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Intellektueller im Weltgeschehen

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Dieser zweite Band besteht ungefähr zur Hälfte aus autobiographischem Material und aus Briefwechseln mit Zeitgenossen wie Albert Einstein, Ludwig Wittgenstein, Gilbert Murray, Bernard Shaw, G. E. Moore und T. S. Eliot. Er erstreckt sich über eine ungeheuer bewegte Epoche im Leben des Philosophen, die mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges beginnt und mit seiner Rückkehr vom unfreiwilligen Aufenthalt in Amerika während des zweiten endet; als der Krieg ausbrach, war er samt seiner Familie drüben. Unfreiwilligen Aufenthalt anderer Art — als „Gast seiner Majestät“ — hatte Russell infolge seiner pazifistischen Tätigkeit 1918 bezogen. Von einem Beamten nach seiner Religionszugehörigkeit gefragt, gab er an, Agnostiker zu sein. „Agnostiker?“ meinte der Formularausfüllende, „kenne ich nicht Es gibt so viele Religiorisgemeinschaften. Hauptsache, nicht wahr, wir glauben alle an denselben Gott.“ Wenigstens erhellte diese Feststellung die ersten Tage der Einkerkerung des längst berühmten Philosophen und Freidenkers.

Mag Bertrand Russell manchem Christen noch so sehr als Erzfeind schlechthin, seine Einstellung zum Kommunismus suspekt vorkommen, ist es keiner Richtung jemals gelungen, ihn als Aushängeschild für sich zu reklamieren. Quäkern pflegte er zu sagen, manche Kriege seien gerechtfertigt, den Sozialisten, daß er die Tyrannei des Staates fürchte. Brachte diese Gewohnheit eine schmerzliche Vereinsamung im öffentlichen Leben mit sich, war der „abtrünnige“ Aristokrat ein Mann der Aufklärung, Sproß einer der alten Geschlechter, die in der Politik „Whigs“ waren, so vermochte er den Unterschied zwischen Gleichheitsprinzip und schrecklicher Wirklichkeit durchaus zu erkennen. Während einer einstündigen Unterredung mit Lenin wurde er der intellektuellen Grenzen des Gesprächspartners ebenso bewußt wie seines deutlichen Hanges zu boshafter Grausamkeit. Nicht die Herrscher Rußlands machten auf ihn Eindruck, sondern die namenlosen Massen. Diese „schienen die eigentliche Seele Rußlands zu verkörpern, ausdruckslos und starr vor Verzweiflung, unbeachtet von der kleinen Gruppe der Westler, aus denen sich alle Fortschritts- und Reaktionspairteien zusammensetzten. Rußland ist so groß, daß sich die wenigen, die sich klar ausdrücken können, darin verlieren, wie die Menschheit und ihr Planet im Weltraum. Es ist möglich, dachte ich, daß die Theoretiker das Elend der vielen vergrößern, indem sie versuchen, sie zu einem Verhalten zu zwingen, das ihren Urinstinkten entgegengesetzt ist, und ich konnte nicht glauben, daß ihnen das Glück durch ein Evangelium des Industrialismus und der Zwangsarbeit gebracht werden kann.“

Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Rußland folgte Russell der Einladung einer chinesischen Körperschaft, The Chinese Lecture Association, für ein Jahr nach Peking zu kommen, um Vorlesungen zu halten. Seine Schilderung dieser Zeit in einer wahrscheinlich für immer versunkenen Kulturwelt gehört zu den interessantesten in diesem Band' Russells Ablehnung von Terrorherrschaft in allen Formen und wo immer sie auftreten mag, führte zu einer Wende in seiner Einstellung zum Krieg, mußte er doch einsehen, daß ein gewaltloser Widerstand nach der Art von Gandhi gewisse Tugenden in denen, gegen die sie angewandt wird, voraussetzt. Diese waren im Nationalsozialismus nicht vorhanden, eine Tatsache, die Russell sehr viel früher als die meisten seiner Landesgenossen erkannte. In Wirklichkeit begegnete ihm jener Geist viel früher, schon am Anfang des ersten Weltkrieges, als er in D. H. Lawrence zunächst einen geistigen Weggefährten gefunden zu haben glaubte, um sich endlich von diesem „überempfindlichen Scherndespoten“ und „Urfaschisten“ mit seiner „mystischen Philosophie des .Blutes'“ zutiefst befremdet abzuwenden.

Dem Philosophen und Mathematiker, den Einstein als einzigen Zeitgenossen als ihm ebenbürtig ansah, verdankt der Leser zahlreiche erheiternde Augenblicke. Da gibt es den Brief der Mutter des schon längst erwachsenen, ja verheirateten T. S. Eliot, in dem sie Russell bittet, den Sohn doch dazu zu überreden, sich nach einem Universitätsposten umzusehen. Denn: „Ich glaube unbedingt an die Philosophie, aber nicht an den freien Vers.“ Wichtiger sind köstliche Vignetten von Wittgenstein. Und endlich erfährt der, der es nicht wußte und es immer wissen wollte, warum „die Leute von Trattenbach schlechter sind als Leute anderswo“.

AUTOBIOGRAPHIE 1914 BIS 1944. Von Bertrand Russ eil. Insel-Verlag, 385 Seiten, DM 26.—.

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