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Jahrgang zweiunddreißig

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Der Schriftsteller Peter Tramin über das Zuhören, Gartenarbeit in Traiskirchen und die Kindheit im Krieg.

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Der Schriftsteller Peter Tramin über das Zuhören, Gartenarbeit in Traiskirchen und die Kindheit im Krieg.

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Und deiner?

Ja — er war ein Mann mittleren Alters, der in meiner Kindheit vorkam; so könnte man vielleicht sagen. Er hatte Ansichten, die ich damals besser erriet, als heute verstehe, wenige Worte und sehr genaue Hände. Er trug gelegentlich ein funkelndes Einglas, wovon sein Auge in gewissen Momenten blind wurde, und später immer eine Uniform, die fremd roch; noch fand der Krieg erst in den Mündern der Erwachsenen statt, und am Abend kratzte seine Wange, wenn er sich über mein Bett beugte, stärker als das feldgraue Tuch.

Es gibt viele Photographien. Sie verdecken sein Gesicht in meiner Erinnerung. Er war hellblond, wie mein Bruder. Er hatte blaue Augen, wie meine Schwester. Seine Nase soll groß gewesen sein, eine Habichtnase, scharf und spitz. Ob die Nase übertrieben war oder die Bilder übertreiben, läßt sich heute nicht mehr entscheiden. Mit Mama kann man darüber nicht reden. Meines Vaters Hände — schau die meinen an. Wenn ich etwas besser fertigbringe, als ich's vorher für möglich gehalten hätte, dann hab' ich es Händen zu verdanken, die er mir vererbt hat. —

Erzähl' doch weiter

Ich war zehn Jahre alt, da gab es viele braune Uniformen auf der Straße. Eine davon kam in die Schule, und der Obetlehrer machte: Brust heraus, Bauch hinein, und zeigte mit ausgestrecktem Arm, wie weit ihm die Atemluft gerade noch ging: bis zur Unterlippe; darum duckte er sich bald. Brust hinein, Bauch wieder heraus. Und setzte sich rund hinter das Katheder.

Die braune Uniform war „Unterrichtsleiter“ zu nennen und hatte einen braunen Schnurrbart. Sie sprach im Stehen. Worüber weiß ich nicht mehr.

Nachher mußten sich einige von uns Schülern im Konferenzzimmer nackt ausziehen, und der „Unterrichtsleiter“ ging sehr genau um uns herum. Mich fror. Und mein Nebenmann stank von den Füßen. Ich bekam einen gelben Zettel, den ich zu Hause aus Vorsicht, lieber nicht hergab. Es nützte natürlich nichts. Meine Tante sagte auch nachher immer nur: Napoli, statt Napola. Der Oberlehrer, der eine Woche später schwitzend ankam, sagte: „N.P.E.A.“, das Dienstmädchen Netti sagte: die Hitlerschul', mein Großvater, gerade auf Besuch, ließ sich die Abkürzung genau erklären, und ich sah an seinen Beinen, daß ihm, was er hören mußte, ziemlich erregte; „Es ist eine wirkliche Auszeichnung, die dem Buben widerfährt!“ versicherte der schwitzende Oberlehrer mehrmals. Ich sah nur Beine, weil ich mich unterm Klavier versteckt hatte. Aber mein Großvater war vorsichtig und verließ den Salon zu einem Zeitpunkt, als er noch an sich halten konnte. Papa sagte gar nichts. Dann formte meine Mutter, die das sehr gut kann, mit wenigen Worten aus dem Schulmann einen handlichen, in sich gekrümmten, kugelförmigen Gegenstand, der in solcher Gestalt bald von selber davonrollte, und, soviel ich weiß, auch keine unangenehmen Folgen mehr hatte — außer für mich.

Dein Vater wollte wirklich, daß du in diese Nationalpolitische Erziehungsanstalt eintrittst?

Ich muß mich besinnen. Ich weiß sehr wenig. Kaum etwas hängt zusammen. Ich konnte nicht immer unter dem Klavier sitzen, weißt du. Natürlich muß es Beratungen gegeben haben. Und überhaupt war man ja damals schon so weit, nur noch zwischen größeren und kleineren Übeln wählen zu können — wenn man überhaupt wählen konnte. Mein Vater vermied es, glaub' ich, gerne, Entscheidungen zu treffen; er wurde meist von ihnen getroffen. Von seinen Überzeugungen weiß ich wenig. Sein Legitimismus, der ihn gegen alles radikale Denken, gegen Rechts- und Linksideologien, immer noch feite, obwohl es natürlich ein längst resignierter war, half ihm wie von selber, er bedurfte da wenig Nachdenkens. Es war dies alles so selbstverständlich, daß es mir damals gar nicht zu Bewußtsein, geschweige denn später in einer anderen Umgebung über die Zunge kam, wo es mir oder uns hätte schaden können. Papa hörte zu. Das kleinere Übel wurde gewählt. Er war ein guter Zuhörer.

