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Internationale Beziehungen

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Blühdorn hebt die Untersuchung über das Herzproblem unserer Gegenwart damit an, daß unser Geschlecht von der biologischen und von der geistigen Seite her betrachtet wird. Im von tierischen Vorfahren aus unvordenklichen Urzeiten ererbten Verhalten gründen manche der Triebe, die vom vernunftbegabten Menschen so schwer zu überwinden sind. Selbsterhaltungswille, der vom Ich auf die blutmäßig und räumlich Nächsten ausstrahlt, Kampfbereitschaft, die öfter als offensive Verteidigung gegen wirkliche oder vermeinte Gefahren zu bewerten ist denn als echte Angriffslust, sind das stärkste Vermächtnis des Instinkts, des Tierischen im Leibseele-Wesen Mensch. Noch in den animalischen Bezirk gehören der Besitzwille, der Tätigkeitsdrang, der Nachahmungs- und Wiederholungstrieb, der Hang zur Gemeinschaft, der Zwang der Zahlreicheren und Schwächeren, sich Wenigen, doch Klügeren und Stärkeren zu unterordnen.

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Blühdorn hebt die Untersuchung über das Herzproblem unserer Gegenwart damit an, daß unser Geschlecht von der biologischen und von der geistigen Seite her betrachtet wird. Im von tierischen Vorfahren aus unvordenklichen Urzeiten ererbten Verhalten gründen manche der Triebe, die vom vernunftbegabten Menschen so schwer zu überwinden sind. Selbsterhaltungswille, der vom Ich auf die blutmäßig und räumlich Nächsten ausstrahlt, Kampfbereitschaft, die öfter als offensive Verteidigung gegen wirkliche oder vermeinte Gefahren zu bewerten ist denn als echte Angriffslust, sind das stärkste Vermächtnis des Instinkts, des Tierischen im Leibseele-Wesen Mensch. Noch in den animalischen Bezirk gehören der Besitzwille, der Tätigkeitsdrang, der Nachahmungs- und Wiederholungstrieb, der Hang zur Gemeinschaft, der Zwang der Zahlreicheren und Schwächeren, sich Wenigen, doch Klügeren und Stärkeren zu unterordnen.

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Trieb, Gedanken, Erfahrung, Wissen, Religion, Geschichte, Doktrinen, Dichtung (von ihr hat merkwürdigerweise Blühdorn nichts erwähnt), Ahnung und Mahnung, holder und unholder Wahn: das alles bringt der einzelne mit, wenn er als „Zoon politi- kon“, als soziales Wesen, in den Staat sich einfügt. Er findet hier Sicherheit, doch um den Preis des Verzichts auf einen Teil der Freiheit. — Das Dilemma, ob man lieber größere Freiheit auf Kosten der Sicherheit oder mehr Sicherheit auf Kosten der Freiheit wünschen soll, stellt sich immer wieder, und es spielt eine beachtliche Rolle bei den internationalen Beziehungen von heute wie bei der Schicksalsfrage, die von Blühdorn erörtert wird. — In seiner, ihm von Kindheit an selbstverständlich und allein-

verständlich gewordenen Umwelt fühlt sich der Mensch normalerweise am ehesten geborgen und wohl. Da ist das Leben so, wie es der Natur entspricht, mag auch noch soviel daran abändemswert sein. Zum mindesten kann man mit den Leuten reden, man hat mit ihnen die Sprache gemeinsam und — was oft noch mehr ist — den Schatz an Alltagserfahrungen (deren von der Geburt bis zur Selbständigkeit erworbene Gesamtheit der Verfasser als die Kultur bezeichnet). Das trifft zu: Tschechen, Deutsche und Juden in Prag mochten einander noch so wenig geliebt haben, sie gingen auf demselben Korso spazieren, saßen in den Kaffeehäusern, kauften ihre Rauchwaren in Trafiken, aßen Powidltascherln und ergötzten sich am barocken Reiz ihrer Stadt, obzwar sie miteinander im Sprachstreit lagen. Und im Grunde ist die Atmosphäre die gleiche bei den tschechischen Dichtern Jiräsek und Durych, wie bei den deutschen Strobl und Meyrinck oder beim jüdischen Brod. Die Kultur, die Erfahrungsgemeinschaft verbinden stärker als Sprache, Rasse (und, tritt sie tragisch im Gegensatz zu ihm, als der Staat). Mit Recht behauptet Blühdorn, es könne keine internationale Kultur geben, nur eine raumgebundene. Doch nun läßt er einen seiner blendenden Einfälle aufleuchten. So wie das Kind, verwehrt man ihm die natürlichen, von ihm triebhaft erwarteten Gaben einer Klein-Umwelt, in der es sich behaglich fühlt, „frustriert“ wird, sich betrogen empfindet und greint, so grollen einzelne und Gruppen, wenn ihre Erwartungen enttäuscht werden. Sie suchen dann nachden „Schuldigen", den „Sündenböcken“. Und wiederum dem Kinde ähnlich, das im Zorn den erstbesten Gegenstand ergreift und an ihm seinen Grimm usläßt, dabei aber, je älter es ist, um so vorsichtiger darauf achtet, ein zum Widerstand unfähiges Opfer zu ergreifen, so wendet sich die Wut der Individuen und der Massen gegen Minderheiten. Vornehmlich gegen vom Schicksal physisch, geistig und finanziell begünstigte, die sich zudem in ihrer Artung von den breiten Schichten unterscheiden: gegen die Aristokraten unter der Französischen Revolution, gegen die Pfaffen, gegen die Juden, gegen die Reichen, die „Bourgeois". Dabei arbeitet die vereinfachende, kochende Volksseele, zumal wenn sie durch Propaganda entsprechend belehrt ist, in Klischees, sie macht innerhalb der Sündenböcke keine Unterschiede; alle sind gleichermaßen schuldig. Fehlt es aber an geeigneten Opfern im Lande, dann kehrt sich die Wut gegen die Teufel jenseits der Grenzen, gegen die von der Tyrannei entsandten Sklaven, die nahen, um unsere Söhne, unsere Gefährtinnen zu erwürgen. Und da gibt es keine andere Lösung als „Jeder Schuß ein Ruß, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt, ein Brit“ oder auch „Tod den Faschisten, Freiheit fürs Volk" ... Wir bewegen uns eben da im Gebiet der Massenpsychologie, die aus Weibern Hyänen, aus Männern aber, die einzeln Lämmer gewesen waren, blutrünstige Tiger zu machen weiß. Symbole strahlen hehr voran, die Propaganda brüllt ihre ehernen Totschlagworte, sekundiert von Rundfunk, Presse und anderen Helfern des Nachrichtenwesens. Und kaum einer hat den Mut oder auch nur die Einsicht, der Verblödungsmaschine in leichter Abwandlung eines so friedlichverbindlichen Satzes zuzurufen: „Wir werden keinen Nach-Richter brauchen“ ...

Blühdom, beileibe kein Illusionist, meint dennoch, daß sich der Friedenswille der „überwältigendenden Mehrheit der Menschen“ heute eher Geltung verschaffen werde als zuvor. Kein zweites Buch zeigt mit gleicher Klarheit, daß noch immer nicht etwa wie Clausewitz meint, „der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist, sondern daß wir in der Politik die „Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“ zu erblicken haben. Schade, daß sich der Autor diese Formulierung entgehen ließ. Doch als Leitmotiv bleibt Clausewitz' umgekehrte These Leitmotiv des dritten, das Werk krönenden Teils der „Internationalen Beziehungen". Seufzend stellt Blühdom fest, daß ungeachtet aller bisherigen Bemühungen die „Racker von Staat" einer Friede wahrenden Organisation zu unterordnen, trotz Völkerbund und Vereinten Nationen, die reine Macht überall dort triumphiert, wo nicht blutmäßige (echte oder vermeinte I) und kulturelle Bande bestehen. Deshalb sei, der Wirklichkeit Rechnung tragend, die Macht wenigstens als Hüterin einer Ordnung und des Friedens zu gebrauchen. Auch der Krieg habe ja nur den vernünftigen Sinn besessen, daß er einen Ausweg aus einer gespannten, erschütterten Lage und zuletzt eine neue stabile Ordnung bescheren konnte. (Was man'etwa am Beispiel der Koslitioaskriege. gegen Napoleon und an der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongreß erhärten mag.) In unseren Tagen aber wäre ein Krieg sinnlos, denn er entfesselte nur das Chaos einer durch Kernbomben verwüsteten Mondlandschaft. Die Macht, die mehreren Hegemonien dank ihrem Vorrat an Monstermordwaffen eignet, und die Angst, die jeder dieser Giganten dennoch vor dem anderen spürt, sollten die Wahrung des Friedens fördern. Allerdings birgt die Angst auch Gefahren, daß sich die einer Ueberrumplung durch den Feind fürchtenden Gegner „nach vorne flüchten“ und in einer Art Psychose den verhängnisvollen Schritt des Präventivangriffs tun, den ihre Vernunft an sich verwürfe. Nichts wäre indessen verhängnisbringender, als in den konträren Irrtum zu verfallen und, aus lauter Friedensliebe, einseitig abzurüsten. Derlei verlockte nur den weiterhin Gerüsteten zum Zuschlägen.

