6580551-1951_15_06.jpg
Digital In Arbeit

In schlafloser Stund

Werbung
Werbung
Werbung

Jäh schrecke ich im Bette hoch, Es pocht! Wo? Wer? An meiner Türe? Unmöglich. Ich habe doch am Abend die Eingangstüre zur Wohnung doppelt versperrt und zweifach gesichert. Niemand soll in mein Wohnen einbrechen. Ich will nicht gestört werden. Ich will allein sein.

Das gleichmäßige Atmen meiner Frau im Nebenzimmer beruhigt mich. Ich habe deshalb einen Türspalt offen gelassen. Und das kaum hörbare Atemholen des Zehnjährigen und die beglückende Melodie des Schlafes der Dreijährigen! Wie Balsam fließt es über meine wunde Seele.

Aber es pocht! Bin ich verwirrt? Höre ich es, oder höre ich es nicht? Ich fahre mir übers heiße Antlitz, durchs feuchte Haar. Ich kann nicht zweifeln: es pocht!

Die Uhr ist es. Sie tickt in den Raum. Ich strecke mich hin. Ihr singender Gleichklang wird mich gnädig einhüllen, versinken lassen im leisen Rauschen, Verrauschen dieser Stunde, hinfließen ins Uferlose. Bis ins Herz tönt die selige Dünung unendlich wogender, friedlicher, lichter Gefilde.

Vergeblich ersehnt! Immer härter klingt der Gleichklang des Pendels, härter, unerbittlicher. Kreischend wie die reißende Kreissäge fährt es in dieses unweigerlich vorrückende verharrende Dasein, unbarmherzig splittert Schlag und Gegenschlag Stück um Stück sinnlosen Abfalls spurlos zu Nichts, ins Nichts.

Der kalte Schweiß steht mir auf der Stirne. Ich muß die Pendelschläge zählen, wie der Radioansager das Zeitzeichen ankündigt: ... in fünfzig Sekunden... in vierzig Sekunden ... Wahnsinnige Erregung! Die Sekunden tropfen ins Leere, ins Nichts... in dreißig Sekunden... Vertan, für immer vertan... in zwanzig

Sekunden ... Nicht einmal vertan. Einfach nichts ... in zehn Sekunden ... Und in jedem Augenblick sterben Menschen, werden Menschen geboren, begegnen Liebende einander, sinnen widereinander Hassende, lachen Menschen, weinen Menschen, verzweifeln Menschen, weil sie vergebens auf einen warten, der zu ihnen sich neige. Ich aber lasse meine Sekunden ins Nichts fallen. Ich habe mich doppelt und zweifach abgesperrt und gesichert. Schlag und Gegenschlag des Pendels pocht, pocht, pocht.

Ich stehe auf und halte das Pendel fest. Stille befreit den Raum. Ich atme tief und sinke in den Polster zurück. Schlafen, vergessen!

Aber es pocht! Das Herz pocht mit ruhelosem Blut, auch am Halse, an den Schläfen, den Schädel längsüber, und in den Fingerspitzen vibriert es, am Knie zuckt es. Von der angemessenen Anzahl der Herzschläge verlischt, immer wieder einer, unwiederbringlich. Es pocht, es pocht!

Das unheimlich gestaltlos Dunkle überschleicht, überfällt. Diese entsetzliche, undurchdringliche Finsternis! Da eilt wieder die schmerzwirre Mutter, das tot-starre Kind in die Arme gepreßt, flußzu, sie wankt zur Brücke, taumelt hinüber, ein Panzer rollt entgegen, sie preßt sich gegen das Geländer, es bricht; rücklings stürzt sie hinab, lautlos. Ich greife nach dem Arm des Kameraden. „Weiter“, sagt er rauh. Von tausend Brücken, von tausend Ufern stürzen sie taumelnd, gestoßen, gequetscht, gepreßt, verschwinden sie in kalter herzloser Flut. Heulender Tiefangriff! Auf dem Bauernwagen fallen sie zusammen, nur ein Dreijähriges jammert über Vater und Mutter. Die nächste Welle! Das Kind ruft ihr mit ausgebreiteten Ärmchen entgegen, schlägt hin. Die Maschinengewehre pochen, pochen, pochen.

