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In der Zeit, über der Zeit

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Mit einem feierlichen Hochamt und einer vollendeten Aufführung von Bruckners e-moll-Messe in der alten Universitätskirche sowie einem glanzvollen Festakt in der Aula academica in Gegenwart des Münchner Kardinals und zahlreicher hoher Persönlichkeiten des kirchlichen und öffentlichen Lebens Oesterreichs und Deutschlands, sind die Salzburger Hochschulwochen am 22. August beendet worden. Vierzehn Tage lang hat man einen Mann in das Licht vieler Scheinwerfer gestellt, und wenn zu jeder Stunde immer wieder neue Seiten an ihm entdeckt wurden, man sich am Schluß sagen mußte, daß man eigentlich erst begonnen habe, ihm näherzukommen, spricht dies ebenso dafür, daß Augustinus eine außerordentliche Persönlichkeit ist, wie dafür, daß er gerade unserer Zeit etwas zu sagen hat. Dieses intensive Mitgehen und Ausharren von 600 ständigen Hörern ist sonst kaum zu verstehen.

Das Thema sah von vornherein Aktualität vor: „Augustinus in der Zeit.“ Historiker, Straub, Bonn, Berges, Berlin, Prälat Schreiber, Münster, kamen zu Wort. Kaum etwas des Gesagten blieb ohne Parallele zum Heutigen, ohne Bezug auf unsere Situation. — „Augustinus in der Zeit“: das Thema griff schon Erzbischof Doktor Rohracher auf, als er im Hohen Salzburger Dom zur Eröffnung der Hoch&hul- wochen sagte: ,,Furcht hat die Völker erfaßt und bestimmt das Leben der Nationen.“

Augustinus war vom Untergang Roms erschüttert wie seine Zeitgenossen. Aber er hat nicht nur das rechte Trostwort gefunden, sondern auch die seelische Spannkraft besessen, das Ausmaß der Katastrophe zu erfassen, den Christen den Weg zur Selbstbesinnung zu öffnen. Das heidnische Rom stand im Glanz, das christliche, ohne die Gnade der Götter, sinkt in Staub … Welche Wahrscheinlichkeit für die vielen, den Glauben zu verlieren! — Das hat auch Augustinus gekannt: die Untergangsstim- noung, das Dunkel, das Geheimnis des Bösen, die Kontraste des unergründlichen Tondichters, nicht nur seine Melodie. Rest, Münster, schilderte ihn als den Denker des fundamentalen Umbruchs, der nicht nur die Fassaden, sondern den Grundriß änderte, ja die Fundamente neu gelegt hat. Alles ist, Tag für Tag, auf Entscheidung gestellt.

Augustinus ist Existentialist. Er erlebt die menschliche Existenz mit ihrer Lust, ihrem Schmerz. Er denkt nicht im Sinne der formalen Logik. Für ihn ist die Idee der Wahrheit sein Leben lang die bewegende Macht. Darum dürfen wir an seine Dynamik nicht den Maßstab eines strengen Aufbaus legen, nach Rissen und Sprüngen im System suchen, wie Dempf es getan hat. Augustinus’ Philosophie setzt eine bestimmte Haltung voraus. Sein Denken kreist immer um das Lebendige. Was seiner Ansicht nach nottut, ist vor allem Persönlichkeit. So Auer, Salzburg, Berlinger, München.

Als Persönlichkeit steht der Mensch in der Zeit und erfüllt die Zeit. Der Mensch in der Entscheidung zwischen der Civitas Dei und der Civitas Diaboli, die in der Liebe zu Gott oder in der Liebe zum Bösen hienieden helfend, kämpferisch und endzeitlich befriedet in der eschatologischen Scheidung der Geister auf einander wirken und so das große Drama der theologisch durchleuchteten Weltgeschichte aufführen.

Der Staat ist nicht vom Teufel — und die Kirche nicht ausschließlich von Gott, quer hindurch gehen die Fronten. Hugo Rahner SJ., Innsbruck. Friede war die große Sehnsucht Augustinus’, wie der Friede die Sehnsucht Dantes gewesen ist. Beide sind sie die großen Teilnehmer des großen Rom- gespräches, dessen tiefster Sinn immer „Friede durch Gerechtigkeit“ ist. John, Wien. Gewinnt man aber den Frieden, die Glückseligkeit schon hier auf dieser Welt? Der junge Augustinus hofft das. Er hofft, daß die fruitio Dei, das Gottgenießen, schon auf Erden möglich sei. Der reife Bischof verlegt die Seligkeit in die zukünftige Welt. Lorenz, Naumburg. Schmerzvolle Wandlung: Augustinus über der Zeit! ‘

