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Inmitten der Todeskultur

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Denkwiirdige Premiere in der Nordprovinz Australi-ens: Seit Anfang Juli ist aktive Sterbehilfe legal. Arzte diirfen Fatienten auf deren Wunsch toten.

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Denkwiirdige Premiere in der Nordprovinz Australi-ens: Seit Anfang Juli ist aktive Sterbehilfe legal. Arzte diirfen Fatienten auf deren Wunsch toten.

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Wie das vor sich gehen soil? Zwei Arzte haben die Unheilbarkeit des Sterbewilligen festzustellen. Ein Psychiater bestatigt die

Entscheidungsfahigkeit des Retroffenen. Nach sieben Ta-gen muB der Sterbewunsch wiederholt werden. 48 Stunden spater darf ans Werk gegangen werden: Die todliche Injektion lost ein Spezialcomputer aus.

In Rewegung geriet die Sze-ne heuer auch in den USA. Dort haben Hbchstgerichte der Rei hilfe zum Selbstmord die Rahn geebnet. Noch zu Reginn der neunziger Jahre wurde in zwei Staaten die Legalisierung der Sterbehilfe mit knapper Mehr-

heit abgelehnt: ein Zwischen-erfolg nur, wie sich jetzt zeigt.

Das Rerufungsgericht fur den neunten Distrikt (zustan-dig fiir die die Staaten Kalifor-nien, Washington, Oregon, Alaska und Hawai) hat ein Ge-setz des Staates Washington, das Reihilfe zum Selbstmord unter Strafe stellt, als verfas-sungswjdrig aufgehoben. Das Argument: Die Verfassung ge-wahre dem Riirger das Recht, Zeitpunkt und Art seines To-des zu wahlen.

Nur ein Monat spater fallte das fiir den zweiten Distrikt (New York, Connecticut, Vermont) zustandige Rerufungsgericht ein ahnliches Urteil, ar-gumentierte aber anders: Er-laube man, Patienten durch Entzug von Rehandlungsver-fahren sterben zu lassen, so miisse die Rereitstellung von Gift fiir den gewiinschten Selbstmord auch zulassig sein.

SchlieBlich sprach in Michigan ein Gericht Jack Kevorkian, den wegen mehrfacher Reihilfe zum Selbstmord als „Doktor Tod" bekannten Arzt, im Wi-derspruch zum Gesetz frei.

In Europa gehen die Uhren keineswegs anders: 1991 be-schloB ein UnterausschuB des Europaparlaments den Antrag mit dem harmlosen Namen: „Zur Sterbebegleitung tod-kranker Patienten". Er forder -te das Europaparlament auf, es mbge empfehlen, die 'lotung auf Verlangen in Europa zu le-galisieren. Das Parlament folg-te der Aufforderung zwar nicht, dafiir aber beschloB Holland 1995 ein Euthanasie-gesetz. Es verbietet wohl die aktive Sterbehilfe, verzichtet aber unter gewissen Vorausset-zungen auf die Restrafung der Reteiligten. Damit ist - siehe Abtreibung vorprogram-miert, dafi dem Verbrechen Tut und Tor gebffnet ist.

Reklemmend, wie trotz eini-ger Zwischenerfolge dennoch die Todeskultur unaufhaltsam auf uns zuzukommen scheint. AYie ist das zu erklaren? Sie ent-spricht eben der Logik des vor-herrschenden Denkens.

Der oben erwahnte Ent-schliefiungsantrag illustriert das. Dort heiBt es: „Kbrperli-che Schmerzen sind sinnlos und unheilvoll und kbnnen die Menschenwiirde verletzen." Und an anderer Stelle: „Das Verlangen, fiir immer'einzu-schlafen, bedeutet nicht die Verneinung des Lebens, son-dern die Forderung, ein Dasein zu beenden, dem die Krankheit letztlich jede Wiirde genom-men hat..."