Ich presse die Faust an den Mund und flüstere immer wieder den Namen meiner Kleinen.

Im Kugelsirren ein Schrei! Der treue Nachbar schlägt die Hände an die Augen, pascht sie vor dem blutenden Gesicht zusammen, einmal, zweimal, dreimal. Dann stützt er sich plötzlich hoch, zuckt. Abgrundtiefe Verachtung im triefroten Antlitz fällt er vorwärts in den Schnee.

Ich will nach Hause, immer wieder nach Hause, und immer wieder türmen Hindernisse auf. Zwischen Baracken renne ich vor Verfolgern, unsinnig mit meinen irren Verfolgern, über endlos wirre Bahnhöfe finde ich nicht den richtigen Zug, meine Schritte pochen ins Leere.

Ich atme schwer. Ich muß mich aufsetzen. Sie knirschen im Schnee, die Schritte, sie pochen. Es pocht, es pocht! Die Irrenden, die Vertriebenen, die Gejagten, sie laufen. Wohin? Wohin? Die Häuser sind überall gut bürgerlich verschlossen und die Wohnungen der Schlafenden doppelt versperrt und zweifach gesichert. Nicht mehr weitab dröhnt der Marschtritt der Befohlenen, die blindlings vorwärtstreiben. Panzer rasseln, Kanonen holpern, Flugzeuge heulen. Schlag auf Schlag dröhnt auf die Erde. Es pocht, es pocht! Das gestaltlos Teuflische fingert lüstern durch die Finsternis mit ländergroßen. Krallen. Ein Flugzeug landet mitteninne. Der Schlag öffnet sich, eine kleine Gestalt erscheint, eine singende Stimme spricht: „Jesus kommt. Ihr müßt etwas tun.“

Immer kleiner wird die Gestalt, ferner die Stimme. Sturmgewölk überqualmt, heulende Finsternis. Das würgende Ungeheuer pfaucht mich an, sein Giftatem verseucht mich bis ins Innerste. Grinsende Fratze, der im höhnischen Spiel die Millionen Menschen von den blutigen Fingern tropfen. Tropfen um Tropfen. Tropfen um Tropfen. Es pocht. Es pocht. Es pocht. Der Sturm drückt alle Scheiben ein und reißt .die versperrten Türen aus den Angeln, im Brandatem des Ungeheuers zischt alles in Flammen auf.

Ich taste zitternd mach der Lampe, knipse an und schaue langsam, mühsam, hilflos durchs Zimmer, ins wohlgeordnete.

„Kannst du wieder nicht schlafen?“ Meine Frau steht besorgt in der geöffneten Tür. Gütig entnimmt sie dem Schrank das Notwendige. Gegen das Licht läßt sie aus kleinem Fläschchen dunkle Tropfen auf ein Stück Zucker fallen. Ich nehme sie dankbar mit etwas Wasser.

„Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen“, lächle ich ihr wehmütig zu. „Mit irgendwelchen fünfzehn Tropfen besänftigen wir das ruhelose Herz. O Segen der Wissenschaft! Und der rastlose Geist wird zurückweichen vor dem winzigen weißen Pulver in deiner Hand.“ Triumph der Wissenschaft! Ihr werdet sein wie Gott, der Herr über alle Geister, das Gute erkennend und das Bösel Und so spricht die Vernunft: Wahrlich, es ist nicht gut, ruhelosen Herzens, rastlosen Geistes zu sein. Ich werde beruhigt und besänftigt, vernünftigerweise schlafen, erlöst schlafen.

Ich werde nichts tun.

Ich werde schlafen, hier in diesem wohlgeordneten Zimmer, doppelt versperrt, zweifach gesichert gegen alle Umwelt. So mächtig ist Wissen, Herr über Herz und Geist, manifestiert durch Technik.

