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Jugend in Amerika

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Jugend hat einen hohen Kurswert in den Vereinigten Staaten. Vielleicht weil das Land noch jung ist? Ältere Menschen haben es schwer, falls sie irgend etwas aus der Bahn geworfen hat, beruflich zum zweiten Male Fuß zu fassen. Die nachdrängenden jungen Anwärter besetzen fast ausschließlich freiwerdende Posten. Kein Wunder, daß noch 20 bis 30 Jahre nachdem sie ihr College verlassen haben Familienväter bei Wiedersehensfeiern als „Boys“ mit knabenhafter Tolpatschig-keit einander „ewige Jugend“ vorzuspielen versuchen und bejahrte Großmütter Wert darauf legen, als „Girls“ beim Kaffeeklatsch > backfischhaft, .gelegentlich so jugendfrisch, wie möglich-zu erscheinen. — MSDflSjj banH usb sus Jungsein hat in Amerika Eigenwert, wird bewundert und ist Gegenstand des Neides bei den Erwachsenen. Bei der Jugend selbst findet man ein herablassendes Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Älteren.

Auch wenn nur wenige junge Menschen sich heute über den alten Vater-Sohn-Konflikt so anklagend auslassen würden, wirkt das Gefühl der Enttäuschung über den „Verrat“ der alten Generation an den Idealen ihrer Jugend in mannigfacher Form immer noch unter der Oberfläche unter den anscheinend so konformistisch heranwachsenden jugendlichen Schichten in Amerika nach. Nicht, daß es im echten Sinne einen bewußten „Aufstand der Jugend“ gibt. Rebellion, Aufbegehren und Abseitsgehen stellen ja nur eine Möglichkeit dar, sich dem Alter und der konventionellen Umwelt gegenüber als „überlegen“ zu beweisen. Eine andere Möglichkeit ist, sich als tüchs- tiger und erfolgreicher zu erweisen und damit zu zeigen, daß die vorgeblichen Ideale von gestern, wie sie Familie und Erziehung gepredigt haben, überflüssig sind.

Millionen junger Amerikaner wachsen im normalen Heim auf. leben glücklich und haben keine besonderen Probleme. Aber nicht jeder Jugendliche hat diese Chance. In den Slums der Großstädte — und nicht nur da — werden heute in den USA Tausende und aber Tausende junger Menschen groß: verbittert, beziehungslos zur Umwelt und viele in wirtschaftlicher Not. Ihre Sicherheit, ihre Heimat sind Jugend-Gangs, Banden junger Leute. Ihr Weg führt oft zur Jugendkriminalität. Die des öfteren über das Anwachsen des jugendlichen Verbrechertums veröffentlichten Zahlen waren zeitweise beunruhigend. Das Federal Bureau of Investigation hat vor einiger Zeit einen Bericht über die Jugendkriminalität herausgegeben, in dem es heißt: „In 1238 Städten ist der Prozentsatz jugendlicher Gesetzesbrecher — soweit sie verhaftet wurden -gegenüber dem Vorjahr um 8,1 Prozent gestiegen, während in denselben Orten die Verbrechenszahl für Erwachsene nur um 1,8 Prozent anstieg.

Bei 2,340.000 Festnahmen in 1586 Städten handelte es sich im Berichtsjahre bei 12,1 Prozent um Jugendliche unter 18 Jahren, bei 19,7 Prozent um solche unter 21 Jahren. 29,3 Prozent der Verhafteten waren noch nicht 25 Jahre alt.“

Diese Zahlen sind natürlich kein absoluter Maßstab. Erstens folgt nicht jedem — der Polizei gemeldeten oder nicht gemeldeten — Delikt die Festnahme des Täters, zweitens führt nicht jede Festnahme zu einer Verurteilung wegen eines Verbrechens. Als Verbrechen zählt diese Statistik: Mord, Vergewaltigung, Angriff mit einer tödlichen Waffe, Einbruch, Raub, Diebstahl von mehr als 50 Dollar' und Autodiibs'tthl: MiMeW^DeWftäk leiten, als Vergehen und sind in ihr nicht enthalten. Die „Aktivitäten“ der Jugend-Gangs, die nur in wenigen Fällen zu Körperverletzung und Totschlag führen, tauchen hier nur indirekt auf.

Diese „Jugend-Gangs“, von denen es in New York City z. B. etwa einhundert gibt, sind ein Produkt ihrer Umwelt. Die meisten bilden sich in Stadtteilen, in denen Familien niederer Einkommensgiuppen leben, oft derselben rassischen oder nationalen Abstammung, und wo die Eltern ihre Kinder unbeaufsichtigt lassen müssen, weil sie arbeiten.

Um die „Kontrolle“ über ein bestimmtes Wohngebiet gegen „ortsfremde“ Jugendliche zu halten, kämpfen die Banden der „Shook-up Generation“, wie sie der Pulitzer-Preisträger Harrison E. Salisbury nennt, der eine aufschlußreiche Soziologie des Jugend-Gangs veröffentlicht hat, in Abwehr und Gegenangriff miteinander, manchmal mit tödlichen Waffen. Innerhalb der Banden gilt eine strenge Hierarchie und echtes Ethos.

Diese Jugend rebelliert nicht aus Selbstbewußtsein, nicht weil sie „kritisch“ ist, sondern weil sie sich, ohne Rückhalt in der Familie, isoliert fühlt, vernachlässigt und benachteiligt, und weil sie sich in ständiger Abwehrstellung gegen den „Feind“ befindet. Und nicht nur Polizisten gelten als „Feind“.

Aber so „antisozial“ solche Jugendbanden auch sind: fast noch gefährlicher schienen manchem Beobachter die Tendenzen zynischer Gleichgültigkeit gegenüber allen moralischen Werten, wie sie sich in der „Silent Generation“, der schweigsamen Generation, herausbildeten, deren typische Vertreter Studenten waren, die aus der Mittelklasse stammen. — Die „Vassar-Review“, das Blatt der Studentinnen des berühmtesten Mädchencollege in den USA, hat einmal einen Text aus diesem Milieu veröffentlicht und — unmißverständlich abgelehnt.

Die Selbstaussage dieser Studentin spiegelte in gewisser Hinsicht die Mentalität dieses anderen Typs antisozialer Jugend wider, wenn auch wohl einige Formulierungen überspitzt sind:

„Ick gebe nicht vor, irgendein hohes Ideal zu haben, das mich bewegt oder das dazu dienen könnte, meinen Wunsch zu verschleiern, etwas zu erreichen und erfolgreich zu sein. Im Gegenteil — alles was ich tue, ist berechnet oder wenigstens darauf bedacht, meine eigene Lage zu verbessern ... Was das Glücklichsein betrifft — ich setze das ziemlich gleich mit materiellem Erfolg. Ich rechne jetzt zuversichtlich damit, in die Welt des Big Business einzutreten. Ich habe dieses Betätigungsfeld gewählt, weil ich glaube, es bietet sowohl die erregendste Herausforderung als auch die reichsten Erträge in Geld, Prestige und allgemeiner Selbstbefriedigung ... Ich denke selten an Gott... und bete nur, wenn ich außergewöhnlich bedrückt bin. Was meine Lebensanschauung betrifft — so spielt die Religion darin so gut wie keine Rolle. Es gibt nur einen entscheidenden Gesichtspunkt in meiner Lebensanschauung — mich selbst und meinen Wunsch zu überleben ... Wenn man in der Welt des erbarmungslosen Konkurrenzkampfes etwas erreichen will, muß man egoistisch sein ... !“

Solche Anschauungen dürfte der junge Mensch nur in wenigen Fällen zu Hause gelernt haben. Auch kaum — offiziell - im College. Dennoch trägt die amerikanische Schul- und Hochschulerziehung indirekt ein gut Teil Mitverantwortung dafür, daß derartige Einstellungen um sich griffen. Lange Zeit haben Ansichten, wie sie von Barnes und Ruedi in dem Soziologie-Lehrbuch „The American Way of Life“ vertreten wurden, den Gedanken der „Universitas“ bekämpft — und das mit Erfolg: „Trotz eindrucksvoller Fortschritte unserer Zivilisation orientiert sich heute noch ein großer Teil unseres Lehrplanes am Mittelalter, ja sogar am alten Griechenland und Rom. Nachdruck wird auf solche Gegenstände, wie höhere Mathematik, Latein, Fremdsprachen und Literatur, gelegt, die doch wenig Wert als Training für das Verständnis des modernen Lebens besitzen.“ Zu dieser einseitigen Ausrichtung auf Lebenstüchtigkeit, die dabei völlig außer acht läßt, den Heranwachsenden ein umfassendes Bild vom Menschen und seiner gesellschaftlichen Verantwortlichkeit zu vermitteln, schrieb Vizeadmiral H. G. Rik-kower, dessen Buch „Erziehung und Freiheit“ zu den schärfsten Kritiken am heutigen System gehört: „Unsere Schulen bringen nette, freundliche junge Menschen hervor, die gelernt haben, wie man Forellen fängt und den Tisch deckt, aber als Erziehungsstätten sind sie nicht allzuviel wert!“

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