Jeder Roman ein neues Universum

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Das neue Buch von Salman Rushdie bietet langsamen Lesern hohen Genuß - einige Kritiker haben sich wohl zu sehr beeilt.

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Das neue Buch von Salman Rushdie bietet langsamen Lesern hohen Genuß - einige Kritiker haben sich wohl zu sehr beeilt.

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Salman Rushdies Romane sind Bestseller, werden in Millionenauflagen gedruckt und verkauft - ob sie auch gelesen werden, darüber hat der Autor selbst seine Zweifel. Er ist für das Schreiben verantwortlich, der Verlag für das Marketing, die Leserinnen und Leser sollen in das Universum zwischen den Buchdeckeln eindringen. Vermittler zwischen Autor und Leser sind selten geworden, die Kritiker versuchen sich oft als besserer Autor zu präsentieren, die Auseinandersetzung mit dem Ergebnis eines oft jahrelangen schöpferischen Prozesses wird nur zu oft bloß vorgetäuscht. Bei Salman Rushdies neuem Buch gewinnt man jedenfalls diesen Eindruck.

Die Macht der Kunst, die stärker ist als die Liebe und der Tod, das ist der Kern des neuen, über 700 Seiten dicken Buches. Ist der Ausgangspunkt der neuen Welterfindung des in Bombay geborenen Autors, der, durch die Verfolgung und das von Ayatollah Khomeini gegen ihn verkündete Todesurteil, zum Weltbürger geworden und heute in vielen Ländern und Kulturen zu Hause ist. Doch Rushdie lebt nicht nur in der Gegenwart, sondern versteht es, Begegnungen zwischen mythischen Gestalten des Abendlandes und denen der indischen Mythologie zu arrangieren. Orpheus und Eurydike begegnen uns in der Gestalt des Ormus Carma und der Sängerin Vina, Vertreter einer weltumspannenden Populärkultur, Ikonen des Pop, die im realen Leben Madonna, Cher, Michael Jackson oder Mike Jagger heißen mögen, auf der Tour durch die Welt. Doch ist es Kunst, was sie produzieren? Salman Rushdie schafft es, dies als Kunst zu verkaufen, und er erschafft nicht nur diese Welt neu, sondern es gelingt ihm, die Vertreter der heutigen populären Musikkultur ohne Probleme in Beziehung zu antiken Vorbildern zu setzen.

Rushdie fordert Zeit Der Kritiker des "Spiegel" sieht in dieser Himmelfahrt für den Pop bloß einen miesen Kulissenzauber mit einer Häufung von Klischees. Dabei gelingt ihm aber nur eine sehr grobe und allgemeine Annäherung an Rushdies jüngstes Opus, zugleich liefert er aber auch das Stichwort, wie sich die Reise in diese Welt organisieren läßt. Lesen ist Reisen im Kopf. Das heißt: Man nehme sich Urlaub, um Rushdie zu lesen. Wer von seiner Firma und/oder Familie keine Woche Bildungsurlaub für das neue Buch bekommt, sollte zumindest ein literarisches Wochenende einplanen, um in diesem Kosmos festen Boden unter den Füßen zu finden. Um einen ersten schüchternen Blick in diese Rushdies Kopf entsprungene Welt zu werfen, muß man mindestens 30 Seiten lesen, und wer es nicht schafft, die ersten 150 Seiten in einem Zug zurückzulegen, der sollte lieber auf günstigere Umstände warten. Kunst wird hier zum Leben und Leben zur Kunst, das heißt, ohne Arbeit geht es nicht, ohne Lesearbeit.