Dies erweist sich auch daraus, daß ich mir schon früh meine Geschichten selber erzählen mußte; ich erzählte Papa, was ich eigentlich von ihm hören wollte: Märchen und heldenhafte Lügen; er hat mich nie ausgelacht und viel Geduld bewiesen, wenn ich's tat.

War dein Vater groß oder klein?

Natürlich groß. Im Sommer des dritten Kriegsjahres waren wir einmal drei ganze Wochen beisammen. Papa hatte Genesungsurlaub. Das Haus war gelb, wo es noch gelb war, und hatte grüne Fensterläden, wo es noch Fensterläden hatte. Es gehörte meinem Onkel Kunrat, der meinen Vater für närrisch hielt, als der mit seinem Vorhaben zu ihm kam. Das Haus stand allein im Tal, das mitten im sirren-den Hochsommer lag, und der Fluß in der Nähe kroch braun und flach über braune, flache Steine. Ein Karrenweg führte in den hohen Wald. Onkel Kunrat schickte den Verwalter in aller Herrgottsfrüh mit zwei Arbeitern vom Gut und mit dem Leiterwagen voraus. Auf dem Leiterwagen waren die Möbel festgebunden. Wir fuhren zu Mittag mit dem Jagdwägelchen und dem letzten Gepäck hinterher, und mein Vater glaubte, das Haus wäre bezugsfertig. Nun, die Möbel standen wenigstens und das Türschloß funktionierte. Die Netti packte aus. Dieses Einschichthaus war mehrere Ferien lang das Sommerquartier meines Großvaters gewesen, der darin mit seiner Familie wohnte, die zahlreich war; mein Vater war das jüngste von vielen Geschwistern. Aber jetzt wäre kein vernünftiger Mensch eingezogen, weil es darin weder elektrisches Licht noch Wasser gab; die Wasserleitung war längst verfallen, moderne Holzblöcke die Lichtung entlang, das Waldhüttchen an ihremn Ende eingestürzt, das rostige Pumpwerk verbogen im schwarzen Wasser der Quelle, in der die Lurche mit kalten Bäuchen schwammen. Einmal in der Woche schickte Onkel Kunrat den Leiterwagen wieder, mit einem großen, nassen Faß, das auf Stroh gebettet war, sonst hätten wir kein Trinkwasser gehabt. Das Haus hatte Erdgeschoß und Stock, und ein Garten war auch da gewesen, aber der Zaun war schon vor zehn Jahren umgefallen, und die Wiese war draußen so schön wie drinnen. „Nächstes Jahr wird dieses Haus eine Ruine sein“, sagte mein Vater; es ist eine Ruine geworden und roch schon damals danach.

Mein Bruder lernte im hohen Gras laufen und die Gelsen halfen ihm dabei; Plumps nach Plumps tauchte sein blonder Schopf über den Halmen auf und sogleich wieder unter; am Abend wurde das Kind sorgsam mit Salmiak abgetupft. Meine Mutter fand, daß das Haus feucht sei, und das stimmte auch. Keller gab es keinen, des Grundwassers wegen, also wohnten die Mäuse im Schornstein. Sie kamen alle heraus, als die Netti das erste Mal Feuer machte, in einer schwarzen Küche, in der die kinder-fresserische Hexe in allen Winkeln hockte, in die man gerade nicht schaute, so groß war der Raum, und finster war es auch, weil das Gebüsch vor den kleinen Fenstern wuchs. Als die Netti dann die Läden aufriß, schaute das wie ein Buschbrand aus. Mein Vater reinigte den Kamin mit einem Schrotschuß, der das Haus auf Tage in eine rußige Köhlerhöhle verwandelte und das Dach fast abdeckte. Die Strecke betrug vier tote Fleder- und ein Nest voll junger, wundersamerweise am Leben gebliebener Hausmäuse, die meine Geschwister und ich sehr liebten, die wir aber nicht behalten durften. Papa ging mit uns rußig fischen. Mama ging rußig baden. Mein Bruder lernte rußig laufen und ich fing rußig Lurche. Die Netti tastete blind durch die Schwaden alten, soliden, friedensmäßigen Rußes und hatte, denselben wischend, sich die Ferien auf dem Lande anders vorgestellt. Es war alles wunderschön und viel zu schnell vorbei.

Hat dein Vater dich jemals geschlagen?

Ja. Ich hatte eine Handvoll Zuckerln gestohlen, von einer ganz besonderen Sorte, die nur in einer gewissen, klebrigen Blechschachtel zu finden war; leider nicht bei uns zu Hause, sondern in einer fremden sehr hohen, sehr verschnörkelten Küchenkredenz; ein weißlackierter, abgestoßener Schrank, vieltürig, ausgeleierte Reiber daran, Schubladen mit gerillten Stiften, wo die Knöpfe fehlten. Die zwei Glastafeln im Aufsatz waren verschieden; Milch mit mageren heraldischen Lilien die eine Scheibe, blank die andere. Die Mutter meines Mitschülers, eine Witwe, war sehr arm und selten daheim. Der Poldi hatte den Wohnungsschlüssel. Wenn er mir eines jener magischen Zuckerln versprach — ich habe den Geschmack davon noch heute auf der Zunge —, ging ich nach der Schule mit zu ihm, sonst nicht, denn ich konnte ihn eigentlich wenig leiden. Manchmal klebten zwei Zuckerln zusammen. Wenn man das Kiümp-chen auseinanderbrach, ergaben sich häufig zwei sehr ungleiche Hälften. Zu oft hatte mir der Poldi schon die kleinere gegeben.

Er war eigentlich starker als ich. Wahrscheinlich gebrauchte ich irgendeine List; es gelang mir, ihn unten in die Kredenz zu sperren. Ich nahm eine ganze Handvoll Zuckerln aus der Dose und aß sie nachher, auf einer Parkbank sitzend, hintereinander auf. Als ich nach Hause kam, spät, um nicht Mittagessen zu müssen, war Poldis Mutter schon dagewesen. Mein Vater verwendete einen Lederriemen, an dem er gewöhnlich sein Rasiermesser schärfte. Die Hiebe bekam ich nicht fürs Einsperren des Poldi, sondern weil ich gestohlen hatte. Fürs Einsperren hätte ich nur Hiebe bekommen, wenn der Poldi schwächer als ich gewesen wäre. Den Riemen mußte ich selbst vom Nagel holen. Dies fand ich nicht richtig. Aus der Napola bin ich einmal fortgelaufen. Ich hatte die Aufnahmsprüfung bestanden: „Mach' halt diese Aufnahmsprüfung, dann wird man weitersehen. Gilt schließlich für alle Mittelschulen. Schau dir Traiskirchen einmal an.“

Ich hatte mir Traiskirchen lange genug „angesehen“. Ich hasse heute noch jede Gartenarbeit, weil ich als „Jungmann“ endlose Kieswege mit stumpfen Küchenmessern von Unkraut säubern mußte. ..Solang ich im Krieg bin, bist du, draußen, wenigstens der Mama vom Hals. Dieser Krieg dauert nicht ewig.“

Ich lag mit vier anderen „Jungmännern“ in einem Schlafraum. Eben bevor ich einschlief, entdeckte ich, daß ich ja fortlaufen könne; gleichzeitig malte ich mir aus, daß mein Vater Fronturlaub hätte und überraschend heimgekommen wäre. Wenig später war ich überzeugt, daß es sich so verhielt. Unsere „Stube“ war ebenerdig. Meine Habseligkeiten befanden sich in einem „Spind“. Ich stand auf, ging in die „Stube“ hinunter, öffnete im Dunkeln den „Spind“, zog meine „Ausgehuniform“ an, kletterte aus dem Fenster, lief in den Park und „ging“ dort „über die Mauer“. Ich fuhr heim; mit der Badnerbahn, die damals bei der Philadelphiabrücke Endstation machte, und dann mit der Straßenbahnlinie 8, die mich bis fast vor unser Haus brachte. Die Waggonfenster waren, bis auf einen schmalen, waagrechten Balken, blau gefärbt, die Deckenleuchten so abgeblendet, daß davon die Knie der Sitzenden — die Bänke liefen damals häufig nur längsseits — befremdlich betont wurden. Auf dieser nächtlichen Fahrt führte ich viele stumme Vorausgespräche mit meinem Vater. Ich erzählte ihm eine lange, starke, deutliche Geschichte; die Geschichte meines Leidens, und warum ich nicht wieder nach Traiskirchen wollte. (Die meisten „Jungmänner“ des „Zugs“ waren stärker als ich, auch hatte ich immer Hunger. Im Unterricht wurde ich von der Algebra, im Turnen vom Seilklettern, im „Heim“ von der Notwendigkeit gequält, „Putz- und Flickstunde“ zu halten, „Spindordnung“ zu machen, „Betten zu bauen“, in der „Freizeit“ aber vom Ärgsten überhaupt gemartert: niemals und nirgend wirklich allein sein zu können; man wurde immer und überall von den „Kameraden“ aufgespürt. Und in der „Bücherlade“ gab es nur die blöden Kriegsbücher, keinen einzigen Karl May.) Ich war sehr ausführlich. Ich fand meines Vaters volles Verständnis. Er begriff mich. Ich durfte zu Hause bleiben.

