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In der Hypnose der Sicherheit

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In der gegenwärtigen Phase des Kalten Krieges läuft die Propagandamaschine der Weltmächte sichtlich auf langsameren Touren. Es war deshalb den Kleineren vorbehalten, sich jener Kraftausdrücke einer überreizten politischen Sprache zu bedienen, die vor kurzem selbst noch UNO-Debatten in ein heißes und ungutes Klima getaucht hatte. Jugoslawien und Italien tauschten demnach jene Wortschläge, die scheinbar den ganz Großen vorbehalten schienen.

Die offensichtliche Mäßigung im Ausdruck, verbunden mit einer gewissen Rückkehr zu diplomatischen Verkehrsformen, läßt dennoch nicht ganz froh werden. Nach den hitzigen und überhitzten Worten der gegenseitigen Propagandafeldzüge treten nun, mit vollem, ja unheimlichem Gewicht, alte Worte in den Vordergrund, die lange Zeit die innere Geschichte Europas belastet haben und die nun vorgeschickt werden, um die Weltpolitik zu belasten. Nicht zufällig ist eines der verhängnisvollsten Worte ein Fetisch der bour-geoisen, dekadent-bürgerlichen Hemisphäre des sogenannten „19. Jahrhunderts“ gewesen: Sicherheit. Sicherheit erstrebte der „Bürger“, der zum Rentner gewordene, für sich und seine Kinder. Er war bereit, dafür nahezu alles zu opfern: nicht nur Vergnügungen, die „über die Verhältnisse“ gingen, sondern auch Freundschaft, Umgang mit Mitmenschen, nicht zuletzt mit Gott. Alles das, was „offen“ war, und deshalb riskant, nicht ungefährlich: die Jugend und ihre Forderungen nach eigener Lebensgestaltung (der Sohn kommt ins Geschäft oder ins Büro — wozu braucht er ein Künstler oder Dichter werden, der Lümmel?), die Tochter wird standesgemäß sicher verheiratet.

Was einst in diesem „19. Jahrhundert“ ein Leiden der Jugend, der Künstler und einiger Nonkonformisten war, droht heute zum Unheil der Völker zu werden. Der Sicherheitskomplex, tief wurzelnd in einem Nichttrauen auf Gott und auf eine Zukunft, die anders aussieht, als man sie erdacht, hatte zunächst bereits die deutsch-französischen Beziehungen vergiftet. Sinnfälliger Ausdruck war die Maginotlinie: der zu Beton und Eisen verfallene Traum französischer Kleinbürger, ein Wall, gebaut gegen die eigene Angst, gedacht aber als Regenschirm gegen die „incertitudes allemandes“, diese ewigen deutschen Unsicherheiten.

Heute tritt dieser Sicherheitskomplex dreifach tragisch in Erscheinung, in seiner französischen, russischen und amerikanischen Form. Es tut gut, zu wissen, daß er auch heute noch, in den engen, angsterfüllten Herzen und Hirnen von Millionen kleiner Bürger, Volksgenossen und Parteigenossen, ein stark kleinbürgerliches Gepräge trägt und eben deshalb auf ein so überaus breites und nachhaltiges Echo rechnen darf. Das wissen jene, die mit ihm ihre großen und bisweilen verwegenen Spiele spielen. Die Angst des kleinen Mannes — um seine „Versicherung“ im Innern, um seine Sicherung nach außen — ist das große Kapital, das seine stillen und steten Zinsen für die Rüstungsindustriellen und Politmanager auf der ganzen Erde trägt.

