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In der Hast aufs Leben vergessen

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„Du wolltest leben, und kamst nicht dazu

Du willst leben und vergißt es vor lauter Geschäftigkeit. Du willst das spüren, was in dir ist, und hast eifrig zu tun mit dem, was um dich ist

Verschüttet ist. dein Lebensgefühl”

Was Kurt Tucholsky mit „verschüttetem Lebensgefühl” umschreibt, wird auch oft als „innere Leere” bezeichnet. Die Menschen haben den Zugang zu sich selbst verloren. Im Labyrinth der vielfältigen Einflüsse, Eindrücke, Erwartungshaltungen und Tätigkeiten fällt es vielen Menschen heute zunehmend schwerer, im Einklang mit sich selbst zu leben.

Wie können wir aber wirklich spüren, wer wir sind und was für uns gut ist, wenn wir von Ablenkungen und Wünschen umringt sind, die quasi auf Knopfdruck stets abrufbar für uns sind? Warum sollte man sich noch der Mühe unterziehen, wirklich zu sich selbst zu kommen, wenn „draußen” Jubel, Trubel und Ablenkung auf uns warten? Die Devise heißt heute vielfach: Das Leben genießen, das Beste und Meiste herausholen.

Diesen Verlockungen von „außen” widerstehen die wenigsten Menschen. Es ist ihnen auch nicht mehr bewußt, daß sie so Opfer der geheimen „Zeiträuber” werden, und dabei das Kostbarste, das wir besitzen -nämlich Iebenszeit —, herschenken. Es ist erstaunlich, daß oft gerade Menschen, die ständig über Zeitmangel klagen, am leichtesten den „Zeiträubern” zum Opfer fallen.

Zeiträuber können auch höchstpersönlich aktiv sein. Hierher gehören Menschen, die bewußt oder unbewußt die Lebenszeit anderer Menschen für sich beanspruchen, die Zeit anderer Menschen wegnehmen. „Der stiehlt mir meine Zeit” - ist ein Ausdruck der klarmacht, daß Zeit sehr wohl als Besitz betrachtet wird, den man sich nicht gerne nehmen läßt. Ganz zu schweigen vom ökonomisch geprägten Ausdruck „Zeit ist Geld” ...

Im privatec Bereich wird zwar einerseits ständig über den Zeitdruck geklagt, wenige Menschen machen sich jedoch über den fairen Umgang mit der Zeit anderer Gedanken. So ist es durchaus möglich, daß über Jahre hinweg, manchmal sogar während eines ganzen Lebens, ein Partner die eigene Lebenszeit auf Kosten des anderen anreichert, indem er sich Dingen widmet, die ausschließlich für ihn selbst innere Zufriedenheit bringen, der andere - der Partner - bekommt die undankbaren Aufgaben zugeschoben, die er selbst nicht machen will. Das heißt, er stiehlt ihm wichtige Zeit.

Solche Situationen werden von Paaren oft gar nicht bemerkt oder als unangenehm empfunden, die Macht der Gewohnheit ist hier sehr ausgeprägt. Dazu kommt, daß sich manche Menschen durch ihre Einstellung und ihr Verhalten regelrecht als Opfer anbieten, das ausgenützt werden kann. Für sie kann auch das Gefühl, gebraucht zu werden, Zufriedenheit bringen.

Ein sehr prominenter Zeiträuber ist das Massenmedium Fernsehen, das rund um unseren Erdball sicher die meiste uns zur Verfügung stehende Freizeit vereinnahmt.

Natürlich soll Fernsehen hier in keiner Weise verteufelt werden. Für viele Menschen, die ihre Wohnungen infolge ihres Alters oder Gesundheitszustandes nicht mehr verlassen können, ist es die Möglichkeit, am Leben teilzunehmen und informiert zu sein. Für einen Großteil der Menschen aber, die scheinbar wenig Zeit haben, die sich wegen ein paar Minuten Wartezeit vor einer Verkehrsampel oder im Supermarkt bereits die Haare vor Ungeduld raufen, ist das stundenlange Sitzen vor der Flimmerkiste dann scheinbar kein Problem. Vor allem scheint es keines der Zeit zu sein, denn sie schaffen es „fernsehend” oft stundenlang, nicht einmal auf die Uhr zu schauen.

Man muß befürchten, daß hier bereits eine gewisse Abhängigkeit entstanden ist, ein hypnotischer Effekt, der einen großen Sog auf den angeblich freien Menschen ausübt. Fernsehen kann zum Pseudo-Lebenselexier, zu einer Droge werden, die von sich und den eigenen Problemen ablenkt.

In manchen Familien wird sogar der Tagesrhythmus vom Fernsehen diktiert: Gespräche zwischen Partnern, Eltern und Kindern werden verschoben oder finden gar nicht mehr statt, weil das Fernsehen die komplette Zeit in Beschlag nimmt. Fernsehen bestimmt mancherorts die Zeitrechnung für Mahlzeiten („entweder vor der Sendung X” oder „nach der Sendung Y”), das Ausführen des Hundes, das Ins-Bett-Bringen der Kinder. Selbst Telefongespräche werden abgestimmt: „Ruf mich aber bitte nicht während der ,Zeit im Bild' an!!!” Und wehe, es fällt jemandem ein, gerade während der spannenden Verfolgungsjagd am Ende eines Krimis anzurufen.

Ist das eigene I .eben bereits so uninteressant geworden, daß das Ersatzleben im Fernsehen so viel Zeit wert ist? Man sollte darüber nachdenken, daß Selbstentfremdung ungesund ist, Selbstfindung aber glücklich macht. Ganz zu schweigen von der wertvollen Zeit, mit der wir so gedankenlos und großzügig umgehen ...

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