Jedem Blödsinn hinterher

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Das Gestrüpp von John Irvings Einfällen wuchert so üppig wie der Beziehungsdschungel seiner neuen Hauptfigur.

Sonderberichterstatter Patrick Wallingford fliegt nach Japan, um wenige nichtssagende Minuten über eine Tagung über die Zukunft der Frau zu drehen, er wird nach Berlin gehetzt, weil ein Verrückter einen Hund in die Luft gesprengt hat, er soll nach Australien eilen, wo sich ein Computertechniker auf Grund einer Wette zu Tode gesoffen hat, man will ihm sogar zumuten, eine Reportage über einen Soldaten zu machen, der beim Wettspucken vom Balkon gefallen ist. Als Alternative käme auch die Frau in Südengland in Frage, die von ihren Schafen über den Rand einer Klippe gedrängt wurde. Flugkosten spielen keine Rolle. Die Einschaltziffern sind alles. Dafür ist kein Blödsinn zu blöd, keine Trivialität zu trivial.

Die Hauptfigur in John Irvings jüngstem Roman "Die vierte Hand" arbeitet bei einem New Yorker Fernsehsender mit dem Spitznamen "Apocalypse International". Der Riecher für alles, was irgendwann irgendwo schiefgehen könnte, ist sein Kapital. Er selbst hört auf die Spitznamen "Katastrophenmann" und "Löwenmann", seit er sich in Indien beim Versuch, eine schöne Brüllspende von einem Zirkuslöwen zu erlangen, von selbigem vor laufender Kamera die linke Hand samt Mikrofon abbeißen ließ. Die Bilder gehen seit Jahren immer wieder einmal um die Welt. Seine Anziehungskraft aufs andere Geschlecht hat unter der Entstellung nicht gelitten, und diese Anziehungskraft ist gewaltig.

Patrick Wallingford hat es nicht nötig, Frauen zu verführen. Er wird am laufenden Band verführt. Jahre nach dem Unfall wird ihm eine fremde Hand angenäht, die aber auch nicht lang hält. Die Herumfliegerei ist ihm längst zuwider. Und er schafft den Aufstieg zum Moderator der Abendnachrichten.

"Au weia, eine Schreierin und eine Kratzerin" denkt er nun, während er noch schnell mit der Maskenbildnerin Angie schläft, was unvorsichtig ist, weil er am folgenden Morgen nach Wisconsin fliegt, um Mrs. Clausen seinen Heiratsantrag zu machen. Und da die primäre Aufgabe des Romanautors bekanntlich darin besteht, seine Figuren in die unmöglichsten Situationen zu hetzen, zerkratzt ihm Angie nicht nur den Rücken, sondern kratzt ihm auch um ein Haar mittendrin ab, weil ihr der Kaugummi, ohne den bei ihr grundsätzlich nichts läuft, in die Luftröhre gerät und höchste Todesnot ist, was er für das ultimative Lustgestöhn hält. Die Kratzer und das von Angies Zähnen herrührende Hämatom an der Schulter sind am nächsten Tag nur ein kleiner Teil seines Erklärungsbedarfs. Dass er am Vortag versucht hat, der Fernsehredakteurin Mary, die ihm schon lang nachstellt, das gewünschte Kind zu machen, läuft auch unter Erklärungsbedarf. Da Mary nicht nur genau weiss, dass er zu Hause ist, sondern auch, mit wem er es gerade treibt, würzen ihre auf den Anrufbeantworter gesprochenen Beschimpfungen das lautstarke Schäferstündchen.

Wallingford schläft mit Angie nicht nur, weil er scharf auf sie ist. Er hat nach dem halbherzigen Kindermachversuch mit Mary, mit dem er sich doch eigentlich vom Junggesellendasein verabschieden wollte, auch eine ziemliche Wut auf sie, denn ihr mit Karrieregeflüster untermischtes Liebesgeflüster hat ihm die Augen über ihre Absichten geöffnet. Sie möchte nicht nur ein Kind von ihm, sondern auch gleich seine Wohnung und seinen Job als Moderator der Abendnachrichten. Und da sie sich als überaus gefinkeltes Luder erweist, hat sie den Job auch am Ende.

