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Ist die christliche Literatur am Ende ?

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Die modernen Wissenschaftler bestätigen sich heute vielfach als Totengräber. Zahlreiche Anschauungen der Naturwissenschaften sind unhaltbar geworden, alte Erziehungsmethoden werden verworfen, und die Theologen diskutieren sogar über den „Tod Gottes“. Da wollen die Literarhistoriker nicht zurückstehen. Auch sie verscharren alles mögliche unter der Erde, und so proklamieren sie auch den Tod der christlichen Literatur. „Tod sind Claudel und Bemanos, tot Elisabeth Langgässer und Reinhold Schneider, Werner Bergengruen und Rudolf Alexander Schröder, tot T. S. Eliot und Evelyn Waugh. Alt und schweigsam geworden sind Gertrud von le Fort, Edzard Schaper, Julien Green; alt und geschwätzig geworden ist Mauriac. Stefan Andres’ ,Wir sind Utopia“ und Luise Rinsers ,Jan Lobei aus Warschau liegen weit zurück“, stellte Werner Ross, der Direktor des Goethe-Instituts, in einem Vortrag in der Katholischen Akademie in Bayern fest: „Tatsächlich, die christliche Literatur ist zu Ende.“

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Die modernen Wissenschaftler bestätigen sich heute vielfach als Totengräber. Zahlreiche Anschauungen der Naturwissenschaften sind unhaltbar geworden, alte Erziehungsmethoden werden verworfen, und die Theologen diskutieren sogar über den „Tod Gottes“. Da wollen die Literarhistoriker nicht zurückstehen. Auch sie verscharren alles mögliche unter der Erde, und so proklamieren sie auch den Tod der christlichen Literatur. „Tod sind Claudel und Bemanos, tot Elisabeth Langgässer und Reinhold Schneider, Werner Bergengruen und Rudolf Alexander Schröder, tot T. S. Eliot und Evelyn Waugh. Alt und schweigsam geworden sind Gertrud von le Fort, Edzard Schaper, Julien Green; alt und geschwätzig geworden ist Mauriac. Stefan Andres’ ,Wir sind Utopia“ und Luise Rinsers ,Jan Lobei aus Warschau liegen weit zurück“, stellte Werner Ross, der Direktor des Goethe-Instituts, in einem Vortrag in der Katholischen Akademie in Bayern fest: „Tatsächlich, die christliche Literatur ist zu Ende.“

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Nach dem zweiten Weltkrieg war es zu einer Renaissance der religiösen Dichtung gekommen. Auch wenn die bedeutendsten der damals aktuell gewordenen Werke in den zwanziger und dreißiger Jahren ent- tanden waren, wirklich lebendig wurden sie erst nach 1945. Gemeinsam mit Kafka, Beckett, Camus, Sartre, Ionesco und Hemingway wurden die katholischen Dichter modern als Vertreter einer gleichwertigen Richtung innerhalb der Weltanschauungslitera tur unseres Jahrhunderts.

Und es waren literarische Glanzleistungen darunter, Leon Bloy freilich, der Begründer der modernen katholischen Literatur, war keim überragendes dichterisches Genie, obwohl er selbst sich für den größten Dichter des Jahrhunderts gehalten hat. Er war der aufrüttelnde und rücksichtslose „Marktschreier Gottes“ (wie er sich einmal genannt hat), und als solcher hat er die ihm zukommende Aufgabe, erregender Stein des Anstoßes zu sein, unerschütterlich erfüllt. An die Stelle der welt- und wirklichkeitsfremden süßlichen religiösen Literatur seiner Zeit hat er eine realistische Dichtung gesetzt, die ihre Augen vor nichts verschließt. Und bei aller menschlichen Schwäche war er schon als Mensch nicht in dieser, sondern in einer anderen Welt zu Hause. Julien Green drückt das in einer Tagebuchnotiz treffend aus, wenn er schreibt: „Liest man Bloy, dann fühlt man sich sogleich in übernatürliche Bereiche versetzt: dort wandert er wie auf einer Landstraße dahin, daß seine Nagelschuhe hallen.“

Der Intellektuelle unter den Begründern des rėnouveau catholique, der für die Literatur so fruchtbringenden französischen katholischen Erneuerungsbewegung, war Charles Pėguy. Er kam vom Sozialismus her und vertrat später einen ausgesprochen militanten Katholizismus. „Wir stehen alle an der Front!“ rief, er seinen Zeitgenossen zu, und dabei fühlte er sich mit allen verbunden. „Alle zusammen sollen wir heimkehren ins Haus unseres Vaters“, das war seine tiefinnerste Überzeugung. Aus diesem Solidaritätsbewußtsein ist auch seine Haltung zur Kirche zu verstehen. Obwohl er schon 1907 Jacques Maritain gegenüber bekannt hatte: „Ich bin Katholik“, kehrte er aus dem Gefühl der Verbundenheit mit seiner Frau, einer überzeugten Atheistin, und mit seinen nicht getauften Kindern nicht zur Kirche zurück. Seine Dichtung aber ist echte Glaubensverkündigung, und er war es auch, der die Christen wieder auf das „kleine Mädchen Hoffnung“ hingewiesen hat, das neben dem Glauben und der Liebe nicht übersehen werden sollte.

