6780507-1969_41_14.jpg
Digital In Arbeit

Interview mit Misdia

Werbung
Werbung
Werbung

Die Begegnung mit Mladen hat in mir einen richtigen Schock ausgelöst. Sie müssen nämlich wissen, daß ich ihn seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen habe. Als ich ihn das letzte Mal sah, ich glaube, er kam gerade von Bogdan, den ich besuchen wollte, und stieg eilig die Treppe herunter, war er eben dabei, den Widerstand zu organisieren. Wir tauschten auf der Treppe, er an die Wand gelehnt, ich ans Geländer, ein paar Höflichkeiten. Ich wollte ihn überreden, einige französische Gedichte zu übersetzen, für eine Anthologie französischer Lyrik, die ich für die Zeit nach dem Krieg vorbereitete, aber er hatte keine Zeit. Ich beneidete ihn darum. Ja, ich beneidete ihn, weil er keine Zeit für Literatur hatte, weil er mitten im Leben stand und einer Arbeit nachging, die mir versagt war. Ich war krank. Seitdem ich mich kenne, war ich immer so krank, daß ich den Großteil meines Lebens im Bett verbringen mußte. Er hingegen konnte herumgehen, soviel er wollte, er konnte tätig sein, während ich dalag, durchs Fenster auf eine Baumkrone und auf das rostige Dach des Hauses gegenüber starrte und nachdachte.

Auch während meiner kurzen Aufenthalte unter Menschen war ich immer nur ein Beobachter, weil meine Krankheit mich zu langsamem Gang und bedächtigen Bewegungen zwang; Mladen aber war für mich seit jeher die Verkörperung von Vitalität und Aktivität. Daher der Schock, als ich ihn nach vielen Jahren wiedersah. Er war auf einmal unbeweglich und wirkte irgendwie ausgebrannt, ja, das ist der richtige Ausdruck für seinen Zustand. Er machte auf mich den Eindruck einer ausgebomtoten Ruine, wie man sie während des letzten Krieges und eine geraume Zeit danach überall sehen konnte. Ja, genauso war er. Ich habe lange darüber nachgedaeht. Ich habe mich vor allem gefragt, worauf dieser Eindruck zurückzuführen war. Vielleicht tue ich Mladen unrecht. Er hat ja ziemlich viel getrunken, und nach einer durchzechten Nacht sieht jedes Gesicht aus wie eine verwüstete Landschaft. Aber nicht das hat mich schockiert. Die Verwüstung ging viel tiefer.

Ich werfe den Kommunisten nicht vor, hat er mir im Laufe dieser Nacht einmal gesagt, daß sie die Besitzenden enteignet haben —das war ja der Sinn ihrer Revolution — oder daß sie ihre hartnäckigen Gegner über den Haufen geschossen haben — die sind ja auch nicht zimperlich mit den Kommunisten umgegangen —, ich werfe ihnen auch nicht vor, daß sie ihre eigenen Leute eingesperrt oder umgebracht haben — das scheint das Gesetz der Revolution zu sein —, ich kann aber nicht Zusehen, wie sie alle übrigen Menschen, also die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, zur Lüge, zur Verstellung, zur Doppelzüngigkeit zwingen, genauso wie jeder andere Staat. — Sie machen aus ihnen lauter Affen und Papageien, die aus Angst, ihr Futter nicht mehr zu bekommen, Immer wieder die gleichen Phrasen dreschen.

Der gute Mladen weinte so über die seelische Verkrüppelung der Menschen unter dem Druck des kommunistischen Apparats. Was hat er denn geglaubt? Daß es vollkommen genügt, eine herrschende Schicht zu stürzen und ihren Staat zu zertrümmern, um aus den Menschen lauter Emgel zu machen, die keine Habgier, keinen Neid und keine Eifersucht kennen? Er kann doch nicht so naiv gewesen sein! Aber ja. Er war tatsächlich so naiv.