Wie John Irving zwischen den Sexnummern den amerikanischen Fernsehalltag auf die Schaufel nimmt, das ist lesenswert. Purer Realismus, wenn er beschreibt, wie der Reporter nach dem Absturz von John F. Kennedy jun. hohlen Blödsinn daherquatscht und dabei so tut, als käme er direkt aus dem Salon der Kennedys, während über einer Hecke ein Eck des Hauses zu sehen ist, das er nicht betreten hat, nie betreten wird und von dessen Bewohnern niemand mit ihm spricht. Das Schema ist längst weltweiter TV-Alltag.

Purer Realismus auch Marys Lavieren zwischen TV-Produzenten und sonstigen Wichtigkeiten, von denen in den unteren Etagen der Hierarchie niemand weiß, wer wirklich etwas zu sagen hat.

Die Geschichte mit Angie ist die letzte Beinahe-Katastrophe, die Irving dem armen Wallingford zumutet. Denn von da an wird's moralisch. 320 Seiten lang war "Die vierte Hand" zwar anstößig, aber leidlich unterhaltsam. Auf den letzten hundert Seiten triumphiert die political correctness, dafür wird die Geschichte nun aber plötzlich herzschmerzromantisch und etwas fad. Wallingford lernt nicht nur Baby wickeln und Flascherl geben, sondern lässt sich auch von seinem Fernsehsender feuern, weil er vom widerlichen Sensationsjournalismus, von dem er - halb zwang man ihn, halb sank er hin - seit langem lebt, nun endgültig die Nase voll hat. Hach, wie pädagogisch.

Mrs. Clausen ist übrigens die Witwe jenes Mr. Clausen, dessen Hand Wallingford angenäht bekommen und die sein Immunsystem wieder abgestoßen hat. Mr. Clausen hat mit Mrs. Clausen kein Baby zusammengebracht und ihre Bedingung für die Handspende des toten Gatten war eine kleine Samenspende Patricks, von dem sie abgesehen davon zunächst nichts weiter wissen will, was sich dann aber gründlich ändert. Wallingford wird also New York verlassen, mit Mrs. Clausen leben und voraussichtlich an irgend einer der nahen Universitäten junge Leute lehren, wie man Nachrichten durchschaut. Er muss es ja wissen. Falls es nicht klappt, macht es auch nichts. Der Autor hat schönen Trost bereit: Er verhehlt uns nicht, dass Wallingford eigentlich genug auf der hohen Kante hat, um ein paar Jährchen sorgenfrei zu leben. Nun ja. So erhebt sich einer ja leicht aus den Niederungen des Sensationsgeschäfts.

Das Gestrüpp von John Irvings Einfällen wuchert so üppig und ist so undurchschaubar wie die Beziehungen Patrick Wallingfords. Immerhin hat Irving recherchiert. Er rekapituliert verschiedene gescheiterte Versuche, Hände zu transplantieren. Irving habe im Roman "Die vierte Hand" sein Schicksal literarisch verwertet, meinte Theo Kelz, der österreichische Polizist und Empfänger zweier fremder Hände, die nach wie vor funktionieren. Doch anders als einige andere reale Patienten wird Kelz nicht erwähnt, obwohl Irving längere Zeit in Österreich gelebt hat und Deutsch spricht.

Die dritte, tranplantierte Hand muß wieder weg, so viel ist klar. Wo bliebe sonst der Einfall mit der vierten, die nicht da ist, irgendwie aber doch da ist und eine Art spirituelles Sinnesorgan darstellt. Passte darum die Erwähnung einer geglückten Transplantation nicht ins Konzept?

DIE VIERTE HAND

Von John Irving

Übersetzung: Nikolaus Stingl

Diogenes Verlag, Zürich 2002

440 Seiten, geb., e 24,31

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