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In der stillen NVocL

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„Jetzt geh, die Glocken werden schon geläutet. Und sieh zu, daß du in der Kirche artig bist, sonst wird Gott dich bestrafen.“

Die Mutter steckt mir ein paar Kupfermünzen u und läuft sogleich, mich vergessend, mit dem abgekühlten Bügeleisen in die Küche. Ich weiß sehr gut, daß man mir nach der Beichte weder zu essen noch zu trinken geben wird, und darum schlinge ich noch schnell, vor dem Weggehen, ein Stück Weißbrot herunter und trinke zwei Glas Wasser. Draußen ist es schon ganz frühlingsmäßig. Die Straßen sind bräunlich-feuchte Lehmmassen, auf denen sich bereits die künftigen Fußpfade abzuzeichnen beginnen; die Dächer und die Trottoirs sind trok-ken; längs den Zäunen bricht durch struppiges vorjähriges Gras bereits das junge zarte Grün. In den Gräben läuft lustig schäumend und surrend schmutziges Wasser, in welchem die Sonnenstrahlen sich zu baden nicht ekeln. Späne, Strohhalme, Sonnenblumenschalen ziehen schnell in der Strömung dahin, drehen sich wirbelnd und bleiben am schmutzigen Schaum haften. Wohin, wohin schwimmen diese Späne? Sehr möglich, daß sie aus dem Graben in den Fluß kommen, aus dem Fluß in das Meer, aus dem Meer in den Ozean... Ich will mir diesen langen schrecklichen Weg vorstellen, doch meine Phantasie reißt ab, noch bevor sie bis ans Meer gelangt ist.

Eine Mietsdroschke fährt vorüber. Der Kutscher schmatzt anfeuernd mit den Lippen, zupft die Fahrleinen und sieht nicht, daß hinten an seinem Wagen zwei Straßenjungen hängen. Ich will mich ihnen zugesellen, erinnere mich aber an die Beichte, und die Lausbuben wollen mir als schreckliche Sünder erscheinen.

.Beim Jüngsten Gericht wird man sie fragen: Warum seid ihr unartig gewesen und habt den armen Droschkenkutscher betrogen? — Sie werden anfangen, sich zu rechtfertigen, doch die bösen Geister werden sie packen und ins ewige Feuer schleppen. Doch wenn sie auf die Eltern hören werden und den Bettlern eine Kopeke oder ein Brezel reichen, dann wird Gott sich ihrer erbarmen und sie ins Paradies lassen.“

Die leere Kirchenvorhalle ist trocken und von Sonnenlicht überflutet. Zögernd öffne ich die Tür und trete ein. Dort im Dämmer, das mir dicht und düster scheint wie noch nie, übermannt mich das Bewußtsein der eigenen Sündigkeit und Nichtigkeit. Vor allem fällt mir ins Auge eine große Kreuzigung, mit der Mutter Gottes und Johannes dem Täufer an den Seiten. Kronleuchter und Postamente stecken in schwarzen Trauerhüllen, die Lämpchen leuchten zag und trübe, die Sonne meidet wie absichtlich die Kirchenfenster. Die Mutter Gottes und der Lieblingsjünger des Heilands stehen im Profil, blicken schweigend auf die unerträglichen Schmerzen und bemerken nicht meine Anwesenheit; ich fühle, daß ich für sie ein Fremder, ein überflüssiger, ein Unbemerkter bin, daß ich ihnen weder mit Wort noch Tat helfen kann, daß ich ein widerwärtiger, ehrlcser Junge bin, nur zu Streichen, Grobheiten und Petzereien fähig. Ich decke an alle Leute, die ich nur kenne, und alle kommen mir kleinlich, dumm, böse vor, und völlig unfähig, dieses furchtbare Leid, das ich jetzt vor mir sehe, auch nur um einen Tropfen zu verringern. Das Kirchendämmer wird dichter und finsterer, und die Mutter Gottes mit Johannes dem Täufer scheint mir ganz einsam.

Beim Kerzenschrank steht Proköfij IgnÄtjitsch, ein alter ausgedienter Soldat, der Gehilfe des Kirchenvorstehers. Er hat die Brauen hochgezogen, streicht sich den Bart und setzt murmelnd irgendeiner alten Frau auseinander: Die Frühmesse ist heute abend, gleich nach der Vesper. Und morgen beginnt das Stundenläuten um acht. Hast du verstanden? Um acht.

Und rechts, zwischen zwei mächtigen Säulen, dort wo der Nebenaltar der Märtyrerin Barbara anfängt, steht, in der Nähe des Wandschirms, die wartende Reihe der Beichtgänger ... Dort ist auch Mitjka, ein abgerissener, häßlich geschorener Junge mit abstehenden Ohren und kleinen, sehr bösen Augen. Das ist der Sohn der Taglöhnerin, der Witwe Nastassja — ein Raufbold, ein Räuber, der den Jahrmarktsweibern aus den Mulden die Äpfel klaut und mir mehr als einmal die Glasmurmeln entrissen hat. Er blickt mich böse an und ist, scheint mir, voll Schadenfreude, daß nicht ich, sondern er als erster hinter den Schirm gehen darf. In mir kocht der Zorn auf, ich bemühe mich, auf ihn nicht zu blik-ken, und bin in tiefster Seele unwillig darüber, daß diesem Lausbuben jetzt gleich seine Sünden vergeben werden.

Vor ihm steht eine herrlich gekleidete, schöne Dame, in einem Hütchen mit weißer Feder. Sie ist sichtlich aufgeregt, wartet angespannt, und eine Wange ist bei ihr vor Erregung fieberhaft gerötet.

Ich warte fünf Minuten, zehn... Aus dem Schirm tritt ein anständig gekleideter junger Mann hervor, mit langem magerem Hals und hohen Gummi-galoschen; ich beginne davon zu träumen, wie ich erwachsen sein werde und mir gerade solche Galoschen kaufe, unbedingt solche! Die Dame schreckt auf und geht hinter den Schirm. Sie ist an der Reihe.

Durch den Spalt zwischen zwei Schirmteilen kann man sehen, wie die Dame an das Chorpult herantritt und sich bis zur Erde verbeugt; dann erhebt sie sich und wartet, ohne auf den Priester zu blicken, mit gesenktem Kopf. Der Priester steht mit dem Rücken zum Schirm, und darum kann ich nur sein graugelocktes Haar, die Kette des Brustkreuzes und seinen breiten Rücken sehen. Aber nicht das Gesicht. Seufzend, ohne auf die Dame zu blicken, beginnt er kopfschüttelnd schnell zu sprechen, wobei sich sein Flüstern bald hebt, bald wieder senkt. Die Dame lauscht ergeben wie eine Schuldige, antwortet kurz und blickt zur Erde.

Was kann sie gesündigt haben? — denke ich, und schaue andächtig auf ihr sanftes, schönes Antlitz. — „Lieber Gott, vergib ihr die Sünden! Gib ihr alles Glückt

Aber jetzt bedeckt der Priester ihr das Haupt mit seinem Schultertuch, dem Epitrachilion.

„Und ich unwürdiger Priester...“, hört man seine Stimme, „mit von Ihm mir gewährter Gewalt, verzeihe dir und spreche dich all deiner Sünden ledig ...“

Die Dame VBrbeugt sich bis zu Boden, küßt das Kreuz und kommt zurück. Jetzt sind ihre beiden Wangen gerötet, doch das Gesicht ist ruhig, klar und froh.

Sie ist glücklich, denke ich und blicke bald auf sie, bald auf den Priester, der ihr die Sünden vergeben hat. — Aber wie glücklich muß ein Mensch sein, dem das Recht gewährt ist, Sünden zu vergeben.

Jetzt ist Mitjka an der Reihe, doch in mir kocht plötzlich der Haß gegen diesen Räuber auf, ich will vor ihm hinter den Schirm gehen, ich will erster sein... Er bemerkt meine Absicht, haut mich mit der Kerze über den Kopf, ich antworte mit dem gleichen, und eine halbe Minute lang hört man ein Geschnaufe und ein Geräusch wie von zerbrechenden Kerzen ... Man nimmt uns auseinander. Mein Feind tritt verlegen an das Chorpult, beugt sich, ohne mit den Knien einzuknicken, zur Erde, aber was weiter kommt, sehe ich nicht; beim Gedanken, daß gleich nach Mitjka ich an der Reihe bin, beginnen sich mir die Gegenstände vor den Augen zu vermischen und zu verfließen: Mitjkas abstehende Ohren wachsen und fließen mit dem dunklen Nacken zusammen, der Priester schwankt, der Fußboden schlägt Wellen ...

Es ertönt die Stimme des Geistlichen:

.Und ich unwürdiger Priester ...“

Jetzt bewege auch ich mich hinter den Schirm. Unter den Füßen fühle ich nichts, als ob ich auf Luft gehe... Ich trete zum Chorpult, welches höher als ich ist. Für einen Moment erscheint vor meinem Auge das gleichmütige, ermüdete Antlitz des Priesters, aber dann sehe ich nur seinen Ärmel mit dem himmelblauen Futter, das Brustlfreuz und die Kante des Pults. Ich fühle die Nähe des Geistlichen, den Duft seines Priestergewandes, ich höre seine strenge Stimme, und meine ihm zugekehrte Wange beginnt zu brennen ... Manches kann ich vor Erregung nicht hören, doch auf seine Fragen antworte ich offenherzig, nicht mit der natürlichen, sondern mit irgendeiner seltsamen Stimme — ich denke an die einsame Muttergottes und an Johannes, an die Kreuzigung, an meine Mutter, und ich möchte weinen und um Verzeihung bitten.

„Wie heißt du?“ fragt der Priester und bedeckt meinen Kopf mit dem weichen Epitrachilion.

Wie ist mir jetzt leicht und froh zumute!

Die Sünden sind nicht mehr da, ich bin geheiligt, ich habe das Recht, ins Paradies zu kommen! Mir scheint, daß ich jetzt ebenso dufte wie das Priestergewand, ich gehe hinter dem Schirm hervor zum Diakon, mich einschreiben zu lassen, und schnupperte an meinem Ärmel. Das Kirchendämmer scheint mir nicht mehr düster, und auf Mitjka blicke ich gleichmütig, ohne Haß.

.Wie heißt du?“ fragt der Diakon.

„Fedja.“

.Und mit Vatersnamen?“

„Ich weiß nicht.“

.Wie nennt man deinen Vater?“

,Iw£n Petrowitsch.“

„Und der Familienname?“

Ich schweige.

.Wie alt bist du?“

„Neun Jahre.“

Zu Hause angelangt, gehe ich möglichst schnell zu Bett, um nicht zu sehen, wie die anderen abendessen. Ich schließe die Augen und denke daran, wie schön es wäre, Martern zu erleiden von irgendeinem Herodes oder Dioskorus, in der Einöde zu leben und, wie der heilige Seraphim, wilde Bären zu füttern, in einer Zelle zu leben, sich einzig von geweihtem Brote zu nähren, sein Hab und Gut den Armen zu geben, nach Kiew zu pilgern. Ich kann hören, wie man im Speisezimmer den Tisch deckt — jetzt kommen sie zum Abendessen: ich weiß, es gibt Vinaigrette, Kohlpasteten und gebratenen Hecht. Wie ich essen möchte! Ich bin bereit, alle Martern zu erdulden, in der Einöde ohne die Mama zu leben, Bären mit eigener Hand zu füttern — aber nur vorher eine einzige Kohlpastete essen!

„Lieber Gott, reinige mich Sünder“, bete ich mit dem Kopf unter der Bettdecke. „Heiliger Schutzengel, verteidige mich gegen den unreinen Geist.“

Am anderen Morgen, am Donnerstag, erwache ich mit klarer, reiner Seele wie ein guter Frühlingstag. In die Kirche gehe ich froh, mutig, fühle mich als Kommunikant, fühle mein wunderbares, kostbares Hemd, das aus dem Seidenkleid der verstorbenen Großmutter genäht ist. In der Kirche atmet alles Freude, Glück und Frühling; die Antlitze der Muttergottes und des Johannes sind nicht mehr so traurig wie gestern, die Gesichter der Kommunikanten sind hoffnungsverklärt, und es scheint, als sei alles Vergangene ins Vergessen versunken und alles verziehen. Auch Mitjka ist gekämmt und feiertäglich gekleidet. Froh blicke ich auf seine abstehenden Ohren, und um ihm zu zeigen, daß ich nichts gegen ihn habe, sage ich:

„Du bist heute schön, und wenn dir nicht die Haare so hervorstehen würden und dein Rock nicht so ärmlich wäre, könnten alle glauben, daß deine Mama keine Waschfrau, sondern wohlgeboren ist. Besuch mich zu Ostern, wir wollen Murmel spielen.“

Mitjka schaut mich mißtrauisch an und zeigt mir unterm Rock die Faust.

Die Dame von gestern aber ist wunderschön. Sie hat ein hellblaues Kleid mit einer großen, blitzenden Brosche in Form eines Hufeisens. Ich kann mich an ihr nicht sattsehen und will, wenn ich einmal erwachsen bin, unbedingt solch eine Frau heiraten. Doch da fällt mir ein, daß Heiraten was zum Schämen ist — ich lasse den Gedanken fallen und gehe auf das Kirchenchor, wo der Mesner bereits die Stunden herbetet.

Aus dem Russischen übersetzt von Sigismund von Radecki

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