6539405-1946_32_11.jpg
Digital In Arbeit

Jedermann

Werbung
Werbung
Werbung

Als im Jahre 1920 zum erstenmal in Salzburg Festspiele gefeiert wurden, war es Max Reinhardt, der den großartigen Rahmen des Domplatzes für Hofmannsthals gewaltiges Spiel vom Leben und Sterben des reichen Mannes wählte und in einer gewaltigeinfachen Inszenierung den besten Spielplatz schuf, der möglich war. Seit“ damals kämpfen alle Theater, die das Werk aufführen wollen, vergebens gegen diese wie für „Jedermann“ geschaffene einmalige Kulisse, ohne je nennenswert an sie heranreichen zu können. 18 Jahre kamen die Menschen aus aller Welt, um dieses Werk, bei dem es den besten Schauspielern eine Ehre war, mitspielen zu dürfen, sehen und erleben zu können. Und alle hatten, wenn sie Salzburg verließen, eine unauslöschbare, tiefe Erinnerung im Herzen. Schon die Stadt selbst, die mit Recht zu den schönsten der Welt gezählt werden kann, hinterließ einen bleibenden Eindruck. Jede ihrer Gassen, ihre Häuser und Plätze strahlten eine uralte, tiefe Kultur aus, die aber nie aufdringlich wirkte, sondern ein selbstverständlicher Bestandteil ihrer selbst zu sein schien. Vergangenheit und Gegenwart, Altes und Neues, sind hier zu einem untrennbaren Ganzen verschmolzen. Und bald nach der Ankunft war man über den Domplatz gegangen. Grell hatte die wanm Mittagssonne herabgebrannt, und manch einer schüttelte leise ungläubig den Kopf, wenn er daran dachte, was man ihm erzählt hatte. Wenn man „Jedermann“, so war ihm berichtet worden, einmal auf diesem Platz gesehen hat, dann soll man ihn sich lieber nirgends anders mehr ansehen, denn es wird immer nur ein schwacher Abglanz sein. Dann aber zog ein unerklärlich großer, herrlicher Zauber den Zweifelnden in seinen Bann. Und er spürte, daß die barocken Elemente, die unleugbar in dem Spiel liegen, nicht leicht irgendwie so voll und wahrhaft zum Ausdruck kommen können wie in dieser wirklich barocken Stadt. Als er aufstand und heimging, zweifelte auch er nicht mehr daran, wie herrlich diese Stadt der Dichtung gerecht wird.

In diesem Jahr sollen die Festspiele und in ihrem Mittelpunkt der „Jedermann“ wieder im alten Glanz neu erstehen. Es lockt, seine Gedanken weit in die Vergangenheit, ins tiefe Mittelalter, ja noch weiter zurück nach Indien schweifen zu lassen und Ursprung und Entwicklung des „Jedermann“-Spieles zu ergründen. Wie selten wurzelt diese Dichtung fest im geistigen Besitztum aller Zeiten und Völker. Ein menschliches Problem, das in der ewig fortschreitenden Entwicklung des Menschengeschlechts, von Generation auf Generation vererbt, treu diese Entwicklung begleitet hat. Von Indien, der Wiege der menschlichen Kultur, ging es aus und kam auf der Völkerstraße über den Orient in alle Länder Europas. Buddhistische Parabeln erzählen von der Treue der Freunde. Nur der ist ein wahrhaft guter Freund, der zu uns hält auch dann, wenn uns die Welt in Stich läßt, auch wenn er bis jetzt von uns nur als halber Freund gewertet wurde. Rabbiner haben die Parabeln weitererzählt und ausgebaut. Von drei Freunden berichten sie uns. Der erste ist der Überfluß des Reichtums, der zweite die Liebe zum Gewinn, der dritte die guten Werke, der Glaube, die Hoffnung. Nur dieser dritte, verachtete steht uns bei in der Not. Zum erstenmal wurde um das Jahr 620 ein Ansatz zur Deutung dieser Parabeln unternomitnen. In den Aufzeichnungen eines Mönches, namens Johannes, findet sich ein Theaterstück mit dem Titel: „Barbaam und Josaphat“. Alle bisher gewonnene Erkenntnis über dieses ewige Thema ist darin enthalten. Allmählich wandelte sich der Gedanke, reifte mit dem Menschengeschlecht und gewann eine Form, die man vielleicht am besten folgendermaßen ausdrückt: Tue bei Lebzeiten Gutes, damit Dir nach dem Tod Gutes widerfahre. Und daraus entspringend die Schlußfolgerung: nur gute Werke helfen nach dem Tod.

Das Mittelalter brachte einen neuen eigenen Gedanken zu dem vorhandenen Komplex hinzu. Der Schrecken des Todes war ein Hauptthema des Lebens und der Dichtung des 14. und 15. Jahrhunderts. Von Frankreich nahm diese Haltung im 13. Jahrhundert ihren Ausgang und verbreitete sich rasch. Unzählige Lazarusspiele und Totenmysterien entstanden. Erst traten die Toten selbst auf und sprachen zu den Menschen, später war es nur mehr „der Tod“. Die christliche Rechtfertigungslehre wurde personifiziert und nach einem gottergebenen und wohlgefälligen Erdenwandel nicht ewiger Tod, sondern ewiges Leben versprochen. Die beste organische Verschmelzung dieser beiden großen Gedanken: indische Parabel Weisheit und religiös-mittelalterlicher Jenseitsgedanke, fand 1477 Peter Dorland von Diest in seinem „Elckerlyck“, der von 1529 bis 1536 in Antwerpen aufgeführt wurde. Die schönste Gestaltung dieses ewigen Themas vor Hofmannsthal aber gelang einem katholischen Geistlichen Englands. Eng an die niederländische Dichtung lehnte sich seine Übersetzung an, der er den Namen „everyman“ verlieh. Es ist ein echtes Moralitätenstück, in dem folgende Personen auftreten: Bote, Gott, Tod, Jedweder, Geselle, Sippschaft, der Besitz, die guten Werke, das Bekenntnis, die Beichte, Schönheit, Stärke, Verstand, die ist es, die, den mittelalterlichen Forderungen entsprechend, die moralische Schlußzusammenfassung, das Resume, zieht. Schon aus dem Personenverzeichnis ist ersichtlich, wie stark Hofmannsthal dieses Vorbild benutzte. Doch bis das zu ihm kam, machte es noch weitere beträchtliche Wandlungen durch, die dann allerdings von dem Dichter vielfach wieder aus dem Stoff entfernt wurden, wodurch die Ähnlichkeit mit dem „everyman“ wieder eine größere und die ursprünglichen, dann verfälschten Gedanken wieder klarer sichtbar wurden. Die fortschreitende Entwicklung des Mittelalters bewirkte jedoch zunädist, daß nicht nur dem Zug der Zeit gemäß eine starke realistische Ausmalung der Einzelzüge stattfand, sondern brachte auch tagesgebundene Probleme und Gedanken in das Werk. Unter der zunehmenden Verrohung der Dichtung in dieser Zeit litt auch der „Jedermann“ stark, und erst im Jesuitendrama gewann der Stoff seine Würde wieder zurück. Wohl gab es in den folgenden Jahrzehnten hie und da Volksstücke und unbedeutende Dichtungen über dieses Thema, aber im allgemeinen lag Ruhe darüber gebreitet. Hofmannsthal war es, der den „Jedermann“ erneuerte und seinem Werk ein Vorwort voraussetzte, in dem er unter anderem folgendes schrieb:

„Alle diese Aufschreibungen (gemeint sind die erhaltenen Jedermanndichtungen) stehen nicht in dem Besitz, den man als den lebendigen des deutschen Volkes bezeichnen kann, sondern sie treiben im toten Wasser des gelehrten Besitzstandes aller Völker. Darum wurde hier versucht, dieses allen Zeiten zugehörige und allgemeingültige Märchen abermals in Besdieidenheit aufzuzeichnen. Vielleicht geschieht es zum letzten Mal, vielleicht muß es später durch den Zugehörigen einer künftigen Zeit noch einmal geschehen.“

Ob der Dichter mit diesem letzten Satz recht hat oder nicht, können wir auch heute noch nicht sagen. Daß seine Dichtung aber die bis jetzt reifste ist, kann mit fester Überzeugung behauptet werden. Alles Beengte und Beengende, alles nur zeitlich Gebundene hat Hofmannsthal überwunden und ist zu einer allgemeingültigen Form gelangt. Zahlreiche Motive, das Gerüst und eine Unzahl unersetzlicher symbolischer Züge hat er vom „everyman“ übernommen. Eine Unzahl feiner Einzelzüge aber und die so innig und mit soviel Liebe gezeichnete Gestalt der Mutter, die zum Symbol aller Mütter wurde, stammen von Hofmannsthal selbst. Krasse äußerliche Vorgänge hat er ins Seelische übertragen und verinnerlicht, was nur möglich war. So ist jene unsterbliche EHchtung entstanden, die gerade heute dem durch die Schrecken des Krieges wieder mehr verinnerlichten Menschen neuen kostbaren Gewinn bringt und ihm hilft, nicht ungläubig zu werden an der unerschöpflichen Gnade, Güte und Weisheit Gottes.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung