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In einem unbekannten Land

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Zonengrenze. Die bayrische Grenzpolizei will unsere Pässe sehen. Beiläufig stelle ich fest, daß im Hintergrund ein Polizist diskret die Nummer meines Wagens notiert. Das Ganze dauert eine Minute.

Auf der andern Seite dauert es länger. Wir warten eine halbe Stunde in der Autoschlange, die sich langsam zu den Baracken der DDR- Grenzstelle vorschiebt. In der Baracke begeben wir uns zum Schalter „Ausländer“. Dort wird uns bedeutet, wir hätten zuerst die Abteilung „Visum“ zu absolvieren (obwohl wir doch ein DDR-Visum auf separatem Blatt vorweisen können; aber nein, es muß offenbar in den Paß übertragen werden).

Abteilung „Visum“: Ein kleiner, ärmlicher Raum, wie ein Bahnhofwartesälchen vor dreißig Jahren. An der Wand ein leicht vergilbtes Ulbricht-Porträt; kein Kalender, keine Uhr (hier ist nicht der richtige Ort, scheint es, um den Ablauf der Zeit zu registrieren). In der Ecke ein altmodischer Ofen, drauf eine Vase mit jungen Buchenzweigen. Was soll man sagen? Ein melancholisches Idyll, kleinbürgerlich beinah; aber wozu eigentlich?

Von Schalter zu Schalter

Der Mann, der das Einreisevisum in unsere Pässe stempelt, ist nett, von unpersönlicher Höflichkeit. Man behandelt einander, so kommt mir vor, „wie Patienten“. Mißtrauen und Mitleid liegen in der Luft — und das unausgesprochene Eingeständnis, daß alles hier ziemlich absurd oder jedenfalls überflüssig ist.

Ich frage den Mann, ob ich mit meinem Wagen, von Dresden kommend. bei Görlitz über die Grenze nach Polen fahren könne. Nein, sagt er, dort sei bloß ein Eisenbahnübergang; Autofahrer könnten die Grenze einzig bei Frankfurt an der Oder passieren. (Das ist ärgerlich: ich wollte von Dresden direkt nach Wroclaw-Breslau; ein Blick auf die Karte macht den Umweg via Frankfurt an der Oder sehr augenfällig.)

Ich frage: Warum?

Der Mann zuckt die Achseln; er blickt ins Leere, er ist verlegen; wir sind es gleichsam mit ihm.

Am Schalter „Geldwechsel“: Devisendeklarationen in mehreren Exemplaren, mit Unterschrift; das Original ist aufzubewahren!

Am Sehalter „Ausländer“: Die Devisendeklaration wird abgestempelt.

Nochmals am Geldschalter: Ich habe zu bezahlen: 10 DM-Ost für die Benützung der Straßen in der DDR, 20 DM-Ost für Haftpflichtversicherung während vierzehn Tagen.

(Und die grüne Karte?, frage ich. Die sei ungültig, sagt die Schalterbeamtin und lächelt dabei so, als wollte sie mir bedeuten, daß ich das doch eigentlich hätte wissen sollen. Dies hier ist eben eine andere Welt.)

Beim Wagen müssen wir wieder die Pässe zeigen; der Grenzpolizist will wissen, ob wir „Druckerzeugnisse“ (= westliche Zeitungen, die verboten sind) und Geschenke einführen. Unsere verneinende Antwort scheint ihm zu genügen; eine Wa- genköntrolle findet zu unserer Verblüffung nicht statt.

Bevor wir die Grenzstelle verlassen, beginnt es zu regnen. Man will nochmals unsere Pässe sehen. Aus ’nem großen Lautsprecher quellen nicht Propagandaparolen, sondern ostdeutsche Jazzmelodien. Es regnet; die Prozedur hat andert-

halb Stunden gedauert; richtige Stimmung will nicht aufkommen, trotz Jazz.

„Herzlich willkommen in der Deutschen Demokratischen Republik!“ (steht auf einem Transparent). Nun ja …

Bummel durch Weimar

In Weimar. Das prächtige Goethe- Haus am Frauenplan; das (vergleichsweise sehr bescheidene) Schiller-Haus; das renommierte Hotel „zum Elephanten“ (allwo der Kellner Mager weiland die Witwe Char-

lotte Kestner, geborene Buff, mit — geistig gesprochen — offenen Armen empfing): jeder Schritt in dieser Stadt ist eine Reminiszenz.