Als ich wirklich nach Hause kam, war nur die Netti, das Dienstmädchen da. Mama befand sich mit den Geschwistern auf dem Lande. Am nächsten Tag ging ich zu meinem Großvater, freiwillig, und bat ihn, midi nach Traiskirchen zurückzubringen.

Wir fuhren bei strahlend klarem Himmel; herrliches, buntes Herbstwetter, einmal gab es Fliegeralarm; die weißen Kondensstreifen auf blauem Grunde waren nachher noch lange zu sehen. Als wir aus dem Luftschutzkeller des Bahnhofsgebäudes kamen, zeigte sich der vorher leere Kiesplatz übersät von grünen, stachligen Kapseln; dazwischen lagen viele blanke Kastanien und abgerissene Zweige.

Mein Großvater bestand darauf, mit dem Anstaltsleiter zu sprechen. Ich mußte draußen warten. Im Vorraum arbeitete ein Mann, der keine Uniform trug. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen, aber er schien hier ganz zu Hause zu sein. Als Großvater herauskam, meinte er, Papa würde mir sicher noch schreiben, und der Zivilist nickte heftig, als hielte er das für eine gute Idee.

Ich bekam keine Strafe, meinen „Kameraden“ war mitgeteilt worden, ich hätte Sonderurlaub bekommen. Ich zeichnete also meinen Vater mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse aus, und als er einige Wochen später tatsächlich von der Front heimkam, hatte er es wirklich; ich wurde aus dem Unterricht gerufen, mitten aus der Mathematikstunde.

Papa sah müde aus und schmal; wir gingen über den Appellplatz zum Park hinüber; „Jungmänner“ des vierten Zuges sprinteten über die Sechzigmeterbahn; wir gingen tief in den verwilderten Park, bis zu den Blöcken des zerstörten Denkmals; auf einer runden Steinkugel saß eine grüne Eidechse; ihr Schwanz war abgebrochen.

„Der wächst nach“, sagte ich.

„Ich habe nur zwei Stunden Zeit“, sagte mein Vater, der mit Großvater und mit den Anstaltsleiter gesprochen hatte, „und jetzt hör' mir einmal sehr gut zu.“

Dann hat er mir aber doch nichts erzählt, sondern nur wieder ich ihm alles und jedes — nichts davon allerdings, was ich mir auf meiner nächtlichen Reise ausgedacht hatte.

Papa schenkte mir einen Siegelring; eigentlich wohl einen kleinen Damenring, denn er paßte mir. Ich habe ihn dennoch schon bald beim Schwimmen verloren. Mein Vater hat mir keinen Brief mehr geschrieben. Ich habe nur noch Feldpostkarten von ihm bekommen; es war im Herbst 1944, als wir durch den Park der Anstalt gingen; es ist das letzte Mal gewesen, aber es war eigentlich wie immer; das E. K. I schien damals, im vierten Kriegsjahr, schon recht selbstverständlich, und an mein „über die Mauer gehen“ wollte ich lieber nicht denken; mein Vater vermutlich auch nicht. Vorm Anstaltstor wartete dann ein grauer Wehrmachts-PKW; während Papa noch in der Pförtnerloge tele-phonierte, zeigte mir der Fahrer seine Pistole; eine riesige Waffe; Kaliber Nullacht, glaub' ich. Ich durfte sie in die Hand nehmen. Sie wog schwer und mir gefiel der matte Glanz der Brünierung.

Wie alt warst du damals?

Zwölf Jahre. Mein Großvater hat als österreichischer Offizier den ersten Weltkrieg überlebt, mein Vater ist als deutscher Offizier in den letzten Tagen des zweiten gefallen. Ich bin Jahrgang zweiunddreißig; das Bundesheer hat mich nicht mehr einberufen; und vielleicht gibt es wirklich keinen dritten.

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