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Introitus

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.Er ist hingerichtet worden, nicht lange vor dem Ende. Er war Karmeliter." Der Professor sagte es zu dem Gast, der sich von ihm erzählen lassen wollte, wie die kleine Stadt, aus der er stammte, die Kriegsjahre überstanden hatte, in denen er im Ausland war. Er erinnerte sich nur mehr an den Namen des Priesters und hatte ihn, fast beiläufig, wie es scheinen mochte, im Gespräch erwähnt.

Seine Welt sind noch Haus und Garten, seine Eltern und Geschwister, die Hunde, die Köchin aus Mähren, die Mädchen, der Gärtner, das Fräulein. Auch die Besuche? Der Herr Pfarrer vielleicht, die Frau Pfarrer, der Herr Vikar, die Bettler, die Kohlenmänner, der Herr Doktor? Haus und Garten sind sehr groß, wenn man noch nicht in die Schule geht, wenn die Hunde auf den rückwärtigen Wiesen weiter tollen, obwohl man ihnen pfeift, und man deshalb auch nichts zu hören braucht, wenn das Fräulein von der Terrasse her nach einem ruft. Die Akazien vor dem Zaun sind so dicht, daß man das Heim der Roten Falken nicht sieht, und die Kirschbäume verdecken Kindern, die erst bis zur Türklinke reichen, auch die neue Josephskirche.

.Höchstens einmal hin und her“, sagt das Fräulein, wenn man draußen Rollerfahren will, weil das doch auf den weißen Kieswegen' nicht geht, und weil große Leute Kopfschmerzen bekommen, wenn man es auf der Terrasse versucht, die ohnehin viel zu klein ist. Höchstens dreimal fährt man dann hin und her, hat also keine Zeit für die Allee oder den Fußballplatz jenseits des Baches, auch nicht für die Leute, denen man ausweichen muß. Grüßen muß man sie nur Samstag. Das heißt, wenn sie den Vater grüßen, der mit den Kindern spazieren geht. Der kennt die meisten nicht, wie er sagt, es genügte also, zu grüßen. Es genügte überhaupt, denn Kinder waren fast nie dabei, sondern Männer mit Hüten oder Männer mit Frauen, auch mit Hüten, ineinander eingehängt, wie die Urgroßeltern auf dem Bild, sonst aber kein Mensch im Haus. Bestimmt nicht die Eltern. Die waren wie man selbst: jeder für sich allein und manchmal Hand in Hand. Mit einem einzigen Unterschied: selber mußte man einander halten, um schneller und sicherer von den Spielen ins Haus zu laufen, das nie so weit weg war wie abends. Sie aber waren doch da, waren überhaupt nicht im finsteren Garten, sondern standen auf der Terrasse und hatten nur ein paar Schritte hinein, wo überall Licht war, vom Eßzimmer, von der Küche, von der Diele, zumindest vom Kamin.

.Laß ihr den Roller. Du bist langsam zu groß für ihn." So hatte die Mama es dem Fräulein nachgesagt. Das Kind lehnte am Einfahrtstor und schaute nach seiner kleinen Schwester aus. Die mußte längst dreimal hin und her gefahren sein, aber sie blieb verschwunden. .Sie bekommt alles", dachte das Kind. .So ist es immer. Sie weint, sie hat blonde Locken. Sie kann fahren, so lange sie will, und nachher sagt das Fräulein kein Wort, sondern bürstet die Locken Nur Brüder möchte ich. Brüder mit Taschenmessern mit drei Klingen. Brüder, die Baukästen haben und nie Federball spielen müssen." Und eine Weile später, als das Fräulein am Küchenfenster erscheint: „Sie kann mich nicht sehen. Ich bin dünner als der Pfeiler. Sie sieht alles, wenn man nah ist, aber durch den Pfeiler sieht sie gar nichts."

Als der Mann mit dem braunen Kleid sein Fahrrad von der Allee zu ihm schiebt, hat das Kind die kleine Schwester und das Fräulein vergessen.

„Ich heiße Pater Paulus", sagt der Mann. „Wohnst du da?"

„Ja", sagt das Kind. Es steht gerade da, den Rücken an den warmen Stein gepreßt. „Ein Damenfahrrad", denkt es und schiebt die Unterlippe vor. „Nur Damen fahren Damenfahrrad mit Netz", hatte der Ferdi bei den Mistbeeten kürzlich erklärt. „Ja", sagt es dann noch einmal lauter. „Wir wohnen alle da. Aber meine kleine Schwester hat meinen Roller und kommt einfach nicht zurück."

Der Mann fährt nicht weg. Ihm macht das Fräulein am Küchenfenster nichts aus. Er weiß auch nicht, daß Kinder mit niemandem draußen sprechen sollen. Er versteht auch nichts von Rollern. Denn er sagt:

„Ich möchte' gerne von euren schönen Rosen ein paar haben. Für die Muttergottes in St. Joseph."

Ich laufe weg, denkt das Kind, und seine Augenbrauen sind ein einziger Querstrich. Ich muß hinein. Das sind doch der Mama ihre Rosen. Nicht einmal der Ferdi darf sie abschneiden. Aber weglaufen kann man nicht so einfach.

„Sie müssen beim Gärtnerhaus läuten“, sagt es deshalb. „Dort ist alles voll von Blumen. Der Ferdi gibt Ihnen einen Korb voll. Es ist nur ein paar Minuten him Die Tür ist offen. Sie wird nie zugesperrt." Es kratzte an seiner alten Wunde am Knie und spürte, wie es rot wurde. Böse, nannte es das Fräulein. Rot und böse also, weil der Mann alles nicht verstehen würde. Und richtig:

„Nein", sagt er. „Nein, ich brauche keinen Korb voll Blumen. Schenk du mir eine Rose oder zwei oder drei, für die Muttergottes von St. Joseph. Du sollst sie mir schenken!"

Das Kind schaute ihn unter seinen schwarzen Augenbrauen lange an. Er verstand nichts. Aber er brauchte Mamas Rosen. Mit einer plötzlichen heftigen Bewegung ging es den einen Schritt auf ihn zu, zog ihn am Ärmel seines braunen Kleides zu sich herunter und flüsterte schnell, fast ohne Stimme:

„Fahren Sie weg! Ich komme schon. Aber erst in der Nacht.“

Dann riß es die kleine Gartentür auf und rannte mit seinen dünnen, blau- bestrumpften Beinen auf das Fräulein zu, das vor das Haus getreten war. So merkte es nichts davon, daß der Mann lachte und kopfschüttelnd auf sein Rad stieg.

„Hilf mir Segel machen, für das Boot! Willst du?" Die Mama sagte es, als das Kind atemlos ins Zimmer kam. Ein fertiges Boot lag auf dem Tisch neben Mamas Schnitzmessern. Das Brüderchen wollte schon lange eines haben für das Entenbassin. „Rote Segel aus dem alten Taschentuch."

„Ich muß in der Nacht fort“, sagte das Kind, statt einer Antwort, so daß seine Mutter wieder einmal dachte, wie schwierig und aufregend es sei, in diesem hellen Haus mit den vielen bunten Teppichen und der Terrasse ein Kind mit so schwarzen Augenbrauen zu haben, die es weit und breit sonst nicht gab, nicht einmal auf dem Doppelporträt der komischen Vorfahren, wo er eine Rose in der Hand hält, und sie, in himmelblauer Krinoline und Schmetterlingen in der Coiffure, Zirkel und Dreieck in den rosigen Fingern. Aber man gewöhnte sich schon. Sie hatte heiße Wangen nach der eiligen Schnitzerei, zum Lachen ähnlich dem Söhnchen, das neben ihr stand. So fragte sie vorsichtig:

„Wie spät ist das ,in der Nacht'?“ und

schnitt dabei dreieckige Stücke aus dem roten Tuch.

„Vielleicht sieben?" meinte das Kind unentschlossen. „Aber es kommt noch etwas Du mußt .vorher Ja' sagen (was ungefähr .Blankoscheck' hieß).“

Die Mutter sagte .vorher Ja'. Denn sie konnte Segelboote für Buben schnitzen und Geschichten erzählen, so viel man wollte. Sie wußte und konnte einfach alles, außer sich das Gähnen bei den Frühandachten abgewöhnen und bei den Soupers für die Geschäftsfreunde ihres Mannes. Sie schnitt selbst einen Strauß ihrer gelben und weißen Rosen ab, putzte die Stengel, band sie mit Bast zusammen, und hatte das Kind in dem Augenblick vergessen, als sie das Fräulein mit seiner immer vorwurfsvollen Stimme — der gleichen, die es für die Kinder hatte — daran erinnerte, daß sie sich für einen Besuch umziehen müßte und es dafür höchste Zeit wäre.

Das Kind aber ging und lief abwechselnd die hohen Holzzäune des Gartens

und dann den Bach entlang zur Kirche. Es sah den Mann gleich, der, halb verdeckt von den noch herumliegenden Brettern des Baugerüsts, dabei war, eine Ringelblumenrabatte anzulegen.

„So schnell", sagte er freundlich, anscheinend gar nicht überrascht, und wischte sich die Hände in einer alten Schürze ab. „Wollen wir sie gleich hineintragen, deine Rosen? Warst du überhaupt schon in unserer Kirche?"

Das Kind schüttelte den Kopf. Es war noch nie in einer Kirche gewesen. Die mährische Rosa wollte es einmal mitnehmen, als die Eltern verreist waren, aber das Fräulein hatte es verboten.

Es packte die Hand des Mannes und sie betraten die Kirche. Vor einer Frau mit einem Kind blieben sie stehen und der Mann steckte die Rosen in ein Glas.

„Kannst du das Ave-Maria beten?" fragte er.

Das Kind schüttelte wieder den Kopf.

„Das Vaterunser", sagte es. „Aber es ist länger als das von Rosa. ,Müde bin ich, geh zur Ruh' und ,So nimm denn

meine Hande'. Sonst nichts. Keinen Psalm. Was den Papa ärgert bei der Morgenandacht. Aber auch die Mama kann keinen Psalm, glaube ich. Das Brüderchen schon gar nicht. Nur das Fräulein und die Mädchen können das. Weil sie aus Gosau sind, sagt die Rosa."

Der Mann schwieg eine Weile und dann sagte er nur: „Ach so." Und wieder nach einer Weile: „Willst du alles anschauen?"

„Ja", sagte das Kind, das seine Hand die ganze Zeit nicht losgelassen hatte. „Aber Sie müssen mich heben; ich bin zu klein für die Gesichter.“

„Das ist der heilige Joseph", sagte er vor einem Mann, der wie er selbst angezogen war, und der ein großes Jesuskind auf dem Arm hielt.

„Er hat einen Bart wie der Herr General", dachte das Kind erschrocken. Und sagte: „Weiter, weiter."

Am schönsten war eine Frau mit einem Kreuz und Rosen, die lächelte.

„Sie ist schön", sagte cĮas Kind.

„Sie ist meine große Schwester", sagte der Mann. '

Als sie alles angeschaut hatten, setzten sie sich auf die Stufen, vor einer kleinen Tür, die aber auch in die Kirche führte, und das Kind erzählte dem Mann von daheim. Dann ging es langsam nach Hause.

„Bete für mich", hatte der Mann gesagt.

„Ich bin ein Mönch“, hatte der Mann gesagt. „Ich wohne hier." Und: „Nein, ich habe keine Kinder.“ Aber er wollte es daheim nicht besuchen, obwohl es ihm sagte, daß sie daheim drei wären, und daß sich der Papa freuen würde, weil er immer nur dann lache, wenn große Leute auf Besuch kämen. Nein, das Kind solle ihn besuchen, hatte er darauf gesagt, und es solle für ihn beten.

Er wußte nicht, daß das schwer war. Mama betete mit den Kindern. Mit den Schwestern Zuerst, mit dem Brüderchen nebenan im blauen Zimmer dann. „Müde bin ich." Dann für alle Verwandten. Dann für die armen Kinder ohne Eltern. Und dann mußte man warten, bis es finster war, und dann, bis die Kleinen schliefen und dann konnte man gerade noch sagen: „An den Pater Paulus soll ich dich erinnern, von der Josephskirche", und dann schlief man auch schon.

Das Kind ging in jenem Sommer noch oft nach St. Joseph. Es schlüpfte beim Gärtnerhaus durch die nie versperrte Tür auf den Bachweg ünd war dann gleich drüben. Es half bei den Rabatten mit seiner kleinen Gießkanne und gab in die Gläser vor der Muttergottes und der Dame mit dem Kreuz und mit den Rosen frisches Wasser. Es konnte von daheim erzählen, von Papa, den der Pater Paulus von den Sammlungen für die Kirche kannte. Es erzählte ihm, daß bald ein neues Geschwlsterchen käme, daß aber niemand wüßte, ob es nicht doch wieder nur eine Schwester werden Würde.

Ja, das ging so den ganzen Sommer. Bis ein paar Tage vor dem Schulbeginn.

Das Fräulein War mit dem Kind in die Stadt gegangen, und als sie auf der Promenade waren, da fuhr der Pater Paulus auf seinem Damenfahrrad mit Netz vorbei und Winkte zu dem Kind herüber, und das Fräülein merkte es natürlich gleich.

„Wer ist das?" fragte es kürz und blieb stehen und hob den Kopf des Kindes mit seinen kalten Fingern am Kinn zu sich hinauf.

„Er ist mein bester Freund", sagte es schnell, mit einem bösen Gesicht.

„Weiß es dein Vater?"

„Nein", antwortete das Kind, und dabei wußte es, das Fräulein würde es ihm verraten.

Der Papa hatte müde Augen, was man immer erst sah, wenn er die Brille herunternahm.

„Wer ist das?" fragte er, nachdem das Fräulein genau und mit einem strengen Gesicht wie beim Nägelschneidep alles erzählte.

„Er ist mein bester Freund", sagte das Kind wieder. „Er ist auch ein Freund von dir. Er kennt dich von den Sammlungen für St. Joseph. Ich besudle ihn immer. Er freut sich, weil ich ihm helfe. In der Kirche ist die Muttergottes und eine schöne Dame mit einem Kreuz und Rosen "

„Diese Besuche hören auf", sagte der Papa nur, und dann etwas Schlimmes zur

Mama, denn die stand auf, mitten im Essen, und ging in ihr Zimmer.

„Ich darf nicht mehr kommen“, sagte das Kind am nächsten Vormittag zu dem Mönch. Der schaute in sein blasses, braunes Gesicht und dann auf den Rosenkranz, den er von einer Hand in die andere gleiten ließ.

„Du wirst mir fehlen", sagte er. Und dann: „Aber man muß sich nicht unbedingt besuchen. Schau, du kannst auch deine Großmutter nicht besuchen, weil sie so weit weg ist, nicht wahr?“

Das Kind nickte stumm.

„Wenn dein Vater nicht will, daß du kommst, müssen wir ihm gehorchen, nicht wahr?“

Es nickte wieder.

„Er wäre traurig, wenn du es nicht tun würdest Und das willst du doch nicht!"

Es schüttelte den Kopf. Aber dann sagte es:

„Ja, aber wir sind trauriger als er.“

Dann nahm er es an der Hand und sie gingen noch einmal in die Kirche.

Ein paar Tage später kam das Kind in die Schule.

Zum Geburtstag bekam es ein Fahrrad.

Mit dem Fahrrad fuhr es oft an der Kirche vorbei, aber es sah ihn nicht. Einmal ging es in die Kirche, viel später, aber die war voll von Leuten, die sangen.

Nach Weihnachten bekam es eine Schwester.

Ein Jahr später wurde es sehr krank und blieb lange im Spital. Als die Schwester einmal ihr Gebetbuch vergessen hatte, fand es ein kleines Bild darin mit der Dame mit dem Kreuz und mit den Rosen. Darunter stand: „Heilige Theresia, bitte für uns."

„Wenn du gesund bist, laden wir deinen Pater Paulus ein", sagte die Mama

einmal. Aber als es soweit war, hatte sie es vergessen.

Auch das Kind hatte ihn lange vergessen. Zwar glaubte es ein einziges Mal, ihn in der Kirche vor einem Altar gesehen zu haben. Aber er war ganz verändert, in einem grünen Kleid mit Gold, und er drehte sich nicht um. Er war so fremd. Er schien so weit entfernt und nichts davon zu wissen, daß Haus und Garten zwar noch da lagen, ein weißes Haus in einem großen Garten, durch Akazien und Kirschbäume von draußen getrennt, so daß man das Heim der Roten Falken nicht sah, daß aber die Freundin in der Schule sagte: „Mein Vater ist arbeitslos ", daß die Spielgefährten des Bruders sagten: „Mit dir spielen wir nicht mehr. Wir sind Eisenbahnerkinder " Er schien nichts davon zu wissen, wie fremd alles war, seitdem die Lehrer „Sie“ sagten. Obwohl er allein es verstanden hätte, daß man in Religion zwar aufpaßte und alles lernte, die Lieder, die Psalmen, die schwierige Geschichte mit den Thesen und alle Namen, wie Worms und Augsburg und Wartburg und Wittenberg. Daß man auch die Kapitel aus den Paulus- briefen auswendig konnte, aber das eine, diesen Ersten Korinther dreizehn um keinen Preis aufgesagt hätte vor dem Vikar und den Buben und den Mädchen, ganz einfach, weil das zu schön war.

Zwar versuchte man, nach vielen Jahren, ihn Wieder Zu finden, um ihm zu schreiben, daß sie nun nichts mehr voneinander trennte, auch nicht der Krieg und die schlimmen Jahre. Und daß der Weg nicht schwer war, ja, nicht einmal weit für einen, der ihn schon einmal, so sanft geleitet, gegangen.

Aber Rosa aus Mähren war damals schon lange tot. Wer sonst aber hätte ihn gekannt und gefunden?

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