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JENSEITS DES NATURALISMUS

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Die Stücke, die nach dem letzten Krieg entstanden sind, versuchten vorwiegend Bereiche jenseits der äußeren Wirklichkeit darzustellen, um so ins Wesenhafte unseres Daseins vorzustoßen. Die französische Avantgarde — Beckett, Ionesco, Genet, Audiberti — war es vor allem, die sich hierin ausprägte. Doch seither ist eine Umkehr erfolgt, es gelangen mehr und mehr realistische, ja, naturalistische Stücke auf die Bretter, die keineswegs von Konventions- und Konfektionsschreibern stammen. Die Welle der antirealistischen Bühnenwerke ebbte ab.

Doch ehe man diese Stücke dem Realismus oder Naturalismus zuordnet, ist die Frage zu klären, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist. Es herrscht hierüber sonderbarerweise Unklarheit. O'Neill schrieb einst: „Wäre doch nur ein Genie groß genug, den Unterschied zwischen diesen beiden

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Begriffen zu definieren.“'-Bet einem Wiener, rR apd-feble-. Gespräch über Theaterfragen in der österreichischen Gesellschaft für Literatur, das Theaterleute und Kritiker aus Ost und West vereinte, gelang es den Diskutierenden nicht, festzulegen, was Realismus sei. Man kann durchaus, wie es da geschah, das Absurde als Realität erklären, aber man darf deshalb keineswegs das absurde Drama in den Realismus einbeziehen, soll dieser Begriff nicht jeden Sinn verlieren. Das absurde Drama übersteigert die Absurdität des Realen, um sie kraß zu Bewußtsein zu bringen.

Doch bedarf es keines Genies zur Klärung der Begriffe Realismus und Naturalismus. Von Realismus kann man sprechen, wenn in der Wiedergabe der Wirklichkeit, wie sie dem Materialisten und dem Durchschnittsmenschen erscheint, eine innere Wirklichkeit, ein Dahinter ungehöht dargestellt wird. Das nur äußerlich Charakterisierende, Beiläufige, Banale gehört dem Naturalismus zu.

In dieser Situation ist es bezeichnend, daß der junge Martin

Sperr mit seinen naturalistischen Stücken, den „Jagdszenen aus Niederbayern“ und den „Landshuter Erzählungen“, von manchen Kritikern heute geradezu als der Kronprinz der deutschen Dramatik angesehen wird. Auch Jochen Ziem hat mit Stücken, die sich gleichfalls dem Naturalismus zuordnen, die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Daß der Naturalismus einen möglichst getreuen Abklatsch der äußeren Wirklichkeit biete, dieser Feststellung widerspricht Ziem keineswegs, ja, er erklärt, er wolle nicht erfinden, denn das hieße — seiner Meinung nach — ungenau zu werden. Ihm geht es um „konkrete, überprüfbare Informationen“ und so fragt er: „Weshalb nicht abphotographieren?“ Er will Stücke aus Tonbandaufnahmen des Alltagslebens montieren, der Autor ist für ihn ein Toningenieur am Schaltbrett, ein Bildregisseur am Mischpult. Ja, Ziem verweist darauf, daß seine Verhaltensweisen „Nachrichten aus der Provinz“ bereits so entstanden seien.

Damit unterscheidet sich dieser Naturalismus in den Ausdrucksmitteln nicht grundsätzlich von dem der Jahrhundertwende, sie sind für illusionistische Handlungsgefüge gewohnter Art eingesetzt. Das Unverknappte, Ungehöhte, das Beiläufige und Banale, das Klischee der Sprache wird ebenso verwendet wie damals. Daß sich der Autor hiebei allenfalls technischer Hilfsmittel bedient, um das „Material“ zu sammeln, ist unerheblich. Doch besteht der Unterschied im Gehalt der Szenen. Das Drama „Die Familie Selicke“ von Arno Holz und Johannes Schlaf weckt im Zuschauer ein tiefes Mitgefühl mit den vorgeführten Menschen, nicht anders ist dies bei den „Webern“ von Gerhart Hauptmann der Fall. Der Dramatiker war damals noch der Anwalt seiner Gestalten.

In „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ dagegen setzt Albee krassen Naturalismus für die Darstellung eines rüde geführten Ehekampfes ein, der, unter Intellektuellen geführt, besonders abstößt und zugleich durch die Penetranz, mit der bestehende Zustände entblößt werden, fasziniert. Ein widerwärtiges, naturalistisch durchgezeichnetes Familienbild bietet Harold Pinter in dem Stück „Die Heimkehr“, ohne daß dahinter irgendeine Idee sichtbar wird. Jenseits des bewußten, schockieren wollenden Hervorkehrens von Abscheulichkeiten ist die Wendung zum Naturalismus bei Pinter, der wie Albee in der Nachfolge Ionescos Erfolg hatte, für die heutige Situation bemerkenswert. In den „Landshuter Erzählungen“ wird an Niederträchtigkeit zusammengetragen, was nur denkbar ist.