Alle Versuche zu einer wirklich in die Tiefe realpoiitischer Entscheidung vorstoßenden deutsch-französischen Begegnung — und sie ist grundlegend wichtig für eine echte europäische Konstruktion, die nicht Fassade bleiben, sondern ein Neubau sein soll — sind bisher an diesem Sicherheitskomplex gescheitert. Der Widerstand verdienstvoller Einzclpersönlichkeiten, wie der beiden Schuman, gegen ein Verharren in den Befangenheiten von gestern und vorgestern, wurde von diesem Angstschwamm aufgesogen. Der kleine Mann in Frankreich blickt sorgenvoll nach den Wolken, die ihm aus Deutschlands geballtem Himmel zu kommen scheinen, sieht nach Hilfe aus — und glaubt sie, da die Kleine Entente der ersten Weltkriegszwischenzeit nicht mehr besteht, beim kleinen Mann im Osten finden zu müssen, der zugleich ein ganz großer Bruder ist. Man kann die seltsame Hinneigung nicht nur intellektueller Kreise in Frankreich zum sowjetischen Osten (Sartre, der hartgesottene Realist, weinte in Wien, beim Friedenskongreß, jetzt vor einem Jahr, Tränen echter Freude an der Brust Korneitschuks, des Obergewaltigen der Ukraine) nur von hier aus verstehen: der französische Kleinbürger und Arbeiter will im heutigen Russen in eins den erfolgreichen, ruhmgekrönten Sohn der großen Revolution von 1789 sehen (wie weit hat es doch dieses Kind, dieser Erbe unserer geistigen Väter gebracht!), den Bruder im Ringen um eine bessere Zukunft der einen universalen Welt, den Gefährten bei der so notwendigen Abschirmung der „deutschen Gefahr“ — und ist eben deshalb bereit, ein Auge zuzudrücken, wenn der Sohn und Bruder bisweilen sich anzuschickenscheint, als gestrenger Vater, als neuer Zar uhd Großherr, seine Macht zu offenbaren. Picasso hat Stalin als Jüngling, als kleinbürgerlichen, idealistischen Jüngling aus dem Volke gemalt — nach seinem Tode — und wollte mit sicherem Instinkt, wissender als die Chefs der Kommunistischen Partei Frankreichs, die dieses Bild verboten, einem Volk von Kleinbürgern seinen Heros im Bild festhalten.

Wie dem auch sei, Moskau hat heute, wie im 19. Jahrhundert, es verstanden, eine intime, oft unterirdische Verbindung mit Frankreich zu einfm weltpolitischen Faktor auszubauen. Dem französischen Sicherheitsbedürfnis entspricht genau der russische Drang nach Sicherheit. Mittcleuropäer, die einigermaßen eine Vorstellung von der Größe der sowjetischen Wehrmacht, von der latenten Wucht der Volkskraft der östlichen Völker haben, die etwa noch den Durchbruch der russischen Panzerarmeen bei Warschau, in Schlesien und auf Berlin zu erlebt haben, sind geneigt, diesen russischen Drang nach Sicherheit vor Deutschland und den USA nur für eine Propagandawalze der Sowjets zu halten, die den etwaigen Aufmarsch der russischen Panzerwalze verschleiern soll. Die Nachrichten über Großbauten der Roten Flotte, über die Uebungen mit ferngelenkten Geschossen im Großraum zwischen Königsberg, Rügen und Wladiwostok, die Registrierung russischer Atomexperimente durch die Luftspürer und Meßgeräte der westlichen Welt, all das ist ganz in diesem Sinne als eine gigantische Rüstung des arktischen Bären gedeutet worden. Nicht mit Unrecht.

Einseitig aber wäre es, im dröhnenden Pulsschlag der sowjetischen Rüstung nicht auch den Atem der Angst zu erspüren. Auch die Sowjetunion baut, immer noch, wie einst das Frankreich Maginots, Wälle. Riesenwälle, die gestaffelt einen Angriff aus dem Westen aufhalten sollen.

„Sicherheit“: das ist hier nicht nur ein Schlagwort der Politmanager, ein methodisch von den Sowjetdiplomaten sehr geschickt eingesetztes Stich- und Programmwort, sondern ist auch eine innere Realität. Tief verwurzelt im Denken und in der Mentalität sowjetischer Bürger und Bürokraten, die ängstlich bedacht sind, ihr Plansoll zu erfüllen.

Dieses „Sicherheitsbedürfnis“, als eine volkspolitische und damit weltpolitische Realität ersten Ranges, hat niemand anderer vor dem Forum der Weltöffentlichkeit anerkannt als Dr. Konrad Adenauer, der Bonner Bundeskanzler. Ein Mann, der es wissen muß: kennt er doch nur zu gut aus eigener Erfahrung die Dynamik, die Hitler in einem Volk von kleinen Leuten, von Massenmenschen, zu entfesseln wußte, dem er vorgaukelte, absolute Sicherheit zu erkämpfen und es aus der dauernden Unsicherheit und Gefährdung eines Volkes der Mitte und der allseitig ungeschützten Grenzen dergestalt zu erlösen. Dr. Adenauer hat mehrfach, vor den letzten Wahlen und auch nachher, erklärt, daß ein (west)europäisches Verteidigungssystem nach seinem Zustandekommen bereit sein solle, mit der Sowjetwelt Verträge abzuschließen, die dem Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion Rechnung tragen würden. Man hat diese Anerkennung der sowjetischen Angst als Sicherheitsbedürfnis dem Kanzler der Bundesrepublik mehrfach verübelt — und hat vergessen, daß er, als einer der mit größter Verantwortung belasteten europäischen Politiker, unverantwortlich handeln würde, wenn er nicht das in Rechnung stellte, was, in Frankreich und Rußland heute, ebenso wie in Deutschland gestern, eine eminent politische Rolle spielt. Eben dieser „vergessene“ Faktor der „Sicherheit“.

Hier aber wird bereits eine tragische Note des Sicherheitskomplexes sichtbar: wer vom Sicherheitskomplex beherrscht ist, schließt sich ab, sucht sich zu armieren in Blöcken und vermehrt so in steigendem Maße seine eigene Angst wie die Furcht seiner „Gegner“. Block gegen Block, Wall gegen Wall, Waffe gegen Waffe bricht nicht, sondern steigert die Angst aller, wobei bisweilen schwer zu unterscheiden ist, wovor die Menschen jenseits der Sicherheitsschlösser, die leicht zu Kerkern werden, mehr Angst haben: vor der eigenen Rüstung, vor den eigenen Riesenwaffen oder vor den gemutmaßten des Gegners.

Ein charakteristisches Beispiel für diese Selbstvergiftung durch Angst und eigene Rüstung bieten nun die Vereinigten Staaten, besser, die Massen der ehrsamen Kleinbürger, die, geballt in Millionenstädten, sich heute vor der russischen Wasserstoffbombe fürchten wie vor dem Jüngsten Gericht. Es sind nun gerade drei Jahre her, daß eine in achtmonatiger Vorbereitung geschaffene Sondernummer eines der größten amerikanischen Magazine in einer Auflage von fünf Millionen einen Abwehrangriff auf die Sowjetunion schilderte, in Bildberichten und Referaten der ersten Fachleute der Armee, Luftwaffe, Flotte und Wirtschaft. Da sah also, entsetzten Auges, der amerikanische Kleinbürger in grellen roten, nachtdunklen und gelbheißen Farben, wie die amerikanischen Atombomben über Moskau detonierten, Tod und Verderben über die Großstädte des Ostens tragend. Lange zuvor hatte damals bereits in der amerikanischen Presse ein seltsames Fragespiel begonnen: wie viele Bomben besitzen wir und wie viele „braucht“ die Sowjetunion, um als knockout geschlagener Verlierer das hohe Spiel endgültig zu verlieren.

Schon damals prophezeiten besonnene Amerikaner (und an diesen hat es, zu unser aller Beruhigung, bisher noch nie in den Krisenstunden der heroischen Geschichte der USA gefehlt): diese Bildbomben haben bereits getroffen, haben bereits eingeschlagen — nicht aber in Moskau, sondern in New York und Chikago, in all den Riesenstädten der Vereinigten Staaten, in denen Millionen Familienerhalter bangen Herzens um Sicherheit für ihre Familien, für ihre Frauen und Kinder ringen, wobei der Schrei nach äußerer Sicherheit sich noch als eine gigantische Vergrößerung des Schreis nach innerer Sicherheit herausstellt: in diesem erbarmungslosen Kampf ums Leben in der industriellen Gesellschaft von heute, der Angst um den Arbeitsplatz, um das tägliche Brot. Diese Angst vor dem Abbau, vor einer Inflation, hat sich hier, inmitten durch die sehr realen täglichen Alpträume geplagter, überarbeiteter Familienerhalter zum Dämon in den Wolken gesteigert, der als sowjetische Wasserstoffbombe Gestalt annimmt. Das Jüngste Gericht aus Giftwolken des bakteriologischen, biologischen und atomischen Krieges.

Gegen diese Angst und gegen die innere Krise (der amerikanische Staat ist schwer verschuldet, der Dollar ist im Laufe der letzten zehn Jahre faktisch stark abgewertet worden und die Rüstung fordert immer noch mehr ungedeckte Wechsel) will man nun in den USA mit einem Universal- und Allheilmittel ankämpfen: die gesamte Strategie soll umgestellt werden. Statt normaler altmodischer Armeen, die mit Menschen arbeiten, sollen kleine Einheiten, in aller Welt stationiert, geschaffen werden, die mit „ungewöhnlichen Waffen“ und mit Atomwaffen ausgerüstet sind. Man hofft damit beider großer Lebensfragen Herr zu werden: der inneren Verschuldung durch die Ausstattung von Riesenarmeen, Riesenbombern, Riesenschlachtschiffen usw., und der Angst, die durch die sowjetische Bedrohung gegeben ist.

Diese „neue Strategie“ stellt eine größere Bedrohung der Welt dar, als je zuvor gegeben war: sie ballt nämlich die Riesenangst,den Sicherheitskomplex von 200 Millionen Menschen in wenigen handlichen Mordwaffen zusammen. Man überlege wohl: es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man, wie im ersten und noch im zweiten Weltkrieg, Sonderwaffen, wie etwa Giftgas, bereithält, „für alle Fälle“, die ganze Strategie, Rüstung und Taktik sowie Politik jedoch darauf hin abstellt, nicht zum Einsatz dieses letzten Mittels kommen zu müssen, oder ob man, wie hier geplant, darangeht, vonvornherein die militärische Ausbildung, Rüstung, Planung und Politik auf die Verwendung dieser Uebermordwaffen abzustellen. So daß also an die Stelle des Gewehrs der Giftkanister und die Atombombe als „natürliches“ Kriegsmittel tritt.

Dieses Thema ist so heikel und für uns alle so brennend, daß wir in dieser Sache keinem anderen das Wort geben und lassen, als dem Stellvertreter Christi auf Erden. Papst Pius XII. hat mit einer in der ganzen Geschichte der Christenheit in all den 2000 Jahren einmaligen Schärfe und Entschiedenheit am 20. Oktober dieses Jahres die internationale Aechtung des „ABC-Krieges“, des Krieges also mit atomischen, biologischen und chemischen Waffen, gefordert. Es wird, so hoffen wir, kein Gutgesinnter den Papst mißverstehen, weil er diese Erklärung vor den Mitgliedern des Internationalen Büros für Militärmedizin in eben einem Augenblick abgab, in dem ein Vertreter der USA es für seinen Staat neuerdings ablehnte, die internationale Abmachung über den Verzicht auf bakteriologische und biologische Kriegführung zu unterzeichnen. Außer Japan und den USA haben sämtliche größeren Staaten der Erde diese Konvention seit Jahren unterzeichnet. Pius XII. erklärte darüber hinaus: „Es ist nicht nötig, zu betonen, daß j e d e r K r i e g als Verirrung des Geistes und des Herzens abzulehnen ist.“

Verirrung des Geistes und des Herzens: der Sicherheitskomplex der heutigen Welt ist letzten Endes nichts anderes als jene Leere des Geistes und des Herzens, die beide gottlos geworden sind — und nun. in ungeheurer Angst danach streben, sich abzuschirmen — gegen den „Feind“, gegen die „Not“. Dieses innere Vakuum, das in der betriebsamen Ost-und Westwelt gleichermaßen vorhanden ist, sucht man auszufüllen durch Riesenrüstungen und durch eine Politik des kalten Krieges.

Woraus sich ergibt: Es gibt heute nicht nur für die Christen, sondern für alle Menschen und alle Mächte nur mehr eine Frage: Wie kann die innere Substanzbildung, die wahre Menschwerdung, so weit gefördert werden, daß wieder kernhafte Menschen entstehen, geboren und erzogen werden, die sich vor der Kernspaltung des Atoms nicht fürchten, weil ihr Inneres nicht leer, sondern reich an Fülle, an Vertrauen, an Glaubenskraft ist. Und die eine innere Sicherheit besitzen, die ihnen die Kraft gibt, die teuflischen Versuchungen des Sicherheitskomplexes abzuwehren, in ruhiger Arbeit, mit langem Atem und jenem Puls-schlag des Vertrauens junger Völker, den einst die großen Ahnen Amerikas besaßen, als sie, nur auf Gott und ihre Kraft gesteilt, auszogen, eine Welt für die Freiheit der Kinder Gottes zu erobern. h.

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