Der erste große Dichter des rėnouveau catholique war Georges Berna- nos. Er schrieb 1905 in einem Brief, er habe seinen Plan, Priester zu werden, aufgegeben, weil er meine, „ein Laie könne gerade auf einem Gebiete kämpfen, wo ein Priester nicht viel ausrichtet“. Und er hat gut gekämpft. Der Roman „Die Sonne Satans“, den er alls Versicherungsbeamter bei seinen Dienstfahrten zum Teil in Wartesälen und Eisenbahn- Zügen geschrieben hatte, brachte es schon innerhalb von sechs Monaten auf 100.000 Leser, und sein „Tagebuch eines Landpfarrers“ gehört bereits zu den klassischen Werken der katholischen Literatur.

Der zweifellos bedeutendste katholi sche Dichter seit Calderon und Lope de Vega war Paul Claudel, dessen monumentales Drama „Der seidene Schuh“ als der „katholische Faust“ bezeichnet wird, und der mit Recht sagen konnte: ,3s wird mir dereinst auf dem Sterbebette ein Trost sein, daß meine Werke die erschreckende Masse von Finsternis, Zweifel und Schmutz nicht vermehrt haben, sondern daß die Menschen, die sie lesen, in ihnen nichts anderes als eine Bekräftigung ihres Glaubens, ihrer Freude und ihrer Hoffnung finden.“ Diese „vier Kirchenväter des 20. Jahrhunderts“ (Albert Bėguin) stehen am Anfang der Epoche christlicher Literatur, die — nach Werner Ross — jetzt zu Ende gegangen ist. Diese großen Franzosen fanden in allen katholischen Ländern würdige Nachfolger. In Frankreich stellten Frangois Mauriac, Nobelpreisträger für Literatur, und Julien Green den gefallenen Menschen in den Mittelpunkt Ihrer Dichtungen. Und es ist charakteristisch, daß einer der Romane Mauriacs den Titel „Die Sünde“ trägt. „Vielleicht bin ich nur geschaffen und auf diesen kleinen Fleck der Erde gesetzt, um Zeugnis abzulegen von der Schuldhaftigkeit der Menschen vor der grenzenlosen Reinheit Gottes“, heißt es im Nachwort zu Mauriacs Novelle „Galigai“. Gabriel Marcel hat nicht nur philosophische Werke, sondern auch 20 Theaterstücke geschrieben, in de nen er seine Philosophie der Hoffnung verkündet.

Im deutschsprachigen Raium war die Erneuerung der katholischen Dichtung eingeleitet worden durch die 1898 erschienene Streitschrift Carl Muths „Steht die katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit?“ Sie erschien unter dem Pseudonym Veremundus, denn es war eine richtige Brandschrift, die verkündete: die Leser sind interesselos, die Kritiker engherzig und die Verleger kleinlich. Carl Muth forderte daher schon damals das Verlassen des katholischen Ghettos und die erst nach dem zweiten Vatikanischen Konzil zum Schlagwort gewordene Öffnung nach außen. Romano Guardini und Theodor Haecker, der „katholische Karl Kraus“, waren dann weitere Wegbereiter einer großen katholischen Literatur im deutschen Sprachbereich. Es begann mit historischen Dichtungen. Enrica Handel-Mazetti — seinerzeit viel gelesen — wurde bald von Gertrud von le Fort überflügelt, und Reinhold Schneider verband Dichtung und Geschichtswissenschaft in genialer Weise. „Die Letzte am Schafott“ von Gertrud von le Fort hat schon als Novelle Aufsehen erregt, Furore gemacht hat das Werk aber erst in der Bühnenfassung von Georges Bernanos („Die begnadete Angst“), als Film und als Oper. So gehört dieses kleine Werkchen zum

Bedeutendsten, was die Literatur des 20. Jahrhunderts bisher hervorgebracht hat. Die Novellen Werner Bergengruens sind bereits so klassisch wie die moderne Weihnachtsgeschichte „Das Christkind aus den großen Wäldern“ von Edzard Schaper.

Die deutsche Vertreterin einer im Sinne des rėnouveau catholique radikalen Literatur moderner Prägung war Elisabeth Langgässer. „Das Zeitalter der Psychologie ist unwiederbringlich abgelaufen, und das der seinsmäßigen Aussage der menschlichen Existenz beginnt“, verkündete sie 1948 in einem in Royaumont bei Paris gehaltenen Vortrag. Daher ging es ihr weniger um eine ausgeklügelte Handlung als „um das Bezugssystem aufeinander wirkender Kräfte“, und so ist ihre Schreibweise eine durchaus ins Geistige gehobene. Eine in künstlerischer Hinsicht so gewichtige Stimme wie Hermann Broch erblickte daher in ihrem Roman „Das unauslöschliche Siegel“ das erste Beispiel eines gültigen Surrealismus.

Heinrich Böll schreibt so, wie Leon Bloy heute schreiben würde. Wie Bloy ist auch er ein „Pilger des Absoluten“, und die Übertreibung ist eines seiner legitimen Stilmittel. Er ist ein zorniger Dichter, und sein Zorn richtet sich vor allem gegen die Katholiken. Das ist nicht böswillige Nestbeschmutzung, sondern die Folge einer verständlichen Enttäuschung und eines undurchführbaren Puritanismus. Auch wenn er manchmal unbequem ist, als Stimme des Gewissens ist dieser wohl erfolgreichste katholische Autor der letzten Jahrzehnte ein beachtlicher Nachfahre der großen Franzosen.

Von der englischen Literatur ist Gilbert Keith Chesterton mit seinen Father-Brown-Geschichten heute so lebendig wie eh und je, und die Romane Bruce Marshalls mit ihrer heiteren Kritik werden noch gern gelesen. Marshall steht als eine Art mo derner Missionar inmitten einer säkularisierten, nach Geld Erfolg und Genuß strebenden Menschheit, die er wieder dazu bringen möchte, das Wesentliche in den Mittelpunkt ihres Denkens zu stellen. „Im 19. Jahrhundert waren es die Gebildeten, die zweifelten, und die Blödiane, die glaubten. Heutzutage sind es die Gebildeten, die glauben, und die Blödiane, die zweifeln“, meint er in einem seiner Bonmots. GeseMschaftskritiker war auch Evelyn Waugh, das 1966-wenige Stunden nach dem Besuch des Ostergottesdienstes gestorbene Enfant terribl der englischen katholischen Literatur. Als katholischer Dichter umstritten ist Graham Greene, der es wie kein zweiter verstanden hat, Verbrechen, Sexus und Religion in seinen Romanen so zu vermengen, daß eine den breiten Leserschichten mundende Literatur entstanden ist. In Italien waren Papini und Guare- schi, im skandinavischen Raum die Nobelpreisträgerin Sigrid Undset und Sven Stolpe bedeutende Vertreter der modernen katholischen Dichtung. Es war eine hervorstechende Periode der christlichen Literatur, und jeder, der nicht der Meinung ist, daß ein fünf Jahre altes Buch genauso alt ist wie ein fünf Jahre altes Auto, wird weiterhin gerne zu den wichtigsten Werken dieser Epoche greifen.

Werner Ross hat recht. Diese „moderne katholische Literatur“ ist zu Ende, so wie auch die „moderne Literatur“, die durch die Namen Kafka, Camus, Sartre oder Ionescu repräsentiert wird, zu Ende ist. Wir stehen am Beginn einer neuen Periode der europäischen Literaturgeschichte. Die Nachkriegsliteratur (und das, was in dieser Zeit als Nachholbedarf gedruckt wurde) ist unmodern geworden. Diese Werke sind entweder vergessen oder in einem gewissen Sinne „klassisch“ geworden. Und im katholischen Bereich war es ja eine Literatur von Bloy bis Böll. Es war die Literatur einer Periode von etwa 70 Jahren, und es waren Jahre, deren sich der katholische Literarhistoriker nicht zu schämen braucht.

Diese Periode der katholischen Literatur ist zu Ende. Doch es erscheinen auch jetzt Werke einer „modernen christlichen Literatur“ in der Umwandlung und im Werden Jacques Maritains „Bauer von der Garonne“ gehört hier ebenso dazu wie Heinrich Bölls .Ansichten eines Clowns“ oder Luise Rinsers „Ich bin Tobias“. Und plötzlich erweist sich auch ein großer Vertreter der alten Garde wie Albert Paris Gütersloh als katholischer Dichter. Man darf nicht gleich ungeduldig werden, es erscheint nicht jedes Jahr ein Buch wie das „Unauslöschliche Siegel“. Auch Julien Green und Edzard Schaper schreiben weiter, und schließlich erscheint augenblicklich überhaupt recht wenig Epochales. Nur Günter Grass schreibt unermüdlich, und von den Jungen ist vielleicht nur Peter Handke nennenswert. Die katholische Literatur atmet gar nicht leiser als die übrige Dichtung.

Am Beginn der modernen katholischen Literatur ist Carl Muth gestanden mit seiner Schrift „Steht die katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit?“, am Ende dieser Periode steht Werner Ross mit seinem Vortrag „Ist die christliche Literatur zu Ende?“ Die Periode der „modernen katholischen Literatur“ im Sinne des rėnouveau catholique ist zu Ende, am Ende ist die katholische Dichtung aber nicht, auch wenn der Zeitgeist heute weitgehend achristlich ist und keinen fruchtbaren Boden für eine solche Literatur abgiibt. Es kommt aber nicht nur auf das Modedenken an, ein genialer Dichter kann den Zeitgeist immer in seinem Sinne bestimmen. Wie wir überhaupt auf große Dichter warten, so hoffen wir auf einen großen christlichen Autor. In unserer Zeit der gewaltigen Umwandlungen ist nicht der Pessimismus eines Reinhold Schneider, sondern der Optimismus eines Chesterton am Platze.

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