7100258-1995_09_01.jpg
Digital In Arbeit

„Irgendwann holt sie der Wahnsinn ein”

19451960198020002020

Österreich bietet den Uberlebenden des Holokaust in einem Therapiezentrum endlich psychische Hilfe an.

19451960198020002020

Österreich bietet den Uberlebenden des Holokaust in einem Therapiezentrum endlich psychische Hilfe an.

Werbung
Werbung
Werbung

Hans Weisz0 ist 67 Jahre alt. Wenn er von seinem Leben erzählt, spricht er von einem Alptraum. „Ich bin aus Auschwitz noch nicht nach. Hause gekommen”, beschreibt er resigniert seinen nunmehr 50) ährigen Kampf mit der Vergangenheit. Er war erst 13 Jahre alt, als er gemeinsam mit seiner sechsjährigen Schwester ins KZ eingeliefert wurde. 38 Monate verbrachte er in Hitlers Todeslagern, seine Schwester ”wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Die Mutter hat das nie verkraftet. 1954 nähme sie sich das lieben.

Hans Weisz war vor 50 Jahren eine jener ausgehungerten Gestalten, die mit ausdruckslosem Blick ins Leere starrten, die in schwarz-weiß-Do-kumentationen fassungsloses Kopfschütteln auslösen, die aber eben der Vergangenheit angehören. , Für Weisz ist es keineswegs Vergangenheit. Die Wunden des Vernichtungslagers machen ein normales Leben bis heute unmöglich; „Beschädigung des Stütz- und Gehapparats, Störungen des Verdauungstrakts, fortschreitende Erblindung”, heißt der Bericht des Arztes. Dazu kommen Schlaflosigkeit, Depressionen, Alpträume. „All das führt dazu, daß man sich abkapselt”, erklärt Weisz seine Isolation. Seine Frau Gertrud und die beiden inzwischen erwachsen gewordenen Kinder sind die einzigen Kontakte. Und der Alltag? „Um acht Uhr aufstehen, frühstücken, auf die Couch hinlegen und Badio hören. Das ist alles.”

Weisz ist kein Einzelfall. Viele 1 lolokaust-Überlebende sind jetzt noch von schweren psychischen Spätfolgen betroffen. Nervosität, Angst, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen und Depressionen sind die häufigsten Symptome.

Die Krankheit schlägt oft sehr spät zu und unerwartet. „Menschen, die im KZ gewesen sind und dort diese extreme Unterdrückung und Erniedrigung erlebt haben, leben oft jahrelang ohne irgendwelche Probleme. Und irgendwann holt sie dann plötzlich der Wahnsinn ein”, erklärt David Vyssoki.

Der Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut leitet derzeit gemeinsam mit Elvira Glück das erste und einzige österreichische Therapiezentrum für Holokaust-geschä-digte Menschen. „Wir versuchen hier eine Atmosphäre zu schaffen, wo man Zeit hat und sich fallen lassen kann, einen Ort, wo man offen darüber reden kann”, beschreibt Vyssoki die Prämissen des neuen Zentrums „ESBA”.

Zeit wird auch jener Mann brauchen, der sich vor wenigen Wochen verzweifelt an Vyssoki wandte: Er hat sein ganzes Leben lang Deutsch gesprochen.

„Plötzlich stand er da und konnte nur mehr jiddisch reden”, erzählt der Psychiater.

Nicht nur Überlebende finden hier Verständnis, sondern auch deren Kinder. Auch sie leiden an der Vergangenheit ihrer Eltern. Eine Beihe von Studien Koro Nkwrki.a über die sogenannte „zweite Generation” zeigte, daß die Depressionen und Ängste der Eltern oft an die Kinder weitergegeben werden. Glück und Vyssoki sind selbst Kinder von KZ-Opfern.

Der Ansturm auf das erst im November 1994 eröffnete Zentrum der Israelitischen Kultusgemeinde in der Tempelgasse 5A im zweiten Wiener Gemeindebezirk ist groß. 50 Jah/e nach Kriegsende erklärte sich die Stadt Wien doch noch bereit, eine derartige Initiative zu finanzieren. Osterreich ist damit eines der letzten Länder, das seinen Holokaust-Opfern psychische ■Hilfe anbietet.

„Für Österreich ist das wirklich eine Schande. Es war doch nicht unbekannt, daß die Menschen der Kultusgemeinde die Tür einrennen”, kritisiert Maria Halmer, Generalsekretärin der „Amcha-Austria”, einer Organisation, die in Israel schon seit vielen Jahren psychische Betreuung für Überlebende ermöglicht.

Weisz war einer, der Türen einrannte. Die späte Hilfe nimmt er seit eineinhalb Monaten einmal pro Woche in Anspruch. Als er darüber spricht, daß die Therapie vielleicht seinen Zustand verbessern könnte, klingt seine Stimme ganz kurz zuversichtlich: „Ich hoffe”, sagt er leise.

„Lieber spät als gar nicht”, ist auch Elvira Glück von der Sinnhaftigkeit des Therapiezentrums überzeugt. Gerade in der jetzigen Lebensphase Holokaust-Überlebender brauchten viele verstärkt Hilfe. Nicht nur das Alter läßt verdrängte Ängste hervorbrechen: Der Tod des Partners, die Pensionierung, die Kinder gehen aus dem Haus. All dies läßt Erinnerungen wach werden, oft lange Unterdrücktes flackert auf. Aber auch das politische Klima weckt Erinnerungen. Für die durch ihre einstige Verfolgung Sensibilisierten sind die Veränderungen deutlich spürbar: „Nicht nur Haider, auch die Geschichten mit Skinheads, Briefbomben und der latente Antisemitismus, all das macht Angst, bedroht die Leute”, sagt Elvira Glück. Bomben-drohungen gehören bei der Kultusgemeinde schon wieder zum Alltag.

Der Bombenanschlag in Oberwart hat einen zentralen Nerv getröffen. Da erschrickt sogar Susanne Kriss, die drei Jahre ihres Lebens in The-resienstadt verbracht hat. Sie hat gelernt, mit der Vergangenheit zu leben, hat keine Depressionen und nur selten Alpträume. „Diese Zeit erinnert mich an 1938”, gibt die sonst so unerschrocken wirkende 73jährige Frau zu.

Die Angst ist da, die Bedrohung real. Und so werden auch die übertrieben scheinenden Sicherheitskontrollen beim Besuch jüdischer Institutionen verständlich. Vor der Türe eines jüdischen Altersheims steht ein Lieferwagen, vollbepackt mit Hygieneartikel. Jede Packung Taschentücher wird einzeln auf Bomben untersucht. Daneben steht ein schwerbewaffneter Polizist.

Der Österreicher Hans Weisz hat sich in seiner Heimat nie wieder sicher gefühlt. Er liegt auf der Couch und hört Badio. Er verfolgt die politische Entwicklung Österreichs ...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung