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Jaspers' philosophischer Glaube

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Rechtzeitig vor seinem achtzigsten Geburtstag am 23. Februar 1963 legt Karl Jaspers ein Werk vor, das als eine „Summe“ seines Denkens gesehen werden darf. Einer der wenigen großen alten Männer der europäischen Philosophie stellt sich hier der Öffenbarungsreligion (in der er Judentum und Christentum zusammen sieht). Jaspers tritt, als Gegner und als Freund, der Offenbarungsreligion mit einem Ernst, einer rückhaltlosen Offenheit, einer existentiellen Ehrlichkeit gegenüber, die dieses sein Bekenntniswerk zu einem der bedeutendsten Dokumente der inneren Geschichte des Menschen in unserer Zeit machen.

In seiner „philosophischen Autobiographie“ 1953 (erschienen in dem Sammelband „Karl Jaspers“, deutsche Ausgabe Stuttgart, 1957) berichtet Jaspers eingangs über seine Herkunft väterlicherseits aus einer seit Generationen im Jeverland lebenden Familie von Kaufleuten und Bauern, mütterlicherseits „aus einem seit unvordenklichen Zeiten in Butjadingen bodenständigen Bauerngeschlecht“. Und der Siebzigjährige schließt da mit den Sätzen: „Das Sicherweitern der Vernunft ist nicht eingeschlossen in den biologischen Lebenskreis. Man kann in die für das Alter paradoxe Stimmung geraten, der Blick öffne sich auf Grund der geistigen Erfahrungen in neue Weiten.“

In dieser Spannung ist etwas vom „ganzen“ Jaspers. Jaspers stammt aus einem Land, das auf den ersten Blick ganz außerhalb der alteuropaischen Christenheit zu liegen scheint (und es in gewisser Weise auch ist). Frisia non cantat, sagt der alte Spruch. Ein weiter, offener Himmel wölbt sich über den niederen braunroten Katen. Ganz amusisch, von einem tödlichen Emst besessen, scheinen die Menschen zu sein. Nüchtern sind die Betsäle, die Kirchen. Hier ist ein protestantisches Prinzip höchster und härtester Redlichkeit zu Hause, eine kämpferische, gerade, unbeugsame Art. Etwas eng vielleicht in einem Letzten. Der unbestechliche Blick geht aber weit über Land, und er sieht viel: alles, was da zu sehen ist.

Karl Jaspers, von Haus aus ein kränkliches Kind, ist zunächst Arzt geworden, um dem Menschen zu helfen. Seine Dissertation von 1909 behandelt das Thema: „Heimweh und Verbrechen“. Sein erstes großes Werk, „Allgemeine Psychopathologie“, ist In erster Auflage 1913, in sechster Auflage 1953 erschienen. Karl Jaspers wurde Philosoph, um sich selbst über sich selbst klar zu werden und um dem Mitmenschen zu helfen. In gutem altem Bauerntrotz bekennt er sich 1953 zur Philosophie als zu seiner dritten Kraft: „Mein philosophisches Ringen geht um die Bewahrung des selbständigen Ursprungs der Philosophie im philosophischen Glauben. Die Möglichkeiten des Menschen sind nicht erschöpft in der Alternative zwischen kirchlicher Religion und Nihilismus. Es gibt dieses dritte, die Philosophie, die von beiden Seiten sich vor der Drohung mit Vernichtung sieht.“

Jaspers hat zeitlebens kein Hehl aus seiner Sorge gemacht; Rom und Moskau scheinen ihm nicht selten gefährlich nah beieinander zu sein, im Kampf gegen die Freiheit, im Druck auf den Menschen. Wer nun diese alten Sorgen und alten Ängste von Jaspers kennt, wird nicht ohne Ergriffenheit diesen letzten Waffengang mit den Theologen lesen und sich einiges aus ihm erlesen können, er sei auch, wer er sei...

„Ich glaube nicht an Offanbamng und habe es nie, soweit mir bewußt ist, auch nur der Möglichkeit nach getan.“ Als dezidierter Nichtchrist tritt nun Jaspers in einem „nicht aufhörenden liebenden Kampf“, in eine Auseinandersetzung mit der Offenbarungsreligion ein, wobei er sich als genuin religiöser Typ zu erkennen gibt (für den, der das nicht schon wußte).

Gestützt auf die Propheten des Alten Bundes, auf Kierkegaard und Overbeck stellt er sowohl die Kirche wie die (heutige) Philosophie in Frage: Beide lassen sich auf den Ernst der modernen Situation, kaum ein, lärmen wie Trommeln der Naturvölker (S. 525). Die Philosophie ist weithin zu einem Hobby von sich selbst befriedigenden Universitätsprofessoren erstarrt, das Christentum ist in all seinen Kirchen und Konfessionen verkümmert. Sein eigenes Glaubensbekenntnis faßt er etwa so zusammen: „Dem Philosophierenden wird die Erfahrung, daß die Realität einer Offenbarung, die von Gott ausgeht und doch der menschlichen Interpretation bedarf, dem Gottesgedanken selber nicht entspricht. Sich dem Offenbarungsglauben zu versagen, ist nicht die Folge von Gottlosigkeit, sondern die Folge des Glaubens der von der Transzendenz als frei geschaffenen Existenz. Der philosophische Glaube, folgend der ihm zugänglichen Wahrheit und der Ferne der allen Menschen ans der Verborgenheit zugewandten Transzendenz, muß auf die reale Offenbarung verzichten zugunsten der Chiffern in der Bewegung ihrer Vieldeutigkeit. Dieser philosophische Glaube, in vielen Gestalten auftretend, wird nicht Autorität, nicht Dogma, bleibt angewiesen auf Kommunikation unter

