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Inseln und Leuchtzeichen

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KRITISCHES LESEBUCH. Literatur unserer Zeit in Probe und Bericht. Von Günter Blöcker. Leibniz-Verlag, Hamburg, 1962. 448 Seiten. Preis 19.80 DM.

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KRITISCHES LESEBUCH. Literatur unserer Zeit in Probe und Bericht. Von Günter Blöcker. Leibniz-Verlag, Hamburg, 1962. 448 Seiten. Preis 19.80 DM.

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Günter Blöcker hat sich vor allem durch sein Buch „Die neuen Wirklichkeiten“ einen guten Ruf als Literaturkritiker geschaffen. Sein neues Werk wird diesen zweifellos festigen. Es ist eine Sammlung von kritischen Auseinandersetzungen mit Büchern, die ihn während der letzten zehn Jahre beschäftigt haben. In einer Vorbemerkung weist er darauf hin, daß dem Leser von heute die Gefahr drohe, „überinformiert zu sein und dabei doch unwissend zu bleiben“, daher bedürfe er der „Orientierungshilfen“. Der Kritiker hat die Aufgabe. „Richtpunkte zu setzen, die der gegenwärtigen Stunde gerecht werden und die doch unabhängig von ihr und ihren Parolen bestehen können“: Blöcker will an Stelle der von ihm als problematisch angesehenen Gesamtdarstellungen den Versuch unternehmen, „Inseln und Leuchtzeichen im Gebrodel der Formen“ sichtbar zu machen.

Der gesamte Stoff wird in Gruppen gegliedert, jeder einzelne Beitrag erhält eine knappe, durch Kursivdruck hervorgehobene Einführung in Form einer Charakteristik des Autors und seiner geistigen Position, dann folgen markante Werkproben und kritische Bemerkungen. Da jedes Kunstwerk eine Ganzheit ist, werden Inhalt und Form nicht scharf getrennt. Die Titel der acht Gruppen (110 Werke) zielen auf „Situationsmerkmale“, nicht auf literarästhetische Maßstäbe: Wiederbegegnungen, Späte Entdeckungen, Lebenszeugnisse, Texte der Avantgarde, Versuch und Errungenschaften, Zwischen Aufbruch und Beharrrung, Rückgewinnung ehrwürdiger Positionen, Strophen und Götter. Die letzte Gruppe ist den Lyrikern gewidmet.

Selbstverständlich muß sich der Leser davor hüten, aus dem kritischen Urteil über ein einzelnes Buch allgemeine Folgerungen, die das Gesamtwerk betreffen, abzuleiten. Den Anfang macht der heute leider schon fast vergessene Däne Herman Bang, der Meister sensibler impressionistischer Erzählkunst, am Ende steht der moderne französische Lyriker Rene Char. Die Fülle von Büchern spiegelt die reiche Mannigfaltigkeit des literarischen Schaffens, der Probleme und Formen, und läßt das Gewirr der gegensätzlichen, aber auch der einander ähnlichen Bestrebungen erkennen.

Blöcker beherrscht sein Metier, er ist ein kenntnisreicher und scharfsinniger Kritiker, verfügt über eine Einfühlungsgabe, die auch feine Nuancen erfaßt, und versteht es, seine stilistischen Mittel wirkungsvoll zu gebrauchen. Man genießt seine treffenden, einprägsamen und häufig ironischen Formulierungen. Als Beispiel diene eine Stelle aus dem Beitrag über Martin Walser:

„Die Kabarettisierung der deutschen Literatur schreitet rüstig voran. Brettlbegabungen und Gagmänner haben den Marsch auf die Kernbastionen angetreten. Ein mittlerer Conferencier tut es nicht mehr unter einem Zeitroman. Wobei es in vielen Fällen allerdings mehr noch als der Geltungsdrang des Autors die propagandistische Lungenkraft des Verlegers ist, die das gefällige Kleinformat zu einem literarischen Riesenfrosch von längstens einer Saison Lebensdauer aufbläst.“

Er hat auch ein feines Gefühl dafür, wie die Wandlungen der Zeitstimmung das Verhältnis der Leser zu einem Autor — etwa zu Wolfgang Borchert — verändern können. Mit Recht hat er in seine Sammlung nicht nur Werke der schönen Literatur, sondern auch Brief- und Tagebuchausgaben (Montherlant, Benn, Julien Green, Thomas Mann und andere) aufgenommen. Von österreichischen Autoren werden Ingeborg Bachmann. Franz Blei, Theodor Däubler, Herbert Eisenreich und Joseph Roth besprochen.

Was nun die einzelnen Beurteilungen betrifft, so werden literaturkundige Leser wohl manchmal anderer Meinung sein. In der Gruppe „Texte der Avantgarde“ hat Blöcker manches Buch ernster genommen, als es eigentlich verdient. Andere Leser werden vielleicht Namen und Titel vermissen, die ihnen im literarischen Leben des letzten Jahrzehnts wichftg erscheinen. Nun, das ist wohl unvermeidlich, das Buch will ja auch keine umfassende Anthologie der modernen Literatur sein. Sehr erfreulich ist es, daß Blöcker sich entschieden gegen jede Art von modischem Mitläufertum des Kritikers wendet: „Wo die schlotternde Angst, etwa nicht ganz up to date zu seiiy, als antiquiert oder gar als reaktionär zu gelten, das Verhalten des Kritikers bestimmt, da gibt es bestenfalls literarischen Betrieb, kein literarisches Leben.“ Diesen Satz mögen sich so manche Rezensenten gut merken.

Blöcker bemüht sich ehrlich um die Bücher und macht es sich nicht leicht. Auch wo man ihm nicht zustimmt, wird man doch immer angeregt. Dieses „Kritische Lesebuch“ wird seinen Zweck allerdings nur dann ganz erfüllen, wenn sich die Leser nicht mit ihm begnügen, sondern sich an Hand einiger der behandelten Werke ihr eigenes Urteil durch prüfenden Vergleich bilden. Denn Literaturkritik soll nur zum Verständnis der Literatur verhelfen und ist keinesfalls Ersatz für sie.

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