Ich erinnere mich gut an seine revolutionären Anfänge. Ich habe früh angefangen, ihn zu beobachten. Wir gingen in dasselbe Gymnasium. Ich war, glaube ich, in der sechsten und Mladen in der fünften Klasse, als er mir das erste Mal auffiel. Da las er an einer unserer literarischen Matineen ein Gedicht in Prosa, das den Titel trug: „Die weiße Stadt.” Es war nach außen hin ein leicht euphorisches Hohelied auf unsere Stadt. Sie werden sicherlich wissen, daß Beograd eigentlich „weiße Stadt” bedeutet. Für Mladen aber war diese Stadt nicht irgendein Gebilde aus lichtüberfluteten Mauern und Steinen, sondern die Bruderschaft aller Menschen, also eine etwas naive Utopie, der man nahekommen kann, wenn auch selten, in kleinem Rahmen und nur für Augenblicke: er hatte sich aber offenbar in den Kopf gesetzt, sie zu verwirklichen. Zusammen mit einigen Freunden aus seiner Klasse organisierte er, wahrscheinlich auf Grund persönlicher Sympathien und Neigungen — man hat einander sozusagen gerochen — eine Art Diskutierklub. Diese jungen Burschen nahmen sich unter dem Einfluß der alten Anarchisten Proudhon und Bakunin vor, die Welt zu verbessern. Abgesehen von ihrem weitgesteckten Ziel gelang es ihnen, die ganze Klasse zu einer beinahe idealen Gemeinschaft umzuformen. Ja, sie waren unter Umständen bereit, der ganzen Welt zu trotzen. Vielleicht schwebte ihnen auch eine frühchristliche Gemeinde vor, wer weiß? So organisierten sie zum Beispiel Nachhilfeunterricht für zurückgebliebene Kameraden und finanzielle Hilfe für die Armen. Sie gaben eine handgeschriebene und handgezeichnete Zeitschrift heraus, die von jedem Schüler der Klasse gelesen wurde. Damals wußte Mladen, für wen er schrieb. Ich beneidete ihn darum. Aber dann kam Woja. dieser hinkende Bote der Kommunistischen Partei. Mit sicherem Instinkt spürte er diese Gemeinschaft auf und spannte ihre aktivsten Mitglieder für die Zwecke seiner Ideologie ein. So wurde Mladen reine Utopie der wechselnden Taktik einer weltweiten politischen Bewegung untergeordnet, einer harten Prüfung ausgesetzt, der sie nicht standhalten konnte. Solange es noch um den Kampf gegen den Faschismus ging, war alles in Ordnung, als aber die Sowjetunion einen Pakt mit Hitler- deutschland schloß, wurde Mladen als Trotzkist aus den Reihen der kommunistischen Jugend ausgestoßen. Er konnte sich mit dieser Geschichte nicht abfindÄu Als Ausgestoßener hatte er wenig Kontakt mit seinen alten Freunden, und so kam er zu dieser Zeit öfter mit mir zusammen. Ich gehörte weder der einen noch der anderen Seite an, ich war nur ein Beobachter. So habe ich zum Beispiel gesehen, was es heißt, aus einer Gruppe.

Daß Julius Raab ein wirklicher Staatsmann von Format war, bedarf keines Beweises mehr. Zur Politik gehört aber auch die Taktik, und von Raabs Taktik soll der nachfolgende Bericht erzählen.

Als Chruschtschew im Jahre 1959 seinen offiziellen Staatsbesuch in ausgestoßen zu sein. Mladen wirkte wie ein Kranker. Ihm fehlte das einzigartige Gefühl, von einer Gemeinschaft getragen zu werden. Ich habe dieses Gefühl nie richtig gekannt. Ich war als Kranker mein Leben lang ein Außenseiter. Der Mensch braucht anscheinend ein Zugehörigkeitsgefühl, um leben zu können. Er muß neben seinem Namen noch ein nationales, soziales oder berufliches Etikett an- oder umgehängt bekommen, um überhaupt jemand zu sein. Ich war ein paarmal in einem Sanatorium für Lungenkranke, ich habe mich aber nie mit den anderen Kranken solidarisch gefühlt, denn ich hasse jede Krankheit, besonders meine eigene. Aber die Menschen kommen offenbar ohne irgendeine Krankheit nicht aus. Mladen ist jedenfalls zu Kreuz gekrochen, um wieder in die Gemeinschaft der Aktivisten aufgenommen zu werden. Ich weiß nicht, wie oft er noch zu Kreuz gekrochen ist, ehe er sich endgültig von jenen Leuten losgesagt hat. Vielleicht hätte er sich nie von ihnen losgesagt, hätte man ihn nicht mit Gewalt von ihnen getrennt, ich meine, hätte man ihn nicht nach Wien deportiert. Hätte man ihn nicht weggebracht, dann hätten ihn vielleicht seine eigenen Freunde beseitigt, wenn es ihm eines Tages zu dumm geworden wäre, zu Kreuz zu kriechen. Er war aber in einem anderen Land. Vielleicht hat er dort in der Fremde erst richtig eingesehen, wieviel eine Gemeinschaft überhaupt wert ist. Vielleicht hat er dort erst recht von der „weißen Stadt” geträumt, die er dann nicht so strahlend Weiß, sondern recht grau vorgefunden hat. Es ist also gar nicht gut, viel zu träumen. Da haben es die sogenannten Realisten, die Praktiker der Macht, viel leichter. Selbst wenn sie erkennen, daß an der Sache etwas nicht stimmt, flüchten sie, anstatt zum Rückzug zu blasen, in Berge von Arbeit, durch die sie sich wie Würmer durchfressen, langsam, aber beharrlich. So kommen sie nicht dazu, über ihr Debakel nachzudenken. Aber ich gehe, fürchte ich, zu weit. Wir haben doch nur von’ dem Eindruck gesprochen, den Mladen bei unserer zufälligen Begegnung nach so vielen Jahren auf mich gemacht hat. Es hat mich ganz einfach frappiert, daß aus einem revolutionären Aktivisten plötzlich ein etwas müder Beobachter geworden ist. Vielleicht werden wir aber mit der Zeit alle Beobachter, falls man uns nicht schon in jungen Jahren das Lebenslicht auslösch’t.