Blühdom weiß sehr gut, daß die Staaten sich bis heute an keine moralischen Schranken gebunden fühlen, obzwar die Machthaber, stets die erhabensten Worte gebrauchend, nur für hohe Ideale in den Krieg ziehen, vorläufig in den kalten, und daß jeder Anwandlung sittlicher Betrachtensweise durch die brutale Tatsache eine Grenze gezogen ist: der Staat spricht seinem Dasein einen absoluten, den höchsten, ja den einzigen allgültigen Wert zu und eben diese Existenz soll, will, wird er gegebenenfalls mit jedem, auch dem verruchtesten Mittel verfechten.

Wäre es logische Folgerung aus diesem Tatbestand, daß man überall eine Weltanschauung zu verbreiten trachte, bei der dem Staat und dessen Dasein der absolute, höchste Wert geleugnet würde? Im Mittelalter hat es dazu einen Anlauf gegeben, als sich die einzelnen Machthaber, mindestens theoretisch, der Christenheit und deren geistlichem Oberhaupt, dem Papst, unterordneten. Gegenwärtig sucht man wieder nach allgemein anerkannten, überragenden Moralgesetzen und nach einer Autorität, die sie zu hüten berufen wäre. Sehr bescheidene Anfänge zu einer derartigen internationalen Ordnung haben wir im Haager Gerichtshof, im Völkerbund und in der UNO erhalten. Doch jedermann entsinnt sich der Hemmnisse, die einer durchgreifenden Wirksamkeit dieser Institutionen entgegenstehen. Das Vetorecht der Großmächte und andere formale Schwierigkeiten wirken sich weniger aus als die grundlegende Tatsache, daß — im Gegensatz zur Befehlsgewalt und zur hinter dieser harrenden Kraft, Urteile auszuführen, die den Staaten gegenüber ihren Bürgern zukommt — die UNO keine Exekutive besitzt, die den Beschlüssen der Vereinten Nationen gegenüber widerspenstigen Mitgliedern Durchführung verschaffen könnte. Trotzdem ist das bloße Vorhandensein der UNO, sei es auch nur als eines Begegnungsfeldes, friedensfördemd, gerade so wie das Völker-

recht samt seinen oft umstrittenen Satzungen die Willkürakte der Einzelstaaten erschwert. Aehnlich ist der Europarat als Vorstufe zu einer echten Einigung unseres Erdteils zu begrüßen. Stets aufs neue kehrt indessen das vordringlichste Problem wieder, das unmittelbar vor dem einer Befriedung durch Befriedigung zu lösen ist: das Verhältnis zwischen den USA und der UdSSR. Wiederum in leidenschaftsloser Würdigung der Sachverhalte nennt Blühdom die Gründe, aus denen diese beiden Weltmächte einander mißtrauen, warum sie einander nicht verstehen können. Und da bestätigt sich eine der mit strahlender Verstandeshelle erschauten Leitthesen des Verfassers. Nicht nur aus Mißtrauen oder aus Sorge um die eigene Sicherheit quillt der unablässig mit blutigem Ausbruch drohende Zustand des bald kälteren, bald laueren Krieges ohne Waffengebrauch. Die USA und die UdSSR glauben jede an ihre Mission, an ihre messianische Sendung, an das Recht und an die Pflicht, ihre Lebensart, ihre Kultur in der gesamten Welt zu verbreiten, mag dies noch so oft geleugnet werden. Und beide Wissen — glücklicherweise —, „daß die Anwendung von Macht nicht mehr imstande ist, das Ueberleben der Staaten zu sichern". Darum nochmals die Folgerung: ein Nebeneinander, ein Miteinander ohne Entscheidung.

So weit, so gut ... Doch Blühdom macht mit Recht diese Symbiose davon abhängig, daß niemand an sie mit Hintergedanken herantritt. Zweifellos haben „die in diesem Buche durchgeführten Untersuchungen ergeben, daß den Völkern, wenn sie nur ernstlich wollen, der Weg zu einer besseren Zukunft offen bleibt“.

Wie dem auch sei, Blühdoms Werk ist ein wohlgelungener, großer Wurf, ein eigenständiger, wegeweisender Beitrag zur brennendsten Frage unserer Zeit. Es wäre unbillig, da mit Einzelkritik aufzuwarten. Auf Lücken im Literaturverzeichnis (zum Beispiel Carrel, Hagemann, Numelin, Schmid-Rohr). hinzuweisen, auf ein Mussolini zugeschriebenes Bismarck-Zitat, auf die zumindest für die Schweiz, die alte polnische Rzeczpospolita, die italienischen Stadtstaaten und Skandinavien nicht zutreffende Ansicht, der Wunsch nach politischer Freiheit (des Individuums) sei erst seit der Französischen Revolution und dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg entstanden: das beeinträchtigt wahrlich nicht den Gesamtwert eines Buches, in dem abgeklärte Weisheit sich mit jugendfrischer Zukunftshoffnung paart und wo die untragbare Einsicht in die Gegebenheiten des Seins nicht den Blick für das sittliche Sollen trübt.

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