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Jenseits alter Maximen (II)

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Diese jugoslawischen Marxisten möchten Marx entmythologisieren und den Menschen wieder auf seine personale Verantwortung im Hier und Heute verweisen, die er nach ihrer Ansicht als Sozialist nur in einem System demokratischer gesellschaftlicher Selbstverwaltung wahrnehmen kann. Grlic schreibt: „Es kann keine Kaserne sein, die uns in die gedankliche Befreiung einführt, nicht die Herrschaft hinterhältiger ideeller Direktiven, Denunziationen und moralisch zerknitterter Spitzel, die uns zu selbständigen Persönlichkeiten macht, es kann weder ein Reich des Hauses sein, das uns der Liebe näher bringt, noch der Polizei, die die Freiheit ermöglicht, oder des Inhumanen, das dem Humanum die Türen öffnet.”

Stimme eines „Konvertiten”

Die Marxisten Osteuropas, die sich an der großen Diskussion über die bisherigen Fehlleistungen des Marxismus, die Lücken in der Theorie von Marx und die Notwendigkeit einer Anpassung des Marxismus an eine seit Marx weitgehend verwandelte Welt beteiligen, können sich verständlicherweise nicht so deutlich äußern wie ihre Kollegen in Westeuropa oder in Jugoslawien. Aber wer zu lesen versteht, der entdeckt, daß auch unter ihnen manche sind, die nicht minder radikal denken. So hat etwa der polnische Parteiphilosoph Adam Schaff, der in früheren Schriften dem Ungeist des Stalinismus auf befremdende Weise seinen Tribut entrichtet hatte, inzwischen eine Konversion erlebt, die ihn heute sogar in Konflikt mit der Partei bringt.

In einem Aufsatz „Mensch und Geschichte. — Das Problem der Freiheit” (Marxistische Blätter H. 2,1965) erklärt Schaff, geistiges Schaffen sei „ohne Freiheit, das heißt ohne die Möglichkeit der freien Wahl geradezu unmöglich”. Die Diktatur des Proletariats sei eine Übergangszeit, in der die Freiheit beschränkt werden müsse, doch müsse man sich über die Tatsache dieser Beschränkung vollkommen im klaren sein, ebenso wie über „diie Notwendigkeit der größtmöglichen Beschleunigung ihrer Aufhebung”. Schaff wendet sich an den marxistischen Politiker, der doch wisse, „daß ohne die Freiheit der Diskussion und der Forschung der Marxismus verknöchert und aufhört, sich weiterzuentwik- keln”. Und er stellt ihm die Frage, Warum er eigentlich „gegen die Entstehung von verschiedenen marxistischen Schulen” sei.

Besonders angriffslustig sind vor allem die Theoretiker der Tschechoslowakei. So weist etwa der Philosoph Karei Kosik (in „Recherches internationales ä la lumiėre du marxisme”, H. 46, 1965) darauf hin, daß man im Marxismus bisher den Menschen vergessen habe. Wenn man die materialistische Dialektik auf Marx selbst anwende, ergebe sich als erstes Resultat die Erkenntnis, daß nicht nur im Kapitalismus, sondern auch im Sozialismus ein Widerspruch zwischen moralischem Verhalten und geschichtlichem Tun des Menschen bestehe. Dieser Widerspruch sei also nicht an die Klassenstruktur der Menschen gebunden.

Wie die früher erwähnten Jugoslawen wendet Kosik sich gegen eine Fetischisierung der Geschichte, die zum „brutalen Amoralismus führe. Gleichzeitig meint er, daß eine Moral, die von der Existenz der Klassen keine Notiz nehme, sich zur Impotenz verurteile. Aber sein Kampf gilt vor allem einer blinden Zukunfts gläubigkeit, die die Gegenwart entwertet und die er einen hypokritischen Pessimismus, ja sogar einen Nihilismus nennt. Doch von eben dieser blinden Zukunftsgläubigkeit war der Marxismus — von Marx selbst an — bis heute getragen. In einer Welt aber, die alles nur von der Zukunft erwartet und die Gegenwart zum Provisorium erklärt, „ist das Leben des Menschen sinnlos geworden und die gegenseitigen Beziehungen der Menschen konstituieren sich als absolute Indifferenz”.

