Mit Golo Mann starb vor 10 Jahren ein echter Intellektueller. Urs Bitterli hat eine ausgezeichnete Biografie über ihn verfasst.
Sein Vater Thomas Mann sprach von seiner "problematischen Natur", als er noch ein Kind war, während des Zweiten Weltkrieges gelang ihm eine abenteuerliche Flucht in die USA, dort beschwerte er sich über die "frechen Schüler" an seiner südkalifornischen Universität, nach 1960 wurde er einer der angesehensten politischen Publizisten und einer der meistgelesensten Historiker des deutschen Sprachraumes: die Rede ist von Golo Mann, der als Angelus Gottfried Thomas 1909 geboren wurde.
Urs Bitterli, Autor einer Reihe von wichtigen Arbeiten über die Geistesgeschichte der europäisch-überseeischen Beziehungen, hat eine umfassende und ausgezeichnete Biografie dieses Außenseiters vorgelegt, in der sein Privatleben, seine Bücher, Aufsätze, Interviews und Rezensionen, vor allem aber das 20. Jahrhundert vom Ersten Weltkrieg bis zur deutschen Wiedervereinigung lebendig werden. Es sind die politischen Ereignisse des letzten Jahrhunderts, die vom Universal-Literaten Mann differenziert, vorsichtig abwägend, fast immer richtig und sprachlich souverän beurteilt und analysiert werden. Mann selbst positioniert sich als Konservativer schon bald in der politischen Mitte: er kritisiert die Geschichtskonstruktionen des Marxismus-Leninismus, trifft Ernst Bloch im Exil, um sich in "betonter Kälte" von ihm zu verabschieden, bezeichnet das Dritte Reich als "Mörderhaus" und Hellmut Diwalds "Geschichte der Deutschen" als "Unrat", weil sie die Verbrechen der Nationalsozialisten relativiere.
Mann kämpfte gegen den Anti-Amerikanismus im Europa der Nachkriegszeit, obwohl er sich selbst nie in den USA zu Hause fühlte (und 1958 nach Europa zurückkehrte). Im Wahlkampf 1969 engagierte er sich mit anderen Intellektuellen für Willy Brandt, 1980 zum Schrecken vieler Freunde für Franz Josef Strauss.
Bitterli zeichnet das Bild eines unbequemen, unkonventionellen und unabhängigen Denkers, der nie bereit war, sich ausschließlich auf seine eigene wissenschaftliche Disziplin (die Geschichtsschreibung) zu beschränken. Nichts Menschliches war ihm fremd. Auf dem Deutschen Historikertag 1972 formulierte er programmatisch: "Alle Geschichte ist transparent nach dem Ewigmenschlichen hin, ist das Vertraute im Fremden; eben darin liegt ihre Aktualität." Mann besaß den Mut, sich mit philosophischen Fragen der Geschichtsschreibung auseinanderzusetzen - und wusste, dass Historiker diese Klippen sowieso nicht vermeiden konnten. Er betonte Freiheit und moralische Verantwortung, die Bedeutung der Einzelnen in der Geschichte, die Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Mit vielen Thesen war Mann schon in den 60er und 70er Jahren ein Außenseiter, der nicht bereit war, damaligen (Mode)trends in der Wissenschaft zu folgen. Bereits mit seiner Biografie von Friedrich Gentz (1946), vor allen aber mit "Wallenstein" (1971) setzte er die Tradition der politischen Biografie fort, die nach dem Krieg in Misskredit geraten war. Nicht viel anders verhält es sich mit seiner "Deutschen Geschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts" (1958). Bitterli spricht treffend von "individualisierender politischer Geschichte".
Vieles, was damals als veraltet oder unwissenschaftlich galt und abgelehnt war, würde heute fröhliche postmoderne Zustimmung erfahren: Manns Bezeichnung der Historie als "Halbwissenschaft" (Kopfnicken von Peter Novick), die Inkludierung von fingierten Nachtträumen und damit der Poesie im "Wallenstein" (Applaus von Hayden White), Manns Selbstcharakterisierung als "Erzähler", "Schilderer", Schriftsteller und Literat, der einen Gegensatz zwischen wissenschaftlich-analytischer und literarisch-narrativer Schreibweise ablehnt (begeisterte Hochrufe von Rudolf Burger).
Wir brauchen auch heute mehr Golo Manns: Selbstdenker gerade in der Wissenschaft, die den Mut aufbringen, gegen herrschende Meinungen, Zeitgeist und Modetrends aufzubegehren und damit ein Stück Freiheit zu verwirklichen.
Golo Mann - Instanz und AuSSenseiter
Eine Biografie von Urs Bitterli
Kindler Verlag, Berlin 2004
708 Seiten, mit Abb., geb., e 30,80
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