Habe ich laut gedacht? Es wirrte so im Kopfe. Allmählich atme ich ruhiger. Die Augenlider werden so schwer. Ich rücke mich in den Kissen zurecht. Schon spüre ich, wie der Lähmende systematisch die Gehirngänge überschleicht. Gleich werde ich weg sein.

•In der Ecke des Zimmers wird unter der Decke etwas liegen, vermutlich ein schlafender Mensch.

Nein, es wird nichts zu sehen sein.

„Es geht schon vorüber. Du bist so geduldig mit mir. Ich danke dir.“

Fernher höre ich noch das Abknipsen.

Nichts pocht, nichts.

Alles versinkt in schwarze Finsternis.

PETER SCHIFFERLI

Der seltsame Graham Greene

„Der Sünder ist mitten im Herzen des Christentums ... Niemand weiß in den Dingen des Christentums so genau Bescheid, niemand, außer den Heiligen.“ Charles Peguy

Dieses Wort von Peguy könnte Graham Greene über alle seine vielen Bücher schreiben. Denn er teilt mit Georges Bernanos, mit Evelyn Waugh und mit Gertrud von Le Fort die Überzeugung, daß es in einer Zeit, die sich den Heiligen verschließt, die Sünder sind, welche für das Christentum und das Wirken der Gnade Zeugnis ablegen. In seinen Romanen hat Graham Greene das Schicksal solcher Sünder gestaltet. Das Schicksal des jungen Mörders in „Brighton Rock“, des Schnapspriesters in „Die Macht und die Herrlichkeit“, des ehebrecherischen Majors Scobie in „Das Herz aller Dinge“ ist das Bewußtsein, auf dem Wege zur Verdammnis zu sein, welches diese Mörder, Spione und Agenten über das Schicksal gewöhnlicher Gangster hinaushebt und die Romane von landläufigen Kriminalromanen unterscheidet. Und es hat den Anschein, daß er das wachsende Bedürfnis der modernen Massen nach solchen Kriminalromanen ebenso ernst zu nehmen bemüht ist, wie er seine Gestalten ernst genommen sehen möchte, wenn er schreibt: „Heutzutage scheint unsere Welt eine besondere Vorliebe zu haben für Roheit. Unser Vergnügen an Gangstergeschichten ist leicht von Heimweh gefärbt; und ebenso unsere Sympathie für jene Typen, die ihr Seelenleben so erfreulich vereinfacht haben, daß sie wiederum beginnen, auf einer Stufe unterhalb des Gehirnlichen zu leben. Wir leben nach einem Kriege und einer Revolution; und es scheint, daß diese Mischlinge, die mit Bomben zwischen den Klippen von Wolkenkratzern kämpfen, mehr Aussicht haben als wir, den Proteus zu erblicken, der sein Haupt aus Meerestiefen hebt. Natürlich möchte man nicht für immer in dieser Stufe bleiben; aber wenn man sieht, wie unglücklich, wie ausrottungsbedroht wir dastehen nach Jahrhunderten der Aufklärung, so überkommt einen wohl gelegentlich die Neugier, den Ort, unseres Ursprungs zu entdecken, sofern das möglich ist, und uns die Stelle ins Gedächtnis zu rufen, wo wir zuerst in die Irre gingen.“

Auf den ersten Blick mag der Umstand überrasdien, daß der realistische Gestalter einer Welt der Sünde, der Schwachheit, des Lasters und der Verkommenheit, dem keinerlei Geheimnisse der modernen Unterwelt entgangen sind, in durchaus bürgerlichen Verhältnissen lebt und eine ebenso bürgerliche Laufbahn hinter sich hat. Im Jahre 1904 geboren, wudis Graham Greene als Sohn eines Schuldirektors in der Atmosphäre Oxfords auf, wo er heute wieder lebt. Nach Abschluß seiner Studien wurde er Journalist am „Nottingham Guardian“ und trat später als Redakteur in die „Times“ ein, bei welchen er im Jahre 1936 zum stellvertretenden Direktor ernannt wurde. Bei Kriegsausbruch übernahm ihn das Informationsministerium und später das Foreign Office. Seit Kriegsende ist er in London als Verlagsdirektor tätig.

Nadidem er sdion früh zum Katholizismus übergetreten war, beschrieb er seinen Weg in „Die gesetzlosen Massen“ mit'den Worten: „Und so kam der Glaube ... Man begann an den Himmel zu glauben, weil man an die Hölle glaubte, doch lange war es nur die Hölle, von der man sich einigermaßen bestimmte Vorstellungen bilden konnte.“ Es sind nicht wenige der modernen Denker und Künstler diesen Weg gegangen, der von der Anerkennung der Hölle zum Glauben an den Himmel führte. Es sind jene, welche glauben wollen, selbst wenn sie mit dem Glauben an die Finsternis beginnen und erst allmählich die Lichter zu erkennen vermögen, welche die Gnade allenthalben entzündet hat. Und sie unterscheiden sich von den andern, denen der Glaube an die Hölle und an den Himmel gleichermaßen fremd ist.

Es sind in besonderem Maße Katholiken, welche die Wende zum Glauben in der modernen Literatur manifestieren. Aber es sind zugleich auch fast ausnahmslos Konvertiten. Es ist der Protestant Hans Zehrer, der in seinem vorzüglichen Aufsatz über „Die Hölle Graham Greenes“ auf diesen Umstand hinweist. „Es wäre ungeheuer aufschlußreich, zu untersuchen, warum ein Teil der protestantischen Intelligenz konvertiert und warum er zum radikalen Element innerhalb der alleinseligmachenden Kirche werden muß. Die kirchliche, die dogmatische, die sakramentale Ordnung ist einwandfrei katholisch. Sie ist ergriffen und gelernt worden. Und doch: Es sind Protestanten, die hinter der Maske der Konversion zum Vorschein kommen. Denn sie kreisen um zwei rein protestantische Elemente: den verborgenen Gott und die radikale Frage des Gewissens. — Der Deus ab-sconditus, der verborgene Gott in seiner lebendigen Unerforschlichkeit, von dem die Schrift sagt, daß es furchtbar sei, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen — das ist protestantisch. Eng zusammen hiemit hängt die Radikalität der Fragestellung, die bis an die äußerste Grenze der Ausweglosigkeit getrieben wird. Das ist die schauerliche Unbedingtheit des Gewissens, das nackt und allein und ganz verloren vor Gott gestellt ist. Und auch das ist protestantisch. Diese Konvertiten flüchten vor der Freiheit und Ungeborgenheit des nur auf sich gestellten evangelischen Glaubens in die geschlossene Ordnung der katholischen Welt, in der sie ihre Form empfangen. Aber sie bringen das evangelische Gewissen mit ein und den verborgenen Gott.“

Wenn man auch als Katholik diese Folgerungen des einflußreichen protestantischen Publizisten nicht widerspruchslos hinzunehmen vermag, so ermöglicht sie einem doch die Einordnung gewisser puritanischer Elemente Graham Greenes, die seine Bücher oft mit einer beinahe unerträglichen Freudlosigkeit belasten. Wie oft verspürt man beim Lesen seiner Bücher das Heimweh nach der frohen Glaubens-welt des franziskanischen Sonnengesanges und wie oft mödrte man zu einem Buch von Felix Timmermans oder zu einem Gedicht von Francis Jammes seine Zuflucht nehmen, die gewiß nicht weniger gewichtige Zeugnisse christlicher Dichtung sind, obgleich sie neben dem Sünder auch die täglich offenbarten menschlichen Tugenden nicht übersehen und über der sündhaften Hinfälligkeit des Menschenlebens dessen Schönheit und Größe nicht vergessen mögen.

Aus „Graham Greene, Westafrikanisches Tagebuch“. Ein Buch der Arche im

Verlag Stiasny, Graz.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung