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Wenn Literatur frei über die normierten Formeln und Bilder des Christentums verfügt, ist Irritation vorprogrammiert. Zumindest bei konfessionell gebundenen Lesern. Den anderen fehlen in postchristlichen Zeiten immer öfter die Kenntnisse, um die religiösen Anspielungen überhaupt zu verstehen. So hat der Bezug auf Gebete oder kirchliche Riten in der österreichischen Literatur in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen.

Julian Schutting hat immer wieder auf religiöse Sprache zurückgegriffen; im Gedicht "Bittbriefe an Allmächtige" des Bandes "Flugblätter" mischt er die Formeln politischer Petitionen mit denen kirchlicher Fürbitten und Litaneien, sodass sie sich gegenseitig relativieren. "Buñuel in Dankbarkeit" ist eine provozierende Kette surrealer religiöser Bilder in dem vor fast 30 Jahren erschienenen Prosaband "Sistiana" überschrieben, der für so manchen eine Befreiung von erdrückendem Glaubensernst darstellte.

Surreale religiöse Bilder

In seinen neuen Prosaband "Nachtseitiges" hat Schutting drei Texte aus "Sistiana" eingeschmuggelt, überarbeitet und auf den gegenwärtigen Papst bezogen. Schon am Beginn des Abschnittes "Dämmerschatten" stehen ins Groteske übersteigerte Bilder des "Ersten Touristen auf dem Stuhl Petri", der sich von einem Edelkran hochhieven lässt, "um niedergebrannten Feuers, niedergehaltener Krankheit und abgekämpft von niedergekämpften Schmerzen die Welt bis in die hintersten Winkel aus dem Unheil dem Heil zu erlösen". Immer wieder werden religiöse Ansprüche beim Wort genommen, etwa im Vorschlag einer "Bußzeremonie zur mißlungenen Prüfung des ersten Stellvertreters", in der der Papst alljährlich die Verleugnung Jesu durch Petrus rituell wiederholen müsste, oder in der fiktiven Zeitungsmeldung, Bischöfe würden behinderte Kinder pflegen.

Staunenswert, was Schutting aus dem Altarbild vom Martyrium der Heiligen Agatha, aus einem alpenländischen Dreifaltigkeitsbild oder einer barocken Kanzel sprachlich machen kann, welche Kaskaden an möglichen Situationen er daraus spinnt. Produktive Blasphemien blitzen auf, wenn die Abendmahlsworte Jesu oder die Erscheinung des Auferstandenen auf provozierend buchstäbliche und körperliche Art wörtlich genommen werden. Pervertierungen der Religion werden durch Übertreibung auf den Punkt gebracht, etwa wenn ein Theologieprofessor verlauten lässt: "die katholische Kirche könne im Falle von Vergewaltigungen die Verwendung von Kondomen tolerieren!" Hochämter werden beschrieben, eine groteske Marienbotschaft erklingt.

Doch unerwartet kommt am Schluss eine ganz persönliche Antwort auf die alte Frage "Wie ich es hielte mit der Religion?" Schutting votiert bei aller Unsicherheit für "die Religion, in der man aufgewachsen ist, von den Diktaten von derer Verwalter mit Gottes Hilfe unbeschädigt geblieben" und bekennt: "und noch immer vermag mich zu erschüttern das der sogenannten Wandlung folgende Einbekenntnis: Mysterium fidei' - verwandt dem Glaubensbekenntnis der Liebe. Und daß einzig uns' ein Gott zuteil geworden ist, als ein hilfloses Kind geboren!" Zu einem Thema, das innerhalb von Kirchenmauern oft von Parteigängern absoluter Wahrheiten malträtiert wird und außerhalb davon gedächtnisloser Gleichgültigkeit verfällt, hat Schutting einen individuellen Blick und nicht abgegriffene Worte gefunden. Schuttings querständige Religiosität entwickelt die Bilder der Konventionsreligion auf seine spezifische Weise weiter.

Der neue Prosaband vereint heterogene Texte. Zu den stärksten gehören die 15 "Nachtmärchen" am Beginn. "also schau - in der Zeitung da steht die Märchenwahrheit geschrieben", lautet ihr Prinzip. Konsequent werden Medien- und Märchensprache vermischt, dass einem herkömmliches Hören und Sehen gründlich vergeht und man neu hinschauen muss. Ein Mann rottet seine Familie aus, eine Familie misshandelt ein behindertes Kind, ein "guter Onkel" missbraucht ein Mädchen, Kindern in Entwicklungsländern werden bei lebendigem Leib Organe für Transplantationen entnommen - mit Märchenelementen durchsetzt, werden diese Horrormeldungen, die allzu leicht zu Versatzstücken des täglich konsumierten Pseudo-Weltwissens werden, zu Alpträumen, die sich nicht mehr abschütteln lassen.

Böse mediale Märchen

Von Diminutiven bis zu eingestreuten Versen werden alle Sprachregister der Märchen gezogen, und plötzlich bleibt einem ein Standardsatz wie "und wenn sie nicht gestorben sind" im Halse stecken - er bezieht sich bei Schutting nämlich auf die Kinder, denen Auge, Niere oder Lunge entfernt wurde. Höchst unterschiedlich ist die Erzählperspektive: Erklärt im ersten Text der Meisterschütze ein Bild - eine Fronleichnamsprozession, in die er schießt, um "dramatische Bilddetails einzufügen" - sind andere Texte von einer Erzählerfigur her geschrieben und nehmen oft Elemente mündlichen Erzählens (Anrede der Zuhörer, eingestreute Fragen) in sich auf. Und immer wieder berühren sich archaische Opferrituale und heutige individuelle und kollektive Gewaltakte.

Schuttings Sprache ist individuell und wiedererkennbar bis in die Details der kleingeschriebenen Satzanfänge. Der Kontrast ihrer artifiziellen Künstlichkeit bringt die Schablonen und Perversionen unserer als "natürlich" internalisierten Sprache auf erkenntnisträchtige Weise zum Platzen und Kippen.

Nachtseitiges

Von Julian Schutting. Residenz Verlag, Salzburg 2004, 150 S., geb., e 17,90

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