Wer die Dinge so sieht, lan-det zwangslaufig bei der Eu-thanasie. Wenn Leiden sinnlos ist und dem Leben Wiirde nimmt, ist die Reseitigung des Leidenden tatsachlich ein Akt der „Rarmherzigkeit". Und wenn ein Mensch wertvoll ist, nur solange er etwas leistet, dann verliert der auf Pflege

Angewiesene seine Existenz-berechtigung, wenn keine Aussicht auf Heilung besteht.

Nur stimmen diese Pramis-se nicht: Da ist zunachst die Zu -verlassigkeit medizinischer Prognosen. Wieviele Fehldia-gnosen erlebt man im Alltag! Warum meint man, in Ex-tremsituationen wiiBten es die Arzte besser?

Dann die Frage nach der Wiirde des Menschen: Sie hat ihre Wurzeln darin, daB er nach Gottes Abbild geschaffen ist. Diese Wiirde ist unzerstor-bar, ist Merkmal jeder Person - auch der des Leidenden. Jeder Mensch ist ein einmaliges Geschenk Gottes an die Welt.

Eine Welt, die sich von Gott verabschiedet hat, weiB natiir-

lich davon nichts. Aber genau das ist ihre Tragodie. Denn oh-ne absoluten Fixpunkt gerat auch der Wert des Menschen in den Rereich der Niitzlich-keitsrechnung. Und dann wird alles moglich, Schritt fiir Schritt lassen sich die Grenzen verschieben. Was gestern noch undenkbar war, ist heute Ge-genstand scheinbar verniinfti-ger Debatten und erster Expe-rimente, um morgen gangige Praxis zu werden. Dann ist jede Unmenschlichkeit moglich. Man rufe sich in Erinnerung, was im Gefolge der Abtreibung heute alles mit ungebo-renen Kinder geschieht.

Und noch etwas: Wer dem Leiden jeden Wert abspricht, hat nichts vom Leben begrif-fen. Leiden begleitet den Menschen von Anfang an. Es zu iiberwinden, mit ihm leben zu lernen, ist Teil des menschli-chen Reifungsprozesses. Wer das Leiden an der Schwelle des Todes abschafft, verhindert eine wesentliche Erfahrung. Eine Untersuchung an der Uni-versitat Erlangen zeigte das deutlich: Je naher dem Patienten der Tod kommt, umso mehr weicht die Angst vor dem Sterben, umso mehr wachst sein Glaube an ein Fortleben nach dem Tod.

Damit sei keineswegs das Leiden verherrlicht, seine Dra-matik verharmlost. Es bleibt eine Herausforderung, Leiden zu lindern, tragen zu helfen, zu heilen, Leiden erzeugende Ur-sachen zu bekampfen. Aher sollte nicht gerade unsere Zeit, die wie keine andere zuvor im-stande ist, Schmerzen zu bekampfen, sich diesem Anlie-gen und nicht der Reseitigung des Leidenden verschreiben?

Wo das Tabu der unbeding-ten Lebenserhaltung fallt, werden die Kriterien fiir das Toten immer zahlreicher werden. Philosophen wie Peter Singer, ja sogar Theologen wie Hans Kiing, bahnen der Eu-thanasie auch argumentativ den Weg.

Wir stehen \'or einem Dammbruch wie vor zwei

Jahrzehnten bei der Abtreibung. Weltweit werden heute 50 bis 60 Millionen im Mut-terleib getbtet. Warum sollten die Euthanasiefalle nicht bald eine ahnliche GroBenordnung erreichen - noch dazu in einer Zeit, in der sich drastische Einsparungen in den Sozial-bu'dgets und eine massive Uberalterung der Revblkerung abzeichnen?

Unter den Druck, nach Sterbehilfe zu verlangen, konnen wir alle geraten, moglicher-weise Sie, lieber Leser, und ich. Sollte uns nicht wenigstens das zu denken geben? Und: Ware nicht von unseren politischen Vertretern vor der nachsten Wahl eine klare Festlegung in dieser Frage zu verlangen?

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