Booklet Nov 10-11

Jenseits des Textes lauert der Abgrund

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Der rumänische Erzähler Mircea Cărtărescu nimmt den Leser mit auf eine Reise auf dem fliegenden Teppich.

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Der rumänische Erzähler Mircea Cărtărescu nimmt den Leser mit auf eine Reise auf dem fliegenden Teppich.

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Mit einigem Missvergnügen ist zu beobachten, dass von politischen Beobachtern neuerdings gerne das Wort „Erzählung“ ins Spiel gebracht wird. Politiker und Parteien, so lautet die Forderung, hätten schlüssige „Erzählungen“ zu liefern oder, sollten sie solche vermissen lassen, sollten sich schleunigst welche zulegen. Davor kann man nur warnen! Erzählungen, also literarische Werke, die diese Bezeichnung verdienen, zielen auf Überredung, Verführung, Überwältigung. Oder, wie es im neuesten Text des echten und berufenen Erzählers Mircea Cărtărescu heißt: „auf Levitation über der Buchseite“. Erzählungen, politische wie literarische, das wollen wir hier festhalten, sind niemals harmlose Angelegenheiten!

Läuse, Wanzen und ein vereiterter Nabel – wer nach dem ersten Kapitel von Mircea Cărtărescus Roman „Solenoid“ hofft, dass damit das Schlimmste schon ausgestanden sei, irrt: Zwar geht es nach dem abstoßenden Entree etwas appetitlicher weiter, bald aber schon kündigt sich Gewaltiges an (was, wird hier nicht verraten) und gegen Ende hin (nach erschöpfenden 900 Seiten!) wird es geradezu haarsträubend! Unterwegs macht man Bekanntschaft mit „dem Weltmeister im kontrollierten Erhängen“ (einem Forensiker namens Nicolae Minovici, einer historischen Figur), oder man ist dem Geheimnis der bis heute nicht deutbaren Schriftzeichen des VoynichManuskriptes auf der Spur.

Dabei ist eigentlich alles ganz einfach: Cărtărescus Ich-Erzähler ist Rumänischlehrer an einer Bukarester Schule. Er träumt davon, ein bedeutender rumänischer Schriftsteller, Dichter und Autor, also jemand wie Mircea Cărtărescu, zu sein. Der Ansatz ist nicht frei von Eitelkeit, gibt dem realen Autor aber die Möglichkeit, neben all den phantastischen Schauerlichkeiten, die der Roman vor dem Leser ausbreitet, auch eine veritable Nicht-Karriere zu beschreiben, eine Poetologie ex negativo. Auch wenn da jeder seine eigenen Erfahrungen macht: Hier kann man lernen, wie man nicht Schriftsteller wird!

Die erste und letzte Lesung seines Helden etwa, der Vortrag eines Langgedichtes mit dem passenden Titel „Der Niedergang“ im Bukarester Literaturkreis „Der Mond“, illustriert das trefflich und die Beschreibung dieses Abends, die dankenswerterweise ohne phantastische Weiterungen auskommt, liest sich äußerst amüsant. Auch wenn es an anderer Stelle trotzig heißt „Ich werde ohnehin nicht mein ganzes Leben Lehrer bleiben“, so weiß man doch, dass genau das sein Schicksal ist.

Es gehört zu den Tricks des Autors, den Leser immer wieder in der Sicherheit einer realistischen Erzähl weise zu wiegen. Die Schule in der Bukarester Vorstadt etwa, an der der namenlose Held unterrichtet, wird genau lokalisiert, mit Straße, Straßenbahnverbindung und Aussehen – bis zu dem Moment, an dem wir erfahren, dass der Weg des Lehrers in die Klasse durch unendlich viele Gänge vorbei an unendlich vielen Klassenzimmern führt. Nun versteht man schon, dass der Autor hier ein Bild für die Tristesse des Schulalltags gesucht hat, aber man sollte gewarnt sein. Sicherheiten sind für Cărtărescu dazu da, unterlaufen zu werden.

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