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INKOGNITO

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Unter Wahrung des strengsten Inkognito, auf versteckten Landstraßen und heimlichen Feldwegen, eilte Pjotr Pawlo- witsch Possudin ins Kreisstädtchen N., wohin ihn ein anonymer Brief gerufen hatte.

Überrumpeln… Wie ein Blitz aus heiterem Himmel… grübelte er vor sich hin und verbarg sein Gesicht im Mantelkragen. Nette Schweinereien haben sie angerichtet, die Kanaillen, und triumphieren womöglich noch, glauben vielleicht, daß niemand dahinterkommen wird… Ba-Ha… Ich kann mir den Schreck und die Überraschung vorstellen, wenn es mitten im Freudentaumel plötzlich heißen wird: „Kommt mal her, ihr lieben Kinder!” Das gibt eine schöne Bescherung! Ha-Ha…

Nachdem Possudin seiner Phantasie ausgiebig die Zügel hatte schießen lassen, begann er ein Gespräch mit dem Fuhrmann. Als ein Mensch, der stets auf Popularität bedacht ist, erkundigt er sich zunächst nach sich selbst:

„Und kennst du auch den Possudin?”

„Wie sollte ich den nicht kennen?” schmunzelte der Fuhrmann. „Den kennen wir.”

„Was lachst du denn so?”

„Komische Frage! Dein letzten Schreiber kennt unsereiner, und Possudin sollte ich plötzlich nicht kennen! Deswegen ist er ja auch hergeschickt, damit ihn alle kennen.”

„Das ist richtig… Nun, und wie? Was hältst du von ihm? Taugt er was?”

„Es geht…”, gähnte der Fuhrmann. „Ein guter Herr, er versteht seine Sache… Es sind noch keine zwei Jahre her,

daß er zu uns geschickt wurde, aber er hat schon allerhand ausgerichtet.”

„Was hat er denn schon Besonderes gemacht?”

„Viel Gutes getan, Gott schenke ihm Gesundheit. Eine Eisenbahn hat er uns verschafft, den Chochrjukow aus unserem Bezirk rausgeschmissen… Kein Ende nahmen die Schweinereien dieses Chochrjukow… Ein Schuft war das, ein Schurke, alle unsere Spitzbuben arbeiteten Hand in Hand mit ihm, doch als Possudin kam, flog Chochrjukow so zum Teufel, als ob er hiemais dagewesen wäre… So ist es, mein Lieber! Den Possudin kann man nicht bestechen, nein, nein! Gib ihm Hundert, gib ihm meinetwegen Tausend, der lädt keine Sünde auf sein Gewissen… nein!” “.

Gott sei Dank, wenigstens von dieser Seite hat man mich richtig verstanden, dachte frohlockend Possudin. Das ist schön.

„Ein gebildeter Herr”, fuhr der Kutscher fort, „nicht stolz, nicht hochmütig. Unsere sind mal zu ihm gefahren, um sich zu beschweren, da ging er mit ihnen ganz wie mit Herrschaften um: Allen gab er die Hand. .Nehmen Sie bitte Platz…’ Heftig ist er und schnell… Vernünftig kann er kein Wort mit einem sprechen, immer nur los! Los! Daß er was in Ruhe erledigt oder so, kommt gar nicht an Frage, es muß immer gleich im Galopp gehen! Die unseren haben ihm gar nicht erst alles zu Ende erzählen können, da schrie er schon ,Pferde!1 und raste hierher… kam, erledigte alles… und nicht eine Kopeke hat er dafür genommen. Viel besser als der vorige! Gewiß, auch der vorige war gut. So stattlich, würdevoll, im ganzen Gouvernement konnte keiner so klangvoll brüllen wie er… Wenn er manchmal auf Reisen ging, hörte man ihn schon zehn Werst weit, aber was das Äußere anbelangt oder die inneren Angelegenheiten, so ist der jetzige viel flinker! Bloß etwas ist schlimm… Alles in allem ist er ein guter Mensch, nur eines ist scheußlich: er säuft!”

Da haben wir’s, dachte Possudin.

„Woher weißt du denn”, fragte er, „daß ich… daß er säuft.”

„Es ist wahr, Euer Hochwohlgeboren, selbst habe ich ihn nicht betrunken gesehen, ich will nicht lügen, aber die Leute haben es erzählt. Auch die Leute haben ihn nicht betrunken gesehen, aber es geht so das Gerücht um ihn… Vor Menschen, oder wenn er zu Besuch geht, auf den Ball oder irgendwo -in Gesellschaft, trinkt er nie. Zu Hause säuft er. Morgens, wenn er aufsteht, hat er sich die Augen noch nicht fertiggerieben, da brüllt er schon — .Wodka!1. Der Kammerdiener bringt ihm ein Glas, und er verlangt schon ein zweites … So geht es den ganzen Tag. Aber sag nur einer: er trinkt, und nicht an einem Auge kann man es ihm anmerken! Also versteht er es, sich in der Gewalt zu haben. Früher, wenn unser Chochrjukow zu saufen begann, dann heulten sogar die Hunde, von den Menschen gar nicht zu reden. Possudin dagegen — wenn ihm doch wenigstens die Nase davon rot würde! In seinem Kabinett schließt er sich ein und schlürft… Damit es die Leute nicht merken, hat er sich im Tisch ein Kästchen zurechtgezimmert, mit einem Röhrchen. In diesem Kasten ist immer Schnaps drin… Er bückt sich zum Röhrchen, saugt daran und ist betrunken… Auch in seinem Wagen in der Aktenmappe…”

Woher wissen sie das, erschrak Possudin. Auch das sogar 1st bekannt! Wie peinlich!

„Auch betreffs des weiblichen Geschlechts, Ein geriebener Junge (der Fuhrmann lachte und schüttelte den Kopf). Eine wahre Schr.nde, weiter nichts! Zehn Stück hat er von diesen … selbigen… Weibsbildern… Zwei wohnten bei ihm im Hause. Die eine, Nastassja Iwanowna, ist bei ihm so ähnlich wie eine Haushälterin, die andere, wie heißt sie gleich, Teufel, Ludmila Ssemjonowna, so was wie eine Schreiberin. Die wichtigste ist Nastassja. Was die sich vornimmt, das wird auch gemacht. Die springt mit ihm um, wickelt ihn um den kleinen Finger! Eine große Macht besitzt das Weib. Vor ihm hat man nicht so eine Angst wie vor ihr. Ha-Ha… Und das dritte Dämchen wohnt in der Katschalnajastraße… Direkt eine Schande!”

Sogar die Namen kennt er, dachte Possudin errötend. Und was ist er? Ein Bauer, ein einfacher Fuhrmann, der selbst nie in die Stadt kommt! Wie grauenvoll… unangenehm…

„Woher weißt du denn das alles?” fragte er mit gereizter Stimme.

„Die Leute erzählen es… Ich selbst habe es nicht gesehen, aber von den Leuten schon öfter gehört. Ist es denn so schwer, etwas zu erfahren? Dem Kammerdiener oder Kutscher kann man die Zunge nicht abschneiden… Auch geht sicherlich Nastassja selbst ln allen Gassen umher und prahlt mit ihrem Weiberglück. Vor den Augen der Menschen kann man sich nicht verbergen… Da hat dieser Possudin zum Beispiel die Manier angenommen, sich heimlich auf seine Inspektionsreisen zu machen… Der Frühere, wenn er irgendwohin fahren wollte, redete schon einen Monat vorher darüber, und wenn er fuhr, da gab es einen Lärm, ein Ge- donnere und ein Geläute… daß Gott erbarm! Vor ihm galoppierten Leute, hinter ihm und von allen Seiten! Kam er irgendwo an, schlief er sich erst mal aus, aß sich satt und trank sich voll und brüllte sich betreffs der Dienstgeschäfte die Kehle aus dem Leibe. Schreit sich heiser, trampelt mit den Füßen, schläft sich wieder aus — und zurück auf dieselbe Weise… Der Jetzige aber, wenn er was erfährt, versucht erst mal heimlich zu überraschen, schnell, daß ihn keiner sieht und erkennt. Zum Totlachen! Er schleicht sich aus dem Hause, daß es die Beamten nicht sehen, und los auf die Bahn… Fährt bis zur Station, die er sich aufs Korn genommen hat und mietet dann nicht irgendwelche Postpferde oder etwas Vornehmes, sondern versucht, ein Bauerngespann zu erwischen. Wickelt sich ein wie ein altes Weib und keucht den ganzen Weg wie ein oller Köter, damit man seine Stimme nicht erkennt. Die Eingeweide können einem vor Lachen platzen, wenn es die Leute erzählen. Der Dummkopf fährt und denkt, daß ihn keiner erkennen kann. Und dabei ist für jeden, der etwas Grips hat, im Handumdrehen alles klar.”

„Wie erkennt man ihn denn?”

„Ganz einfach. Früher, als unser Chochrjukow reiste, erkannten wir ihn an seinen schweren Händen. Wenn der Fahrgast einem gleich eine herunterhaut, dann ist es klar, das kann nur Chochrjukow sein. Auch Possudin kann man sofort erkennen… Ein einfacher Passagier benimmt sich auch einfach, der sich zurückhalten kann. Nehmen wir an, er kommt auf eine Poststation, und gleich geht die Sache los. Es stinkt ihm, ist ihm zu heiß, zu kalt, schlechte Luft. Du mußt ihm ein Hühnchen reichen, Früchte und verschiedene Marmeladen. Das weiß man schon genau auf den Stationen, wenn jemand im Winter ein Hühnchen und Früchte verlangt, dann ist es bestimmt Possudin. Wenn jemand den Aufseher anredet, mein lieber Freund, und die Leute um jeden Quark umher jagt, so kann man schwören, daß es Possudin ist. Und riechen tut es sogar von ihm anders wie von gewöhnlichen Menschen, und schlafen geht er auf eigene Manier. Er legt sich auf einer Station auf den Diwan, sprengt mit Parföngg um sich herum und läßt drei Kerzen ans Kopfkissen stellen. So liegt er und liest in den Papieren… Da merkt jede Katze, wie vielmehr erst der Aufseher, was das für ein Mensch ist…”

Wirklich, wirklich, dachte Possudin. Wie -ist mir das bloß früher nicht eingefallen!

„Und wer es wissen muß, -der erkennt ihn auch ohne Früchte und Hühnchen. Durch den Telegraph wird einem alles bekannt. Da kannst -du deine Schnauze noch so sehr ein wickeln, kannst dich verbergen wie du willst, aber hier wissen schon alle, daß du kommst. Man wartet direkt auf ihn. Possudin hat vielleicht sein Haus noch gar nicht verlassen, und hier, bitte, seien Sie so freundlich!, ist schon alles bereit. Er kommt angeflogen, um sie zu überrumpeln, vor Gericht zu stellen oder gar abzusetzen, und sie lachen sich eins ins Fäustchen. Wenn du, Exzellenz, sagen sie, auch unerwartet gekommen bist, aber -schau her: bei uns ist alles in Ordnung! Er dreht und wendet sich, riecht und schnüffelt und fährt genauso ab, wie er gekommen ist. Und wird sogar noch danke sagen müssen, ihnen die Hand drücken und um Entschuldigung bitten für die Störung. So ist das! Und was dachtest du? Ho-Ho, Euer Hochwohlgeboren! Ein flinkes Volk lebt hier, einer ausgekochter als der andere! Eine wahre Freude, was das für geriebene Teufel sind! Zum Beispiel, nehmen wir nur den heutigen Fall. Ich fahre also noch ohne Fahrgast meines Weges, da jagt mir von der Station her der Jude entgegen, der Büffetier. .Wohin1, frage ich, ,fährst du, Euer jüdisches Wohlgeboren?1 und er sagt mir: .Ich bringe Wein und kalten Imbiß nach der Stadt N. Dort wird heute Possudin erwartet.1 Fein, was? Possudin macht sich vielleicht jetzt erst auf den Weg oder wickelt sein Gesidit ein, damit man ihn nicht erkennt. Vielleicht fährt er schon und denkt sich, keiner weiß was davon, daß er unterwegs ist, und für ihn, schau mal einer an, -ist schon alles bereit, und Wein und Stör und Käse und verschiedene Vorspeisen. Ah? Er fährt und denkt sich: Aus ist es mit euch, ihr Kinderchen! Aber die Kinderchen lachen sich ins Fäustchen und wissen von nichts Bösem! Soll er nur kommen! Bei ihnen ist schon längst alles beiseite gebracht!”

„Zurück!” brüllte Possudin mit heiserer Stimme. „Fahr zurück, du Rindvieh!”

Der verdutzte Fuhrmann drehte um.

Aus dem Russischen übersetzt von Leo Borchard und Ruth Andreas-Friedrich.

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