Nimmt man weitere Bühnenwerke hinzu, etwa das Stück „Der Spaßvogel“ von Brendan Behan, das einen Einblick in ein Gefangenenhaus bietet, wobei ausschließlich die Gespräche der Insassen vor und während einer Hinrichtung wiedergegeben werden, weiters das Stück „Die Küche“ von Arnold Wesker, in dem das Getriebe einer Hotelküche ersteht und das Stück „Hotel Iphigenie“ von Michel Vinaver, das uns das Leben in einem von französischem Personal geführten Touristenhotel bei Mykenä vorführt, so lassen sich auch diese Bühnenwerke kaum den realistischen oder naturalistischen Stücken von früher zuordnen. Die meisten unterscheiden sich von ihnen durch die geringe oder völlig fehlende Handlung und erweisen damit den Ansatz zu einer neuen Entwicklung in diesem, der äußeren Wirklichkeit verhafteten Darstellungsbereich. Bezeichnet man als aristotelisch jene Bühnenwerke, für die der Grundsatz des Aristoteles gilt, wonach die Fabel, also die Handlung, das erste sei, so sind dies antiaristotelische realistische oder naturalistische Stücke, die wohl kaum ohne die antirealistischen Werke der französischen Avantgarde entstanden wären, von denen sie wohl die Handlungsarmut oder Handlungslosigkeit übernahmen.

Gegen Realismus und Naturalismus gibt es gewichtige Einwände. Delacroix behauptete, der Realismus sei der Antipode der Kunst. Der Österreicher Alfred Freiherr von Berger, Universitätsprofessor für Philosophie, Direktor des Deutschen. Schauspielhauses in Hamburg und später, vor dem ersten Weltkrieg, Direktor des Burgtheaters, erklärte: „Wer darauf verzichtet, das Wesen der Welt, den Sinn des Schicksals auch nur ahnend metaphysisch oder religiös zu begreifen, dem bleibt nichts übrig, als sich an die gegebene Wirklichkeit zu halten und diese so naturwahr als möglich abzubilden.“ Halten wir fest: Wer auf all das verzichtet, richtiger, wer all das nicht sehen, nicht erkennen will oder kann, dem bleibt nur die gegebene äußere Wirklichkeit. Und als Hermann Bahr im Jahr 1891 die „Überwindung des Naturalismus“ schrieb, faßte er diese Kunstrichtung als einen Zwischenakt auf.

Nun, als Zwischenakt erweisen sich zunächst die neonaturalistischen Bestrebungen keineswegs. Es zeigt sich hingegen ein auffallender Trend eines Teils der Dramatiker nach der Realität, der Realismus des Bühnenvorgangs genügt nicht, er soll durch reale Vorgänge aus der Außenwelt beglaubigt sein. Es entstehen, vor allem in Westdeutschland, Dokumentarstücke, bei denen es um eine rückbezügliche Authentizität mit stattgehabten Ereignissen geht, mag sie erreicht, werden oder nicht. Das.Drama bemächtigt sich der Realität unmittelbar, sei es streckenweit oder zur Gänze, durch das geraffte Verwenden etwa von Protokollen stattgehabter Gespräche, Verhöre oder Gerichtsverhandlungen. Man denke an den „Stellvertreter“ und die „Soldaten“ von Rolf Hochhuth, an den szenischen Bericht „In der Sache J. Robert Oppenheimer“ von Heinar Kipphardt, an die „Ermittlung“ von Robert Weiss, aber auch an zahlreiche andere Stücke.

Hier wird der Naturalismus noch über sich hinausgetrieben, ja, aufgelöst, man begnügt sich nicht mit dem möglichst naturgetreuen Abbild, man interpretiert die Wirklichkeit mit ihr selbst. Das zeigt die Gewalt, mit der die Welt des unmittelbar Realen wieder zu wirken beginnt. Bei dem „Literarischen Kolloqium Berlin“, das im Herbst 1967 stattfand, erklärte Hochhuth im Gegensatz zur Feststellung Lessings, daß der Dichter nicht Herr, sondern der Knecht der Geschichte sei, daß er sich an die historischen Tatsachen halten müsse. Er übersieht nur dabei, wie sehr die „Tatsachen“ sehr oft umstritten sind, wodurch sich eine ganz persönliche Auffassung des Dargestellten notgedrungen ergibt.

Das „authentische“, unmittelbar der Wirklichkeit oder irgendwelchen fremden Aufzeichnungen in Bruchstücken entnommene Material läßt sich aber auch anders montieren, wobei es nicht nur die Vorführung einer bestimmten Geschehnisfolge, sondern um tendenziöse Propaganda mit mehr oder weniger dokumentarischen Mitteln geht, wie dies beim „Gesang vom lusitanischen Popanz“' von Peter Weiss oder in „Vietrock“ von Megan Terry und in anderen Stücken der Fall ist. Die Einheit der Handlung ist aufgelockert oder aufgelassen, die Schauspieler stellen kaum noch individualisierte Gestalten dar, ja, mitunter übernehmen sie vor dem Zuschauer fast übergangslos verschiedene Rollen. Es sind das Stücke, die dadurch in ihrer Technik an Collagen, an dadaistische Werke gemahnen, daß sie Teile der Realität neuartig zusammenfügen.