Staat und Individuum

Ein anderer Tscheche, Z denek Mlynar, hat sich hingesetzt, um auf Grund der Erfahrungen mit dem Stalinismus die Beziehungen zwischen Staat und Individuum zu untersuchen. (In der erwähnten Nummer von „Recherches internationales…”) Mlynar geht aus von dem Erlebnis eines Genossen zur Stalinzeit, der verpflichtet war, dem Hauswart jede Person zu melden, die bei ihm eine Nacht verbrachte. Dieser Genosse habe sich natürlich Fragen gestellt. Warum interessierte’sich das Innenministerium dafür, daß „sie” am Donnerstag Abend über zehn Uhr hinaus bei ihm geblieben war? Zwar arbeitete er in einem sozialistischen Betrieb und empfand somit nicht mehr ein Gefühl absoluter Ungleichheit wie man es früher gegenüber den Ausbeutern empfunden hatte. Aber was den Staait anbelangt, sah er sich vor dieselben Probleme gestellt, die ein Gogol in seiner Kritik der Stupidität der zaristischen Polizei beschrieben hatte. Eine paradoxe Situation also.

Stalin: Keine Ausrede

Mit Stalins „Personenkult” allein sei diese Situation nicht zu erklären. „Stalin ist nicht die einzige Erklärung für die Entwicklung der Beziehungen zwischen Staat und Mensch im Verlaufe dieser letzten Jahre. „Sogar wenn es keinen Stalin gegeben hätte, sogar wenn der Sozialismus nicht ausgerechnet in triumphiert hätte, hätten sich dieselben Probleme gestellt. Mlynar meint, die sozialistische Revolution enthalte als solche eine Tendenz zu einer solchen „laster haften” Verneinung der Menschenwürde durch den Staat. Und zwar deshalb, weil es das erste Ziel der Revolution sei, die Macht zu ergreifen. Die Revolutionäre seien dann so begeistert von ihrem Erfolg, daß ihnen alles übrige als ein Kinderspiel erscheine: man kennt das Ideal, das zu verwirklichen ist, und es kommt nur noch darauf an, die Macht richtig einzusetzen.

So werden sie dazu verführt, die Staatsmacht mit dem „göttlichen Schwert” zu verwechseln, und zu vergessen, daß die Revolution um der Menschen willen gemacht wurde. Mit dem Resultat, daß diese Menschen — wie der zitierte Genosse — die ihnen von der Revolution geschenkte soziale Freiheit als etwas Fiktives zu betrachten beginnen, und sich immer mehr der liberalen Auffassung vom „homme-citoyen”, also dem Bürger zuwenden.

Mlynar gelangte zu dem Schluß, daß man diesem Staat „korrekt festgelegte juristische Grenzen” setzen müsse. Der Mensch müsse ein „sehr präzises juristisches Statut” erhalten, das der Staat respektieren müsse. Und er ruft den Anbetern des Staates zu, daß der Sozialismus der „wirkliche Beginn eines Prozesses ist, in dessen Verlauf der Staat als eine dem Menschen fremde Macht aufgehoben wird”.

Der geopferte Mensch

Durch all die Aufsätze, die hier zitiert wurden — es handelt sich bloß um eine kleine Auslese aus der ständig wachsenden Fülle „revisionistischer” Literatur — zieht sich wie ein roter Faden ein Grundgedanke: der Mensch ist bei den bisher unternommenen Versuchen, den Marxismus zu verwirklichen, dem — teilweise sogar als illusorisch be- zeichneten — Fernziel einer idealen kommunistischen Gesellschaft geopfert worden. Im Extremfall, wie im Stalinismus, wurde er im Namen der Zukunft, der Geschichte, des Fortschrittes verheizt. Staat, Büro kratie und Partei fühlten sich als auserwählte Diener dieser Zukunft und glaubten, in deren Namen den Menschen hier und heute mißachten zü können. Wenn man sich an Marx’ Wort erinnert, es gelte, den Menschen zu retten, so muß man mit diesen Marxisten sägen: es gilt heute den Menschen vor denen zu retten, die ihn retten wollen.

Es wäre aber ein Irrtum, zu glauben, diese Marxisten tendierten zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zurück. Das ist keineswegs der Fall; sie suchen jedoch nach einem Weg, der es ermöglichen würde, die freiheitlich-demokratischen Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie einerseits zu wahren und andererseits auszubauen, und das heißt, die demokratische Selbstverwaltung auch auf das Gebiet des Sozialen und der Wirtschaft auszudehnen. Daß dabei Grundsätzliches von Marx über Bord geht, nehmen manche von ihnen in Kauf. Alles spricht dafür, daß wir uns erst ganz am Anfang dieser marxistischen Selbstbesinnung befinden, und es sind wohl noch große Überraschungen zu erwarten. Zwar haben diese fortschrittlichen Marxisten einen schweren Stand, da die „Dogmatiker” noch an allzuvielen Orten fest in Amt und Würden sitzen, aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Zukunft des Marxismus — falls dieser überhaupt noch eine Zukunft haben kann und will — jenen und nicht diesen gehört.

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