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In Stein umgesetzt

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Karrieren müssen nicht immer so — sie können auch ganz anders sein. Das bewies die deutsche Geologin Dr. Gudrun Karve-Corvinus, welche unter wahrhaft abenteuerlichen Umständen die erste Altsteinzeit-Werkstatt Indiens entdeckte. Als sie im Sommer dieses Jahres nach einem siebenjährigen Indienaufenthalt in die Bundesrepublik zurückkehrte, führte sie in ihrem Gepäck nicht nur Souvenirs jeder Art, sondern auch zahlreiche Aufzeichnungen mit, die ihr als Grundlage für weitere Forschungen dienen sollen.

Etwas Derartiges hatte sich das Fräulein Doktor Corvinus nicht träumen lassen, als es nach Beendigung seines Geologiestudiums nach Poona kam, um dort die Ehe mit dem Inder Dr. Karve einzugehen.

Eine Europäerin, die nach Indien heiratet, hat mit Problemen ganz besonderer Art zu rechnen. Sie heißen Familie, Sippe, und schließlich und vor allem — Schwiegermutter. Denn während die jung verheiratete Frau in Europa gewohnt ist, Entscheidungen selbst zu treffen, muß sie sich in Indien beinahe ausschließlich nach jenen drei Faktoren richten. Was tut sie also, sieht sie sich solcherart plötzlich jeder individuellen Freiheit beraubt? Sie revoltiert! Was ihr allerdings in den seltensten Fällen nützt. Denn eine Änderung der tiefverwurzelten Familientradition wird sie damit kaum erreichen — und eine Scheidung gestaltet sich, obwohl theoretisch seit wenigen Jahren möglich, praktisch durch beharrliche orthodoxe Anschauungen zu einem fast unlösbaren Problem. Und selbst wenn es einer Frau gelingt, wird sie es als alleinstehendes weibliches Wesen in Indien schwer haben.

Für Frau Dr. Karve-Corvinus zeigte sich nach der Trennung sogleich das andere Problem: wie man als Frau in Indien seinen Mann stehen kann.

Nachdem ein einjähriges deutsches Stipendium für wissenschaftliche Arbeiten abgelaufen war, versuchte sie mehr schlecht als recht ein Existenzminimum mit Deutschstunden zu verdienen. Wobei ihr ein Einkommen von 200 RŠ. bis 300 Rs. (das sind etwa 900 Schilling bis 1300 Schilling) neben einer täglichen Reiskost wenig an Abwechslung ermöglichte. Damals wurden Ratten zwischen Kochtöpfen und Nahrungsmitteln nebst ausgiebigen Duschen durch eine schadhafte Zimmerdecke während der Regenzeit zu einer Selbstverständlichkeit. ‘ Schließlich bekam sie eine Stellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deccan College in Poona. Und damit sollte ihre eigentliche Karriere beginnen.

Das kam so: Frau Dr. Karve- Corvinus begann zu Fuß und nur von einem Träger begleitet in oft wochenlangen Wanderungen das steinige, von der glühenden indischen Sonne ausgetrocknete Deccan- Hochland zu erwandern. Und was keiner vermutet hatte, geschah: Die blonde Deutsche, welche sich schon früher für archäologische Arbeiten interessiert hatte, stieß bei Grabungen am heiligen Fluß Godavari im November 1966 auf die erste Altsteinzeit-Werkstatt Indiens.

Vorerst allerdings gab es bei ihren Wanderungen auf der Suche nach steinzeitlichen Funden mehr Mißerfolge als Erfolge zu verzeichnen. Die feindselige Haltung der Dorfbewohner, bei denen sie als Hexe verschrien war, nachdem sie bei Ausgrabungen den riesigen Schädel eines Auerochsen ans Tageslicht förderte, hätte beinahe zu Tätlichkeiten geführt. Ähnliche Erlebnisse jedoch, wie sie ihr bei einem ihrer Ausflüge begegneten — sie hatte in einem Dorfe weitab von jeder Zivilisation Hebammendienste zu tun —, waren beinahe an der Tagesordnung.

Im Frühjahr dieses Jahres habe ich sie auf einer ihrer Exkursionen zu dem Ausgrabungsfeld am Pravara-Fluß begleitet. Die Pionierin in Indiens Vorgeschichte zeigte sich allerdings inzwischen etwas arriviert. Ein Jeep, rattend, aber immerhin intakt, welcher ihr von der deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellt worden war, half ihr, pro Tag etliche Kilometer mehr als zu Fuß ziurückzulegen. Den Assistenten Kadu hat sie sich selbst her- angezogen. Er entstammt der Kaste der Unberührbaren — die heute noch bei einem überwiegenden Teil der indischen Herrenkaste, den Brah- manen, verfemt ist — und wurde in Nevasa, einem kleinen Dorf in der Nähe der Ausgrabungsstätte, geboren. Dort hat ihn die Geologin zwischen Lehmhütten und Kuhmist auch aufgelesen, um ihm eine gute Erziehung zu ermöglichen.