Auch nach Ansicht von Peter Weiss enthält sich das dokumentarische Theater, worunter er wohl auch diese Stücke versteht, jeder Erfindung, doch spricht er von kritischer Auswahl, die das Material, im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet, übernimmt, wobei das Prinzip, nach dem die Fragmente der Wirklichkeit montiert werden, die Qualität ergebe. Dokumentarisches Theater biete latenten Zündstoff, meint er, es sei parteiisch, führe keine versöhnlichen Züge bei den Gewalttätern vor, zeichne schwarzweiß. Damit wird die Dokumentation zu bewußter Einseitigkeit degradiert, scheidet somit als möglichst objektive Darstellung aus.

Das alles ist nicht neu. Schon im Jahr 1925 hatte Erwin

Piscator eine Aufführung geboten, die „eine einzige Montage von authentischen Reden, Aufsätzen, Zeitungsausschnitten, Aufrufen, Flugblättern, Photographien und Falmen des Krieges und der Revolution, von historischen Personen und Szenen“ war. Piscator zeigte sich stolz darauf, daß das Theater „ein einziger großer Versammlungsraum, ein einziges großes Schlachtfeld, eine einzige große Demonstration“ wurde. Auch Bertolt Brecht zeigte ähnliche Bestrebungen, indem er in seine Stücke Rudimente der Funktionärs- wie auch der Vulgärsprache einsetzte.

Gegen diese Politik auf dem Theater wandte sich Peter Handke, der erklärte, jede Botschaft, jeder Lösungsvorschlag, jedes Anliegen werde durch das Spiel „verspielt“, führe zu Verlogenheit. Ein Sprechchor, der nicht auf der Straße, sondern auf dem Theater wirken wolle, werde zu Kitsch. Die Bretter seien für eine Änderung gesellschaftlicher Einrichtungen unbrauchbar. Tatsächlich hat das Theater nur sehr vereinzelt die politischen Vorgänge beeinflußt. Es ist auch nicht die Aufgabe der Bühne, zum Handeln außerhalb des Theaters aufzurufen, in die Kämpfe der Außenwelt einzugreifen, sondern die Kämpfe aus tieferer Sicht darzustellen.

Der Drang nach Faktizität wurde nun, nach der Phase, in der das Irreale ins Drama einbrach, so groß, daß eine Weiterentwicklung zum Realen hin, über das Heranholen von Realitätsteilen hinaus, erstrebenswert erscheint, indem man das Aufgeführte selbst als Realität erklärt. Martin Walser fordert, es sollte die Selbständigkeit gegenüber allem realen Vorkommen angestrebt werden. Was auf der Bühne vor sich gehe, sei selber Wirklichkeit, eine Wirklichkeit aber, die es nur auf ihr gebe, originales Leben. Dies würde eine Rück- bezügl'khkeit auf die Realität außerhalb vdęs, Theaters, auah r' schließen. Walser wird in Stücken zu zeigen haben, wie er sich dies vorstellt.

Max Frisch hat ähnliche Gedanken, er erklärt, man gehe nicht ins Theater als Voyeur. Er negiert die Gleichsetzung von Bühne und Leben und meint, das Theater vermöge, was das Leben nicht zulasse: Spiel. Dies sei die einzige Realität, die es auf der Bühne gebe. Da von Realität, von Wirklichkeit zu sprechen ist berechtigt, Meister Eckhart prägte das Wort „Wirklichkeit“' indem er es von actualitas, Wirksamkeit, ableitet. Nun, das Theater wirkt. Frischs Anwendung? In seinem Stück „Biografie: Ein Spiel“ wurden die Bretter zum Experimentierfeld für mögliche Verhaltensweisen. Doch schon viel früher hat Pirandello Spiel als Realität in seinem Stück „Sechs Personen suchen einen Autor“ geboten.

Der Drang, der Wirklichkeit habhaft zu werden, führt vom naturalistischen Abklatsch über Realitätsmontagen zur Schaffung einer eigenständigen Wirklichkeit, die statt der Realität außerhalb des Theaters, gleichsam parallel zu ihr, manifestiert werden soll. Doch steht sie nicht ohne Bezug zu ihr, da diese Realität der Bühne zum Vergleich mit der Realität der Außenwelt herausfordert und daraus ihren Wert bezieht. Erlangt das Stück Symbolkraft, wird die Bühnenrealität zur Sinndeutung der Außenrealität. Das aber ist nicht neu. Walsers und Frischs Forderungen reduzieren sich dann zu Fragen der Nomenklatur.

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