Aus „Die weiße Stadt’, erschienen bei Hoffmann und Campe.

Österreich machte, war im Programm auch eine für drei Tage aniberaumte Rundfahrt durch die österreichischen Bundesländer vorgesehen. Sie fand im Anschluß an die offiziellen Ge spräche in Wien statt, bei denen es unter anderem auch um den österreichischen Wunsch gegangen war, von den nach dem Staatsvertrag noch ausständigen Öllieferungen Österreichs an die Sowjetunion eine Reduzierung um eine halbe Million Tonnen zu erreichen. Chruschtschew lehnte in den Verhandlungen diesen von Raab immer wieder vorgetragenen Antrag kategorisch ab. Während man sich in allen anderen Dingen relativ rasch geeinigt hatte, blieb dieser Verhandlungspunkt bis zum Antritt der Rundfahrt durch die Bundesländer unerledigt. Der Bundeskanzler erklärte uns, daß er, der Chruschtschew auf dieser Reise zu begleiten hatte, keine Gelegenheit versäumen werde, immer wieder darauf zu sprechen zu kommen. Das hat sich nun, wie uns Raab nachher berichtete, in der Form abgespielt, daß er am Abend des ersten Reisetages beim Abendessen die österreichische Bitte dem sowjetischen Gast vortrug, worauf dieser den Bundeskanzler einlud, die Sache nach dem Abendessen bei ihm, im Appartement Chruschtschows, zu besprechen. Die Besprechung fand statt und hatte dasselbe Ergebnis wie bisher, nämlich keines. Das Spiel wiederholte sich am zweiten Abend in derselben Form. Wieder schnitt der Bundeskanzler die Frage beim Abendessen an: wieder lud ihn Chruschtschow zu sich zu einer Besprechung, und wiederum war sie erfolglos.

Am dritten und letzten Abend der Rundfahrt durch die Bundesländer begann es in gleicher Weise. Julius Raab machte seinen Gast darauf aufmerksam, daß nicht mehr viel Zeit zur Lösung dieses Problems sei, und wiederum erfolgte die gleiche Einladung Ohruschtschews wie an den beiden vorangegangenen Abenden. Nun aber war die Antwort des Bundeskanzlers eine andere. Sie lautete ungefähr so: „Nein, Herr Ministerpräsident, jetzt war ich schon zweimal vergebens bei Ihnen, ohne Erfolg zu haben. Wenn ich heute wiederum zu Ihnen in Ihr Zimmer komme, befürchte ich dasselbe Ergebnis. Kommen Sie doch heute einmal zu mir.” Und Chruschtschew kam. Eine halbe Stunde später ließ Raab nach Wien telephonieren: „Die Öllieferungen sind um 500.000 Tonnen reduziert!”

Das besagt nun nicht, daß es allein die Vorgangsweise Raabs war, die diesen Erfolg brachte, aber sie hat unzweifelhaft dazu beigetragen. Wie es ja auch Raab war, der lange vor dem Staatsvertrag seinen berühmten Ausspruch getan hat: „Man möge den russischen Bären nicht dauernd in den Schwanz zwicken.” Das Gefühl, wie man als Kleiner und Schwacher einem Starken und Mächtigen entgegentreten muß, um Erfolg zu haben, war eines der vielen Elemente von Raabs Staatskunst.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung