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Jugend, Diktatur, Wirtschaftswunder

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„Die Sommerferien der Polizei sind auf ein Mindestmaß beschränkt worden.“

Das ist eine Pressemeldung, im Mai, aus New York. Die Riesenstadt, Symbol wirtschaftlicher Macht, hat Angst - vor ihrer Jugend. 1952 bis 1957 mußten in New York über 100.000 Jugendliche wegen Delikten, die vom Diebstahl zum Mord reichen, verhaftet werden. Mehr als 40.000 davon zählten noch keine 16 Jahre. Die Verbrechen Halbwüchsiger unter 18 Jahren haben seit 1952 um 55 Prozent zugenommen.

Die Sowjetunion veröffentlicht keine Statistiken vom kalten und, wie viele Straßenschlachten zeigen, auch hier heißen Krieg mit der Jugend. Sowjetische Blätter berichten aber immer wieder über jugendliches Gangstertum, Verbrechen, Trunksucht, staatsfeindliche Kritik, rebellische Ansichten dieser ihrer Jugend. Das alles in einem Atem. Wundern wir uns nicht zu leichthin über diese eigentümliche östliche Verbindung, in der da geistiger Widerstand, intellektuelle Verwehrung gegen die Diktatur und kriminelle Erhebung in einem Atem genannt werden. Gibt es nicht auch bei uns Pauschalurteile über unsere „Halbstarken“ und über unsere Jugend, die eine Fülle schwierigster Probleme, Lebensfragen der Gesellschaft von morgen, mit einigen verärgerten Handbewegungen, einem lautstarkeri Hinweis auf die Verschärfung der Gerichte und Einführung der Todesstrafe abtun wollen ... ?

Die Todesstrafe ist keine Lösung, keine Auflösung der Kriminalität unserer Zeit, die sich ausbreitet, wie die Leukämie (eintausend Todesfälle nach jeder großen Atomexplosion), wie der Krebs, wie andere epidemische Krankheiten des Leibes und der Seele in unserer Zeit. Die Befassung mit den kriminellen Jugendlichen .ist keine Lösung des Jugendproblems. Die relativ schmale, wenn auch bereits erschreckend große verbrecherische „Spitze“ des durch die Wellen unserer sich täglich wandelnden Weltmeer-Wirklichkeitr wandelnden Eisberges unserer Jugend weisfcauf die im Dunkel des Alltags verdeckten Massen der Jugend hin, die, nicht weniger gefährdet, versucht ist, und über deren morgiges Verhalten zur Wirklichkeit, nicht nur in Ernst- und Krisensituationen, wir schlechthin nichts wissen. Zum Dritten: die Frage nach unserer Jugend, unsere Zukunft, ist eine Teilfrage: sie kann richtig gestellt und richtig verstanden werden nur innerhalb der größeren Frage: wie verhalten uns wir, die gesamte Gesellschaft, zu einer Wirklichkeit, die sich täglich wandelt, die der Menschheit Abgründe und Chancen unerhörten, bisher kaum vorstellbaren Ausmaßes präsentiert?

Die Jugend der Welt reagiert, mitten in ihren Wirrnissen, wie die jungen Völker sehr realistisch, und sehr „total“ auf das, was sie da ergriffen sieht: diese Jugend und diese Völker lassen sich nicht abpeisen mit einer auch dick bestrichenen Schnitte vom Kuchen des Weltwirtschaftswunders (während die Erwachsenen in unseren „zivilisierten“ Ländern sich längst darauf eingestellt haben, auf den Sinn des Ganzen zu verzichten, wenn sie nur mit einem kleinen oder größeren Happen abgespeist werden). Weder Dollars (noch auch Rubel auf die Dauer) auch nicht „gutbezahlte“ Stellungen vermögen dieser Jugend und diesen jungen Völkern den tiefen Zorn, die tiefe Verwirrung darüber zu nehmen, die tiefe Verwirrung und Enttäuschung: da ihnen der Sinn des Ganzen fehlt.

Sie wissen nicht, wofür das alles gut ist.

Wofür leben? Wofür sterben? — Die Jugend der Welt hat nicht richtig leben gelernt; und eben deshalb hat der Tod, das Sterben für sie eben diese geringe Bedeutung. Wer nicht recht zu leben gelernt hat, weiß nicht, was sterben, was töten wirklich heißt. Das gilt für den in die SS gepreßten deutschen Jungen ebenso wie für den jungen Amerikaner, der einen sechzehnjährigen oder nach jüngeren Kameraden kaltblütig, stumpf ermordet hat: und dafür kalt und unbeteiligt in den Tod geht. Beiden fehlt die „Phantasie“, die rechte Einbildungskraft, die Herzenskraft und Geisteskraft, um dies zu ermessen: Größe und Würde des Menschen, des menschlichen Lebens, und Größe und Würde des Todes, des Sterbens.

Es ist sinnlos, einer Jugend, die ein rechtes seinserfülltes Leben nicht erfahren hat, den Tod abschreckend vorzustellen. Diese Jugend erschrickt da weit mehr vor dem 1 eben, dem Leben-Müssen in dieser „sinnlosen“ Welt, als vor einem schnellen Sterben. Dem entspricht auch genau das Ergebnis einer jüngst veröffentlichten amtlichen Kriminalstatistik aus Oesterreich: vor Abschaffung der Todesstrafe gab es in Oesterreich mehr Morde als nachher, seit 1950. Der Mörder, mag er nun ein Jugendlicher oder ein „Erwachsener“ (fast immer mit puber-tären Zügen und schwer entwicklungsgestört) sein, erschrickt nicht vor einem Sterben, einem Tod und einem „Jenseits“, unter dem er sich nichts vorstellt, wohl aber vor dem Leben im lebenslänglichen Kerker des Zuchthauses und in einer ihn überreizenden und verwirrende „Kerkerwelt“ des täglichen Lebens.

An den kriminellen, jugendlichen und pathologischen „Spitzen“ unserer Gesellschaft wird, man verzeihe diese Zusammenstellung von drei ungleichen Elementen, offen sichtbar, was uns alle angeht: das weitgehende Unvermögen, in einer sich täglich wandelnden Welt richtig zu leben. Nicht so hinzuleben, und hier und dort mitzumachen, sondern, ganz offen ausgesetzt sein allen Winden und Wettern, die da von Litfaßsäulen, Raketen, Schaufenstern und Schaustellungen (des Luxus, der Brutalität im Straßenverkehr des Alltags) pausenlos auf das noch empfindliche Sensorium von Menschen einströmen, die sich noch nicht mit dem Panzer der Indolenz, der Kalkschale listigen Mitmachens abgeschirmt haben gegen das Ueber-maß der Eindrücke ...

„Blick zurück im Zorn.“ Im Mai 1956 fand in London, wie eine Bombe einschlagend, dieses eben im Mai 1958 (in der Fischer-Bücherei) erstmalig vorliegende Stück des John Osborne seine erste Aufführung. Osborne, Jahrgang 1930, gehört zu jenen englischen Schriftstellern, die man „die zornigen jungen Männer“ nennt. Voll „Zorn“, voll einer tiefen, oft schweigenden, oft verdeckten Erbitterung blickt heute eine Jugend der Welt auf eine Gesellschaft, die ihr Phrasen, große Worte. Geld und Not vorstellt, und sie durch Druck und Verführung zum „Mitmachen“ einlädt. Zu einem Mitmachen, das die SinnJos,igke,i$: des immer noch hektischer, vegetativer werdenden Lustrummels steigert, und in inen Weltkrieg sich zu überschlagen droht. Raserei des verdorbenen Leben, Raserei in den Tod.

In eben diesem Sinne verdienen die vielen Bilder, die uns in eben diesen Tagen aus Amerika erreicht haben, ernsteste Betrachtung: wie da Vizepräsident Nixon von Stadt zu Stadt, von Jugend zu Jugend durch Südamerika gejagt wird. Diese südamerikanische Universitätsjugend kennt nicht die Größe Amerikas, seinen unersetzlichen Beitrag für eine freie Welt, und sie kennt nicht die Kerkerlager des Ostens, des Weltstalinismus'; sie kennt aber ihre „Väter“: die in Gier und Macht ertrinkenden Herren über die Güter der Nation, über die Bodenschätze ihres Landes, und sie kennt die Not der Massen ihrer Völker. Dies sei hier auch

„Saurer Terror“: Jungpioniere gratulieren älteren als ein Memorandum an unsere Jugend und unsere Bevölkerung in dem Wien, das die nächsten Weltspiele der kommunistischen Welt Jugend „erwartet“, verstanden: Der überwiegende Teil der hier erscheinenden Jugend, die da heute unter den blutroten Fahnen der Weltrevolution marschiert, weiß nichts von dem, was leiderfahrene Insassen östlicher Völkerkerker wissen, wohl aber kennt sie die Sinnlosigkeit des Lebens und die Not in ihren Landen.

Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Weltkommunismus kann nur als Ringen um die Jugend der Welt geführt werden. Diese Jugend gibt sich, auf die Dauer, weder mit Brot noch mit Spielen zufrieden. Sie wird keine Ruhe geben, bevor sie dies eine nicht erreicht, nicht gefunden hat: einen Lebenssinn, ein erfülltes Leben, das die Kraft besitzt, die Versuchungen und Chancen unserer Wirtschaftswelt zu meistern. Das aber setzt voraus: die Partnerschaft, die gleichberechtigte Kameradschaft mit allen anderen Schichten der Gesellschaft; die Partnerschaft in einem gemein* samen Engagement, der Zukunft zu. Dem größeren Menschen und dem größeren Gott zu.

Eine ernsthafte Befassung mit diesem heute bereits wichtigsten Thema, mit der Jugend, setzt voraus: die Anerkennung dieses Problems als Existenzfrage der Freiheit und einer freiheitlichen -Gesellschaft von Seiten aller anderen Klassen-, Macht- und Altersgruppen, und das heißt: eine Aenderung des Lebens eben dieser „anderen“.

Der Rücksichtslosigkeit gewisser „Jugendlicher“ entspricht die viel breitere Rücksichtslosigkeit breitester Schichten von Eltern und Erwachsenen, die sich, blind in Lebensgier, der Jugend verwehren: Frauen als Doppelverdiener, Männer als „Väter“ aller Art. Schulen, Kirchen, Erzieher, Seelsorger kämpfen vereinzelt einen fast aussichtslosen Kampf, wenn die Gesellschaft als Ganzes sich der Jugend verwehrt.

An tausend inneren Fronten tobt dieser Kampf. „Jugend in Not“: in einer Weltwirklichkeit, in der alles an allem hängt, jede Gabe und jedes Gift jeden berührt, konstituiert sich eine Gesellschaft, die nicht, als Ganzes, sich als Erziehungsgemeinschaft weiß, da jeder erzieht oder verführt, de facto als Verführungsgemeinschaft. Als eine riesenhafte Verführungsgemeinschaft zu einem schlechten „Mitmachen“, zu einem schlechten Leben, zu einem schlimmen Tod.

Wo eine Lösung anzusetzen hat, sagen die letzten Sätze, im Vollsinn das letzte Wort des Alten Testaments, an. Da wird vom großen kommenden Gerichtstag des Herrn gesprochen. Dieser kann hinausgezögert, vielleicht ganz ferngehalten werden, wenn die Väter sich zu den Söhnen und die Söhne sich zu den Vätern bekehren. Die „Väter“ müssen den Anfang machen. So lange diese Umsinnung in Lebenshaltung nicht geschieht, vollzieht sich, vor unser aller Augen, weiterhin, in der Hölle des Alltags, der permanente Gerichtstag: der, im Mord, im Verbrechen, im „Blick zurück im Zorn“ einer verführten Jugend deren großes Nein vollzieht: ein Nein gegen die Zukunft, ein Nein gegen ein „Leben“ mit „erwachsenen“ Zeitgenossen, die sich weigern, eben diese Jugend als gleichberechtigte Partner anzunehmen in einem gemeinsamen Ringen um eine neue Lebensform und Gesellschaftsform, von der wir alle erst, stammelnd, wenige Ansätze kennen: Leuchtspuren, die in ein besseres Leben führen. *

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