Menschen, die notwendig miteinander reden, aber nicht notwendig miteinander beten müssen“ (S. 109/10).

Jaspers geht es um die „Reinheit im Reich der Chiffern“: um das denkende und liebende Umkreisen der großen offenbaren Mysterien der Wirklichkeit, die sich nie fangen, nie fassen lassen, und von denen der Mensch doch wissen, sprechen, handeln muß, bei Strafe der Selbstzerstörung. Jaspers unterscheidet Chiffern der Transzendenz, wie „Gott“, „der persönliche Gott“, Chiffern der Immanenz, wie in der Zeit, im Raum, Chiffem der existentiellen Situationen: das Unheil und das Böse.

Die Kapitel über das Unheil und das Böse bilden einen zentralen Kern dieses Werkes und gehören zum Eindrucksvollsten, was ein menschliches Denken, in sich gründend, leisten kann. Inmitten dieses Kapitels befindet sich ein „Hiob“-Abschnitt („Der persönliche Gott unter Anklage“), der nicht nur in allen höheren Seminarien, sondern in allen höheren Schulen erarbeitet werden sollte.

„Jenseits aller Chiffern“ behandelt Jaspers „die Unmöglichkeit, Gott zu erkennen, und die Unumgänglichkeit, Ihn zu denken“. Indische und abendländische Mystik, die deutsche Philosophie, stehen hier zur Debatte. Der letzte Teil dieses Vademekums für den denkenden Menschen rollt noch einmal das Leitmotiv des ganzen auf: „Können philosophischer Glaube und Offenbarungsglaube sich treffen?“ Jaspers ist der Überzeugung, daß nur eine grundlegende Wandlung des biblischen Glaubens dem Christentum eine gute Zukunft eröffnet. „Abgründigste Verlogenheit“ steckt in den Versuchen des neutestamentlichen Christentums, sich in der Welt mit der „Kultur“ einzurichten. „Nur in Gestalt der Unwahrhaftigkeit konnte diese Religion sich weltlich behaupten. In dieser vielleicht nirgends in der Welt zu solchem Umfang gewachsenen Unwahrhaftigkeit liegt einer der Gründe des Absehens der Asiaten gegenüber dem christlichen Abendland“ (S. 510).

Es ist sehr beachtenswert, daß Jaspers sich hier mehrfach (ohne es zu wissen) mit dem protestantischen Theologen Paul Schütz in seiner „Parasit“ begegnet.

„Wie Itt von der Heuchelei frei zu werden? Wie kann ohne sie die eigentliche Wahrheit aus der Tiefe sprechen? Zur biblischen Religion gehört von Anfang an Revolution und Reformation.“

Bohrend, hämmernd, unerbittlich seine Fragen vorwärtstreibend, steht der achtzigjährige Karl Jaspers vor dem Christentum.

Sein letztes Wort: „Ursprünglich verschiedene Weisen der Lebenspraxis und des ihnen gehörenden Glaubens schließen sich in der Tat aus: Sie können nicht im selben Menschen verwirklicht werden. Sie schließen sich aber nicht aus, wenn sie durch verschiedene Menschen in der Welt sich begegnen. Jede Geschichtlichkeit kann die andere in ihrem existentiellen Ernst lieben und sich ihr in einem Ubergreifenden verbunden wissen.“

Auseinandersetzung mit Karl Jaspers? Wer ihn und wer sich selbst ernst nimmt, erliegt nicht der Versuchung, sie in wenigen Zeilen zu versuchen. Dies aber soll gern bekannt werden: In unserem 20. Jahrhundert, das geistig unsauber, verlogen, sich mit der Redlichkeit eines großen 18. und 19. Jahrhunderts nicht messen kann, wirken die ernsten, nüchternen und doch von innerer Ergriffenheit bebenden Einladungen des alten Karl laspers, sich selbst aufrichtig in Frage zu stellen (man kann sich selbst auch sehr unaufrichtig in Frage stellen), wie das Öffnen eines Fensters nach einem Gewitter. Das Gewitter aber muß man sehen und nicht übersehen — dieses in vielen schwülen, faulenden Sommern gewachsene Weltgewitter i n uns Europäern —, dann wird ein erwachender Christ ebenso wie ein erwachender Nichtchrist dem greisen Mahner in Basel danken; danken können.

Wir haben zuviel über „Gott“ geredet und zuwenig den Menschen bedacht und umsorgt.

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