Außerdem gab es da noch einen großen eisernen Koffer, in dem sich neben Proviant für mehrere Tage, einer Wasserflasche und einem Pullover für kühle Nächte auch noch ein Schlangenbesteck befand. Denn da es in Indien Schlangen gibt, deren Biß innerhalb weniger Minuten tödlich wirkt, ist letzteres bei derartigen Ausflügen eine unbedingte Notwendigkeit. Und nachdem alles seinen Platz gefunden hat: Dr. Corvinus am Steuer, Kadu samt Koffer dahinter und ich daneben — braust der Jeep los durch einen relativ kühlen Morgen.

Nach sechs Stunden Fahrt kamen wir zu dem kleinen Haus, das die Geologin in unmittelbarer Nähe des Ausgrabungsfeldes gemietet hatte, hier gab es Wasser — wenn auch nicht zum Trinken, so doch zum Waschen —, und dann packten wir unser Picknick aus. Dann noch ein rascher Besuch bei der befreundeten indischen Ärztin im Dorf Nevasa (sie lebt zwischen all den dreckigen Hütten und kam mir wie eine Heilige vor, denn was sie tut, ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein — es fehlt, wie überall, am nötigen Geld und an Medikamenten) und schließlich parkte der Jeep auf einer steinigen Anhöhe. Drunten wie ein Traum, wie eine Verheißung: der Pravara-Fluß, grün, an manchen Stellen blau. Ein schmaler Vegetationsgürtel am Ufer entlang, wo Gemüse angebaut wird und Melonen. Und ein ewiges Bild: Frauen, die mit Krügen auf dem Kopf durch das Wasser waten.

Wir stiegen hinunter zum Ausgrabungsfeld. Auf den ersten Blick sah es gar nicht sehr interessant aus ich mußte es mir erst erklären lassen: An die 700 Werkzeuge wurden hier bereits auf einer Fläche von nur 75 Quadratmetern gefunden. Das Interessante daran aber ist die Tatsache, daß sich allein über 70 davon auf ganz kleinem Raume fanden. Und zwar in unmittelbarer Nähe eines breiten, flachen Steines, der frühpaläolithischen Menschen wahrscheinlich als Hockplatte diente. Damit bestätigen sich die anfänglichen Vermutungen, daß es sich bei diesen Funden um eine steinzeitliche Werkstatt handelt. Obwohl nur Durchgangsstation, scheint diese Gegend doch eine große Anziehungskraft für den vorgeschichtlichen Menschen besessen zu haben. Denn Funde in den darüber liegenden Schichten beweisen eindeutig, daß hier auch in späteren Steinzeitkulturen Werkzeuge hergestellt worden waren.

Und wieder Tausende von Jahren später hinterließen die Menschen der Mittelsteinzeit ihre kleinen, mikro- lithischen Werkzeuge. Es gibt bis heute keine fossilen Reste des steinzeitlichen Menschen in Indien. Aber es ist ein phantastischer Gedanke, daß hier, auf dieser steinigen Ebene 180 Kilometer nördlich von Poona vor rund 150.000 Jahren, als das Gebiet vielleicht fruchtbar und bewaldet war, der Vorfahre des heutigen Homo sapiens beginnendes Denken in Stein umgesetzt hat. Die Zeit steht still — und fällt in Nichts zusammen. Der gläserne Himmel ohne hüben und drüben wird zur Ewigkeit.

Die Funde der Geologin haben in der westlichen Welt bereits Aufsehen erregt. Etliche Professoren aus verschiedenen Ländern — auch aus den Ostblockstaaten — traten die Reise nach Indien an, um sich die Grabungen anzusehen. Die deutsche Forschungsgemeinschaft ebenso wie die zuständigen Institutionen in den USA fanden sich zu Unterstützungen bereit. Auch das Presseecho blieb nicht aus.

Die Grabungen am Pravara-Fluß brachten Dämmer in das Dunkel, welches bislang über Existenz und Lebensweise des steinzeitlichen Menschen in Indien lag. Um die sich daraus ergebenden Folgerungen und Schlüsse wissenschaftlich auszuwerten, ist Frau Dr. Karve-Corvinus nach Deutschland zurückigekehrt. Was aber in diesem Zusammenhang mindestens ebenso wichtig erscheint: Daß ein Mensch — trotz schwierigster Voraussetzungen — nicht aufgegeben hat.

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