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Jenseits von Oder und Neiße

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NACHBAR POLEN. Von Hantjakob Stehle. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt . M. 416 Seiten. Preis 72.50 S.

Die Zahl der über Polen in den letzten Jahren geschriebenen Bücher überschreitet gut ein Dutzend. Journalisten haben sich schon nach kurzen Reisen berufen gefühlt, ihre Eindrücke zu Büchern zu verarbeiten. Vertreter der politischen Theorie waren bemüht, Comulka und sein System in Buchform zu analysieren. Emigranten sind uns ihr Wiedersehen mit der alten Heintat nach dem „Oktober-Frühling 1956“ nicht schuldig geblieben. Alle diese Versuche — so bemüht sie auch sind — wiegen leicht, verglichen mit dem vorliegenden Buch.

Der langjährige Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in Warschau, Hansjakob Stehle (Jahrgang 1927), ist sein Verfasser. In ihm zieht er, nachdem er den Warschauer Posten mit Berlin vertauscht hat, die Summe seiner polnischen Jahre. Das Ergebnis ist für die deutschen Leser, die das polnische Volk zum Nachbarn haben, von hohem Interesse. Es verdient aber auch die Aufmerksamkeit aller, die sich über das Polen der Gegenwart orientieren wollen.

Hansjakob Stehles Polenberichte in der „Frankfurter Allgemeinen“ zeichneten sich schon seinerzeit durch Temperament, durch gründliche Sachkenntnis und Freiheit von Vorurteilen aus. All dies finden wir in dem vorliegenden Buch wieder. Besonderem Interesse können die, gleichsam als Exposition geschriebenen, Kapitel über die Rolle der Kommunistischen Partei und die Stellung der Kirche in „Volkspolen“ sicher sein. Bezeichnenderweise tragen sie beide denselben Titel: „Macht und Ohnmacht“. Hier werden keine Klischees angeboten. Im ersten Kapitel kommt Stehle zu dem Schluß, daß das, was man mitunter als „Gomulkismus“ zu bezeichnen pflegt, keineswegs eine „Demokratisierung“ des Kommunismus zum Ziel hat, sondern als eine Art kommunistischer „aufgeklärter Absolutismus“ gerade von der Distanz zu den Massen lebt, die man zwar über-herrscht, aber ansonsten in Ruhe läßt. „Arbeit für ein besseres Leben und Verteidigung der nationalen Interessen“ aber sind Parolen, die in breiten Kreisen einer guten Aufnahme sicher sein können.

Und die Kirche? An ihrer starken Stellung und ihrer festen Verankerung im polnischen Volk gibt es keinen Zweifel. Und dennoch . ,y Auch sie hat sich. mit dem. Phänomen des ,.Indifferentismus\imnjH mehr auseinanderzusetzen. Gerade darin erblickt Stehle auch den Schlüssel für das eigenartig komplexe Verhältnis kommunistischer Staat und katholische Kirche: „Beide Partner betrachten mit Sorge gewisse Phänomene der Gleichgültigkeit gegenüber ideellen Fragestellungen. Beide können es deshalb auf eine totale Entspannung nicht ankommen lassen, und beide können mit ihren Totalitätsansprüchen nicht ganz ernst machen, weil sie sonst wieder den großen Konflikt riskieren müßten, bei dem sie nicht sicher sein können, ob ihnen heute ihre Anhänger in der Gesellschaft bedingungslos folgen wUrden. Die Partei muß dabei außerdem ihre ideologische Schwäche berücksichtigen und die Kirche ihre theologische, welche ihr nicht erlaubt, die breiten gläubigen Volksmassen anders als auf jenem Gebiet anzusprechen, auf dem sie sich heute nicht bedrängt oder gar verfolgt fühlen: dem des Kultes und der Frömmigkeitsübungen“ (Seite 96). Der Verfasser kommt nicht leichtfertig zu solchen Schlußfolgerungen. Ihnen gehen Untersuchungen voraus, die sich wohl auf schriftliche und mündliche Quellen stützen und diese auch zu belegen wissen. Durch diese Methode erleuchtet er das gesamte polnische Leben der Gegenwart, nicht nur die Politik, die Wirtschaft ist ebensowenig ausgeklammert, wie die Kultur vergessen. Ein kleines Kabinettstück verdient gesondert erwähnt zu werden. Es ist dem beliebtesten polnischen Glücksspiel von heute, der Jagd nach einem Reisepaß, gewidmet. Fünf Seiten umfaßt dieses „Traum und Wirklichkeit: Der Reisepaß“ über-schriebene Kapitel nur, aber es ist vielleicht der polnischeste Abschnitt eines dem Polen von heute gewidmeten Buches.

Hansjakob Stehle zeigt nicht nur Sachkenntnis, nüchterne Beobachtungsgabe und mitunter Humor. Er hat auch Mut. Darum scheut er nicht, in einem abschließenden Kapitel das heißeste der heißen deutschen Eisen, die Oder-Neiße-Grenze und die

Ausgestaltung der deutsch-polnischen Beziehungen, anzufassen. Als einer, der mit der heutigen Situation in den ehemaligen deutschen Gebieten wohl vertraut ist, weiß er, daß eine Grenzverschiebung ohne neues Unrecht nicht mehr denkbar wäre. Er kennt auch die heftigen Gefühlsreak-tionen in Polen — und dies beileibe nicht nur unter Kommunisten — gegen selbst die kleinste Ungeschicklichkeit von deutscher Seite in Fragen dieses Problemkreises. Deshalb erkennt Stehle: „Das Hauptproblem deutscher Politik gegenüber Polen besteht daher heute mit Recht nicht so sehr in der formalen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, als vielmehr darin, den Gewaltverzicht mit allen im Grunde darin liegenden Konsequenzen glaubhaft zu machen.“ (Seite 349.)

Kein Wunder, daß der Vertreter der angesehenen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ bei gewissen Vertriebenenfunktionä-ren auch sogleich in den „Verdacht“ kam, ein verkappter Agent Gomulkas zu sein. Der Autor des vorliegenden instruktiven und mit großem Ernst geschriebenen Buches kann solches mit Fassung tragen.

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