Alles in ihm kreist um das Thema: Gott. „Was begehrst du zu wissen? Gott und die Seele. Sonst nichts? Nicht.“ Es ist die Frage, ob Augustinus im eigentlichen Sinne Mystiker war. Karrer, Luzern, Monsignore Wolff, Bonn, meinten eher: nein. Nämlich nicht Mystiker im klassischen Sinn, der Ekstase, des Ergriffenwerdens von oben. Seine Mystik war aktiv, stufenweises Höhefsteigen zu Gott, wie er es in seinem Gespräch mit Monika, kurz vor ihrem Tode, beschrieben hat. Dies war P. Auers Ansatzpunkt für die Ethik Augustins: Augustinus war Neuplatoniker und ist niemals darüber hinausgekommen. Der Neuplatonismus aber sei einst mit der indischen Lehre bekannt geworden. Auer glaubt, daß Augustinus über den Weg der Reinigung, das Purum cor, er, für den Ethik und Mystik zusammengehören, teilhat an jenem Urstrom von Weisheit, der durch die Menschheit, namentlich im Osten, geht. Augustinus nahm nach Auers Ansicht eine viel ältere Tradition wieder auf als die der Griechen, die Intellektualisten waren. „Bei ihm finden sich Parallelen zu Laotse und der indischen Philosophie. Er ist einer der letzten großen Zeugen der Sophialehre.“

Der Strom fließt weiter: in der Mystik des Mittelalters. Auer berührt sie nicht mehr, außer daß er Eckehardt kurz erwähnt. Wolff nahm das Thema auf, brachte das Beispiel der Victoriner, die auf Augustins Stufenweg, seiner Erleuchtungslehre gründen. Auch eine Brautmystik hat Augustin gekannt.

Diese weitgespannte Persönlichkeit, deren Werke ebenso als politische Handbücher verwandt wurden Berges, Berlin wie als Bücher der Einsamkeit und der Weltflucht — wir vermögen ihn nie zu überblicken, er ist wahrhaft „der Zeitgenosse jeder Generation", und das Merkwürdige ist, daß, je kleiner der Ausschnitt ist, unter dem man ihn sieht, Augustinus um so größer und gewaltiger wird. Perl, Wien, über Augustinus und die Musik.

Was als Möglichkeit des Abtastens bleibt, ist der Vergleich. Mit Thomas: kurz von Deku, München, durchgeführt. Ach, er ist nicht nur „Herz“-Denker und Thomas nur Begriffsschulmeister, keinesfalls. Mit Dante J o h n, mit Bonaventura Meßner OFM.t hier auf einmal der Anspruch der Vernunft. Es gelte mehr verständliche Vernunftwahrheiten hervorzuheben, damit dem Verständnis der Offenbarungswahrheiten ein Weg bereitet wird. Die katholische Theologie habe den Auftrag — in der Mitte zwischen der Auflösung der Offenbarungsinhalte und dem — Meine Herren, ich hab’ ja bloß . .. aber Sie haben ja… murmelt Podtjägin fassungslos.

— Erklärungen sind unnötig. Doch wir warnen: wenn Sie sich nicht entschuldigen, so nehmen wir den Passagier unter unseren Schutz.

— Also gut, ich … ich werd’ mich dann entschuldigen … Wie Sie wollen …

Nach einer halben Stunde hat sich Podtjägin eine Entschuldigung zurechtgelegt, die geeignet ist, den Passagier zu befriedigen und seine eigene Würde intakt zu lassen. Er kommt in den Waggon.

— Sie, Herr! — wendet er sich an den Kranken. — Hören Sie, Herr!

Der Kranke zuckt zusammen und fährt empor. — Was?

— Ich, sozusagen … also gewissermaßen … Seien Sie nicht gekränkt. ..

— Ach … Wasser … röchelt der Kranke und faßt sich ans Herz. — Ich hab’ ein drittes Pulver Morphium genommen, bin eingeschlummert und … wieder! Mein Gott, wann soll diese Marter endlich aufhören?

— Ich, sozusagen … Sie entschuldigen …

— Hören Sie . . . Setzen Sie mich auf der nächsten Station hinaus… Ich bin nicht mehr imstande, das auszuhalten … Ich … ich sterbe …

— Das ist gemein, widerlich! — e.ntrüstet sich das Publikum.

— Scheren Sie sich ‘raus von hier! Sie werden für diese unglaubliche Verhöhnung schon büßen! ‘raus!

Podtjägin winkt kraftlos ab, seufzt auf und verläßt den Waggon. Er geht in das Dienstabteil, setzt sich erschöpft und fängt an zu klagen:

Na, dieses Publikum! Versuch, ihm gefällig zu sein! Versuch doch, einmal zu dienen, Eifer zu zeigen! Da mußt du doch notgedrungen auf alles spucken und zu trinken anfangen… Tust du gar nichts — sind sie böse, tust du was — sind sie wieder böse… Trinken wir!

Podtjägin leert auf einen Ruck eine halbe Flasche und denkt jetzt nicht mehr nach über Arbeit, Pflicht und Ehrenhaftigkeit.

Aus dem Russischen übersetzt von Sigismund von Rad e c ki.

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