Jeder? Nun, man soll nicht übertreiben. Da gibt es allenthalben (wenn auch nicht mehr so häufig wie ehedem) stimulierende Transparente; sie ersetzen gewissermaßen die fehlende Reklame. Da gibt es außer den Goethe-Schiller-Statuen, ein Thälmann-Denkmal und an kahler Hauswand eine riesig dimensionierte Friedenstaube; hart im Raume stoßen sich die Sachen.

Die Häuser der Stadt, von Ausnahmen abgesehen, wirken grau und ziemlich trist; der Verputz ist schadhaft und bedürfte der Auffrischung, aber niemand scheint sich darum zu kümmern. Die Auslagen der Geschäfte sind keineswegs leer, aber bisweilen etwas kümmerlich und meist altväterisch arrangiert. Die Überquerung der Straße bringt den Fußgänger nicht gleich in Lebensgefahr; gemessen an unseren Verhältnissen nimmt sich der Verkehr bescheiden aus, und etliche Autos haben ein ehrwürdiges Alter.

Das vom Tagungsbüro der Goethe- Gesellschaft für midi reservierte Zimmer jm Hotel „International“ ist sehr klein (vielleicht 2 X 3 m) und sehr billig (4 DM-Ost die Nacht, nicht einmal Fr. 4.50). Neben dem tadellos sauberen Lavabo eine feuerpolizeiliche Vorschrift: „Jeder Bürger ist verpflichtet, bei der Feststellung eines Brandes diesen zu löschen .. Ich prüfe den Satz auf seine sprach-

liehe Form (wäre Goethe mit ihr einverstanden?) und auf seine eventuelle symbolische Bedeutung. Aber man soll wohl nicht alles politisch nehmen.

Mittagessen im „Weißen Schwan“ am Frauenplan. (Goethe an Zelter: „Der weiße Schwan empfängt dich jederzeit mit offenen Flügeln.“) Uns gegenüber ein Studienrat auš Jena mit seiner Frau. Wir kommen schnell und leicht ins Plaudern — schneller und leichter, als man sich’s vorgestellt hat.

Keine „italienische Reise“

Der Gymnasiallehrer, etwa sechzig Jahre alt, leidet darunter, daß er nicht mehr nach Italien, nicht mehr in die Schweiz fahren kann. 1920, erinnerte er sich, stand er im Bahnhof Zürich und staunte darüber, wie viele Sprachen dort munter durcheinanderschwirrten. Seiner Frau, die zwanzig Jahre jünger ist, mag er nicht von diesen frühen Erlebnissen erzählen, da sie ja keine Möglichkeit hat, in den Westen zu fahren. (Die Frau dankt ihm solche Rücksicht mit einem zärtlichen Blick.) Die beiden jammern nicht. Ferien in Bulgarien, Ferien am Schwarzen Meer, sagen sie, sind gewiß auch schön. Nein, sie klagen nicht; aber erzwungene Beschränkung sei nicht gut.

Ob das Ehepaar Kinder habe? Ja, einen Sohn; er studiert Medizin in Moskau. Dort sei die Atmosphäre viel freizügiger. Der Sohn schickt bisweilen Bücher nach Hause, die in der DDR nicht zu haben sind. (Wir reden die gleiche Sprache, denkt man, wir verstehen einander, sogar in Andeutungen; aber ihre Welt kreist um ein anderes Zentrum, und sie haben sich in dieser Welt einzurichten.)

Diese andere Welt: Auch sie verändert sich. Die Phase der Scholastik, sagt der Professor, die Epoche des sturen Rationalismus ist abgeschlossen; der Sturm und Drang hat begonnen. Marxismus und Leninismus werden nicht mehr einfach verordnet, sondern diskutiert; in der Staatsbürgerkunde kommt es zu lebhaften Gesprächen, das wäre vor drei Jahren noch undenkbar gewesen. Gleichwohl steht die Jugend in der Spannung zwischen dem, was die Schule lehrt, und dem, was sie daheim hört.

Das Ehepaar, man spürt es beschämt, ist beglückt, ja gerührt über die Begegnung mit uns. Der Lehrer und seine Frau, hungernd nach Kontakt, bringen uns Vertrauen entgegen. Wie kann man es rechtfertigen? Vielleicht durch Bescheidenheit und Einfühlung. Breitspurige Überheblichkeit (wir neigen so gern dazu) ist tödlicher Frost auf solch keimende Freundschaften.

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