklich zu unterbauen.

Vor drei Jahrhunderten hat in der schlesischen Dichterschule Andreas Gryphius gesungen:

Mein sind die Jahre nicht, Die mir die Zeit genommen, Mein sind die Jahre nicht, Die etwa möchten kommen. Der Augenblick ist mein, Und nehm' ich den in acht, So ist Der mein,

Der Jahr und Ewigkeit gemacht.

„Der Augenblick ist mein“ — ist das also die Lösung und Losung des Problems und der politischen Arbeit? Sollen wir nur dem Tag leben, nur für den Tag wirken, „denn morgen sind wir tot“? Es gibt viele, die dem Chaos entkommen sind und so denken; doch auch ihr Werk gelingt nicht, und ihr Wirken ist stets mehr Zerstörung und Vergeudung als Aufbau gewesen. In den Zeilen des Gryphius ist die Lösung aber doch enthalten. „Der Augenblick ist mein“ — für ihn also gilt es zu sorgen, und „nehm' ich den in acht“, das heißt also, sorge ich in richtiger Form dafür, „so ist Der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht“, so wird also das den Tag und seinen Erfordernissen gewidmete Werk Bestand haben auch in Zukunft. Es lohnt sich und wird nötig sein, hierzu noch einige Gedanken auszusprechen.

Rufen wir einen großen Zeugen an, den heiligen Augustinus, der zum Problem der Zeit und des Lebens in ihr Entscheidendes gesagt hat: „Nicht i s t das Zukünftige noch das Vergangene.“ Die Gegenwart entscheidet also. So fällt für uns, wenn wir wahrhaft politisch vorgehen wollen, jedes nur utopische und jedes nur vergangenheitsgebundene Programm als wenig brauchbar aus. Was wir jetzt, in unserem Sein, für unser Sein tun, ist entscheidend. Die Zukunft übernimmt das Dasein, wie es in der Gegenwart ist. Diese Gegenwart aber tritt mit einem Erbe der Vergangenheit an, das positiv oder negativ sein kann.

Wir müssen also unser Sein so ausfüllen, daß

wir weder der Vergangenheit allein Schuld und Verdienst überlassen - wir müssen in die Gegenwart auch die Vergangenheit einbeziehen! —, noch daß wir alles der Zukunft überlassen, die ja nichts gutmachen kann, was wir gutzumachen etwa versäumt haben. Das oft bekrittelte Gegenwartsbewußtsein der Jugend — „wir sind die Welt“ — hat schon eine richtige Grundursache, nur wird es allzu leicht ins Ueberhebliche gesteigert, wenn wir vergessen, daß wir uns nicht als Maßstab des Seins ansehen dürfen. Wir müssen in der Gegenwart für die Gegenwart wirken, uns dabei aber immer bewußt sein, daß wir von einem übergeordneten Beziehungspunkt aus handeln müssen, auf den alles Sein hinbezogen wird. Wieder gibt uns hier der heilige Augustinus in seinen Bekenntnissen einen Hinweis: „Deine Jahre sind ein Tag und Dein Tag ist nicht alle Tage, sondern heute, weil Dein Heute keinem Morgen weicht, wie es ja auch keinem Gestern folgt. Dein Heute ist Ewigkeit ...“ Die religiöse Grundbestimmung, das Wissen um die Verantwortlichkeit vor der Ewigkeit sind unabdingbare Voraussetzungen für eine wirklich fruchtbare politische Arbeit. Je tiefer wir diese Verantwortlichkeit fühlen, desto erfolgreicher können wir uns der politischen Tagesarbeit widmen, ohne fürchten zu müssen, in Kleinkrämerei zu ersticken.

Das aber ohne Enge und Engherzigkeit zu er-iüllen, ist nur durch die Mithilfe aller jener möglich, die um Zeit und Ewigkeit wissen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung