Jeder ist einmal Rimbaud

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Faszinierende Blicke in das Schreiben des Joseph-Breitbach-Preisträgers Georges-Arthur Goldschmidt.

Der in Paris lebende Schriftsteller, Essayist und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt ist ein literarischer Grenzgänger, der das Leben und Schreiben in zwei Ländern und Sprachen in eine eigene poetische Landschaft verwandelt hat. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft musste er Deutschland 1938 verlassen; die Vertreibung aus der deutschen Sprache wurde zur Quelle eines bedeutenden Werkes." Diese Sätze aus der Jury-Begründung für den Joseph-Breitbach-Preis 2005 - den mit 50.000 Euro höchstdotierten deutschen Literaturpreis -, der Goldschmidt am 30. September im Stadttheater Koblenz verliehen wird, treffen ganz besonders auch für sein neues Buch zu, das diese Woche erscheint. "Der Stoff des Schreibens", ursprünglich als Poetik-Vorlesung in Lyon geschrieben, hat nichts Insiderisches oder Theoretisches und ist nicht nur für die Kenner von Goldschmidts Werk von Interesse - dieses Buch ist das Erregendste und Intensivste, was seit langem über das Schreiben und die Sprache, über das Lesen, das Übersetzen und das Leben in zwei Sprachen geschrieben wurde.

Für Goldschmidt wurzelt das Schreiben in der Wirrung der Adoleszenz, in der prägenden ersten Erschütterung - Augenblicke intensiver Existenz, die jede(r) erfährt. "Jedes menschliche Wesen ... ist in einem Augenblick seines Lebens ein Rimbaud, ebenso reich, auf derselben Stufe der Erfülltheit, der Begeisterung und des Deliriums, in derselben Heftigkeit des Begehrens", ist Goldschmidt überzeugt und erzählt von daher die "Zufälle", die ihn dazu getrieben und es ihm ermöglicht haben, diesen Augenblick nicht vorübergehen zu lassen: von der Vertreibung aus Deutschland als Elfjähriger, von der Ausgesetztheit des Waisen, der seine Eltern nie mehr wieder sehen sollte, von den Züchtigungen und Demütigungen in der Adoleszenz und vor allem auch über seine französische "Lebenssprache". Die Einblicke in das "biographische Gewebe", das Goldschmidts Schreiben trägt, machen seinen Bilder- und Denkfluss authentisch, aber sie blitzen nur so kurz auf, dass er leicht übertragbar wird auf die eigenen Erfahrungen mit Sprache.

Mutter- und Lebenssprache

Goldschmidt geht aus vom Individuum, das "in letzter Instanz an nichts assimilierbar ist" und vom elementaren Ungenügen der Sprache: "dass die Wörter allein dasjenige zum Vorschein bringen, was sie verfehlen". Beides hängt zutiefst zusammen, denn "wir sind einander gegenseitig unfaßbar, und das ist der Randbezirk, aus dem das Schreiben gespeist wird und dem es zugleich zum Ausdruck verhilft". Und diese Individualisierung ist das Subversive der Literatur, sie "macht Schluß mit den geistlichen Direktorien und geistigen Gehorsamkeiten" und sie "führt die Wirrung ein in das Funktionsgetriebe, in den harmonischen, homogenen und vorgeschriebenen Ablauf. Die Harmonie, man weiß, womit das endet, nämlich mit der Gleichschaltung des Tausendjährigen Reichs." Schreiben fängt an mit dem Innewerden des Unterschieds, "mit der unüberwindlichen Schranke, die mich von meinem Nachbarn in der Metro trennt".

Gleichschalten lassen sich gerade die Sprachen nicht, die selbst "nur Widerschein" sind und an das Unsagbare stoßen. Goldschmidt, der allein siebzehn Bücher von Peter Handke übersetzt hat und selbst sowohl französisch als auch deutsch schreibt, weiß genau darum, "niemals in der anderen Sprache sagen zu können, was man in der einen sagt".

Wunden und Wunder

Es macht die Qualität von Goldschmidts Reflexionsfluss aus, dass er nicht von seinen Worten ablösbar ist und man daher ins Zitieren verfällt, weil man ihn nicht "zusammenfassen" kann, ohne ihm seine Leuchtkraft zu nehmen. Man muss sich darauf einlasen, ihm folgen, und wird dabei reichlich beschenkt: mit Erkenntnissen und sprechenden Zitaten, die sich wie nebenbei einstellen, vor allem aber mit einer Wende des Blicks in das eigene Innere, auf die Wunden und Wunder der Kindheit und die eigene Sprache.

Über das Schreiben zu schreiben, ist für viele Schriftsteller irgendwann mit wachsender Berühmtheit unumgänglich, über das Lesen zu schreiben ist eben wieder ein Modethema. Weitab davon hat Georges-Arthur Goldschmidt ohne den lähmenden Gestus des Bescheidwissens Sätze und Bilder gefunden, die sich lange über die Lektüre hinaus einbrennen und den Blick weiten auf das, was Literatur sein kann: nicht Freizeitvergnügen und Behübschung der Existenz, sondern der Ort, wo das Individuum zu sich selbst kommt, indem es den anderen wahrnimmt - in seinem unaufhebbaren und gerade darum produktiven Unterschied zu sich selbst.

DER STOFF DES SCHREIBENS

Von Georges-Arthur Goldschmidt

Aus dem Französischen von Klaus Bonn unter Mitwirkung des Verfassers

Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2005

174 Seiten, gebunden, e 20,40

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