„Integration – nicht um jeden Preis“

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Die grüne Behindertensprecherin Helene Jarmer über Wege, wie man integrativen Unterricht und auch Sonderschulen weiterentwickeln sollte und über ihre eigenen Schulerfahrungen als gehörloses Kind. Das Gespräch führte Regine Bogensberger

Beim Gespräch mit Helene Jarmer wird einem klar, wie bedauerlich es ist, dass man nicht einmal Grußworte oder „Danke“ in Gebärdensprache ausdrücken kann. Das Interview in ihrem Büro wird mit Hilfe einer Gebärdensprachdolmetscherin geführt.

Die Furche: Frau Jarmer, mussten Sie als Kind auch Erfahrungen mit der Sonderschule machen?

Helene Jarmer: Ja. Ich habe eine Schwerhörigenschule besucht.

Die Furche: Wie konnten Sie es dennoch an die Universität schaffen und Pädagogik studieren?

Jarmer: Nach der Sonderschule ging ich in die Höhere Technische Bundeslehranstalt für Maschinenbau und Betriebstechnik, eine normale Schule. Diese nannte sich zwar „Integrationsschule“, es gab etwa Rampen für Rollstuhlfahrer. Für mich als gehörlose Person gab es aber keine Barrierefreiheit. Die Lehrer wussten ein wenig über Gehörlosigkeit Bescheid, der Unterricht war aber ganz normal für hörende Kinder gestaltet. Ich habe daher vieles nicht verstanden und musste mich zuhause mit Hilfe von Privatlehrern mit dem Lehrinhalt befassen.

Die Furche: Wie hätten Sie sich Ihre Schullaufbahn gewünscht?

Jarmer: Die Sonderschule hatte etwas Gutes und auch die normale Schule. In der Sonderschule empfand ich es als sehr angenehm, dass alle Kollegen gleich waren, ich war keine Außenseiterin. In der normalen Schule war es so, dass ich in Einzelgesprächen sehr gut mit den Menschen sprechen konnte. An Gruppendiskussionen konnte ich nicht teilnehmen und war eine Außenseiterin. In der Sonderschule war ich oft unterfordert, in der normalen Schule war das Pensum zwar passend, das Verstehen war aber ein anderes Thema. Ich war als Gehörlose aufs Ablesen angewiesen.

Die Furche: Braucht es also noch Sonderschulen?

Jarmer: Ja, aber nicht für alle Kinder mit Behinderungen. Gehörlose oder autistische Kinder haben oft den Wunsch nach einer Einrichtung. Autistische Kinder brauchen etwa fixe Tagesabläufe. Man muss Angebote an Zielgruppen anpassen und individuell entscheiden, in welche Schule ein Kind geht. Je mehr Angebote, umso besser.

Die Furche: Haben Eltern wirklich Wahlfreiheit zwischen Sonderschule und integrativem Unterricht?

Jarmer: Ja. Zu meiner Zeit gab es aber noch keine Wahlmöglichkeit. Es gab eine einzige Gehörlosenschule und eine einzige Schwerhörigenschule. Integration in normale Schulen gab es damals noch nicht.

Die Furche: Inwiefern müsste sich integrativer Unterricht verbessern?

Jarmer: Integration wird oft als Anpassung verstanden. Die beste Lösung wäre eine doppelte Integration: Eine Gruppe von mindestens zwei gehörlosen Kindern besucht eine Integrationsklasse. Die Lehrkräfte haben Gebärdensprache-Kompetenz und beide Gruppen müssen beide Sprachen lernen: Deutsch und Gebärdensprache. Es ist für viele Kinder mit Behinderung wichtig, dass es in der Schule zumindest ein zweites Kind gibt, das ähnlich ist, um sich nicht alleine zu fühlen. Oftmals haben die Eltern einen anderen Wunsch als die Kinder. Die Eltern wollen, dass ihre Kinder ganz normal aufwachsen. Manche Kinder fühlen sich aber in Integrationsklassen allein.

Die Furche: Also keine Integration um jeden Preis?

Jarmer: Nein, nicht um jeden Preis. Es muss den Bedürfnissen der Kinder angepasst sein.

Die Furche: Und wie soll sich die Sonderschule weiterentwickeln?

Jarmer: Die Einrichtung soll bestehen bleiben. Ob Integration oder Sonderschule hängt von den individuellen Bedürfnissen der Zielgruppen ab. Gehörlose, blinde oder autistische Kinder sind oft auf Einrichtungen angewiesen, für körperbehinderte Kinder trifft das nicht zu. Mein wichtigster Kritikpunkt an der Sonderschule ist, dass an diesen vielfach automatisch der Sonderschullehrplan unterrichtet wird. Viele Eltern lassen sich vom Lehrpersonal dazu drängen, dass ihr Kind nach dem Sonderschullehrplan unterrichtet wird. Man müsste individuell schauen, welchen Lehrplan ein Kind realistischerweise schaffen kann. Integration um jeden Preis macht keinen Sinn. Wenn Kinder gezwungen werden, eine Integrationsklasse zu besuchen, den Lehrplan aber nicht schaffen, haben sie für ihr Leben nichts geschafft.

Die Furche: Sonderschule bedeutet aber immer noch ein Stigma …

Jarmer: Ja. Das Wort „Sonder-“ sollte überdacht werden. Das Bild der Gesellschaft von behinderten Menschen sollte ein anderes werden. Ich war kürzlich in Taipeh, Taiwan, und habe bei den Deaf Olympics zugesehen. Ich erwartete, dass sich, wie meist bei solchen Veranstaltungen, nur gehörlose Menschen dafür interessieren würden, wurde aber völlig überrascht. Auch viele Hörende haben sich dafür interessiert. Viele Menschen haben zumindest das Wort „Danke“ als Gebärde gewusst. Ich vernahm ein sehr positives Bild der Gesellschaft den Gehörlosen gegenüber. Das möchte ich auch nach Österreich bringen.

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