Doch der Lohn ist hoch. Wer schafft es schon, zwischen so verschiedenen Welten, Kulturen und Zeiten hin und her zu springen? In der Fernsehgesellschaft heißt er Zappen, der ruhelose Wechsel zwischen den verschiedenen Kanälen. Auch Rushdie läßt seine Leserschaft zappen, doch statt Berieselung bietet er Anspielungen, Andeutungen und jede Menge schmale Pfade der Phantasie: "Vergegenwärtigen Sie sich, wenn Sie wollen, die sorgfältig ritualisierte (und, jawohl, heiratsbesessene) formelle Gesellschaft der Jane Austen, übertragen auf das übelriechende, rasant wachsende London, das Dickens liebte, so voller Chaos und Überraschungen, wie ein verfaulender Fisch von sich windenden Würmern wimmelt; spülen und tränken Sie das Ganze mit einem Shandy- und Arrak-Cocktail; färben Sie es mit Magenta, Zinnober, Scharlach, Limette; bestreuen Sie es mit Gaunern und Kupplern und Sie erhalten etwas Ähnliches wie meine fabelhafte Heimatstadt. Ich habe sie aufgegeben, das trifft zu; aber verlangen Sie nicht von mir, zu behaupten, es sei nicht eine wahrhafte Mordsstadt." Dies ist ein typisches Beispiel für Rushdies Stil und seine Meisterschaft, Bilder zu erschaffen. Poesie aus dem Zettelkasten meinen manche Kritiker dazu, doch schwingt dabei vielleicht auch Neid mit auf eine Bildungskultur, die lebt, die nach wie vor sehr viel mehr ist als ein musealer Dinosaurier.

Bombay ist bei und durch Rushdie das Zentrum der Welt. Doch neben dem Universum des letzten Romans gibt es noch ein anderes Universum, und wie einen dünnen Faden legt Rushdie die Spur zu seinem letzten Weltentwurf, zum Roman "Des Mauren letzter Seufzer", wenn er zufällig die Malerin Aurora Zogoiby auch in dieser neuen Welt auf einer Seite Fuß fassen läßt. Die Besetzung dieser Stadt und der Welt ist beachtlich auch in den Nebenrollen, wenn die Geschichte von Vina und Ormus und deren Familien aufgerollt wird, minutiös, Kapitel für Kapitel, oder wenn die Welt des Darius Xerxes Cama und seines Freimaurerbruders William Methwold samt ihren Studien der indoeuropäischen Mythen und in ihrer kolonialen Verkommenheit geschildert wird.

Der Showdown, der bei jedem Roman von Rushdie kommt, kommen muß, kündigt sich bereits früh an: "Diese Kleinstadt war ihr erstes Troja. Bombay sollte ihr zweites, der Rest ihres Lebens ihr drittes werden; und wo immer sie hinkam, da gab es Krieg. Männer kämpften um sie, und auf ihre Art war sie auch eine Helena." Die Kapitel schließen mit Donnerschlägen, zum Beispiel: "Er liebte sie wie ein Süchtiger: Je mehr er sie hatte, desto mehr brauchte er sie ... Er war ihre Ernsthaftigkeit, er war die Tiefe ihres Seins, aber er konnte nicht zugleich auch ihre Frivolität sein. Diese leichte Entspannung, diese Schlange im Garten war, das muß ich gestehen, ich" Gute kauen Muffins Auf das mythische Weltgewitter folgt die Normalität: "Zeit meines Lebens ist die Liebe zwischen Ormus und Vina das, was meinem Wissen über das Mythische, das Erhoffte, das Göttliche am nächsten kommt. Nun, da sie nicht mehr unter uns sind, ist das große Drama beendet. Was bleibt, ist das normale menschliche Leben ... Die Guten trinken Orangensaft und kauen Muffins. Hier gibt es ganz normale menschliche Liebe unter meinen Füßen. Stürze ein, wenn du es mußt, verächtliche Erde, schmelzt, ihr Felsen, bebt, ihr Steine. Ich halte meinen Stand genau hier."

In einer Welt, in der sich alles auflöst, alles von Zerstörung bedroht ist, bleibt nur noch ein kleiner Flecken, ein Felsen, auf dem es zu bauen gilt, vielleicht ist dieser Felsen die Kunst oder die Liebe, eine normale Liebe: "Ich halte meinen Stand, genau hier. Dies ist es, was ich entdeckt, wofür ich gearbeitet und was ich verdient habe. Dies gehört mir."

Ein mageres Ergebnis, nach einer so langen Reise? Der Angelpunkt eines Universums ist der Standplatz, und wenn der nicht fest ist, hat es keinen Sinn, aufzubrechen und zu versuchen, es besser zu machen. Romane können versponnen und kompliziert sein, Wahrheiten haben dies nicht nötig.

Der Boden unter ihren Füssen. Roman von Salman Rushdie. Kindler Verlag, München 1999. 742 Seiten, geb., öS 365,-/e 26,44

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