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JUGEND IN HARMONIE

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Die Frage nach dem Sinn und Wert der Musik ist in der Geschichte der Menschheit immer wieder gestellt worden. Mit der Musik und dem Musizieren war stets eine Sinnbeziehung verbunden, die das Wesen der Musik und den Sinn des Musizierens in eine höhere Wertordnung einfügte. Es ist heute nicht anders, und wir finden den Weg in unsere Gegenwart am besten, wenn gewisse Zusammenhänge in der Entwicklung der heutigen Musik mit der des „Musikmachens“ aufgezeigt werden.

Die Sucht nach dem „Allerneuesten“ und die Suche nach immer neuen Ausdrucksmitteln, wie sie von musikalischen Organisationen zur Förderung der neuen Musik in England und auch in anderen Ländern ausgehen, hat viel Verwirrung und viele Mißverständnisse in der jungen Komponistengeneration hervorgerufen, und im Bemühen um mehr Originalität des Un-Erhörten, Noch-nie-Gehörten wurde der Maßstab für das rein Musikalische, ja ging die Musik selbst verloren.

Was ist neue Musik? Es ist klar, daß es Musik sein muß, welche, obwohl sie noch immer Musik ist, doch in allem Wesentlichen verschieden ist von dem, was vorher komponiert wurde. Sie muß etwas ausdrücken, was bisher noch keinen Ausdruck in der Musik gefunden hat.

In jeder großen Kunst ist nur das würdig und wert, dargestellt zu werden, was niemals zuvor zur Darstellung kam. Es gibt kein großes Kunstwerk, das nicht eine Botschaft an die Menschheit zu übermitteln hat, und es gibt keinen großen Künstler, der in dieser Hinsicht versagt hat. Es gehört dies zum Ehrbegriff alles Großen und Erhabenen in der Kunst. Darum finden wir in allen großen Werken das Neue, das unvergänglich ist, sei es von Josquin Depres, von J. S. Bach oder Mozart und anderen großen Meistern.

Denn: „Kunst heißt neue Kunst.“ (A. Schönberg in „Style and Idea“, S. 39.) Die Gegenwart erscheint in der Musik immer ungeheuer vielgestaltig und widerspruchsreich. Sie lebt unter der fast einstimmig anerkannten, kaum je mehr ernstlich angefochtenen Vorstellung des „musikalischen Fortschrittes“. Dieser Begriff enthält die Anerkennung der Tatsache, daß sich alles lebendige Sein notwendigerweise bewegt und rastlos verändert, und den Glauben, daß alle Veränderung einer strengen Gesetzmäßigkeit unterliegt, also Entwicklung ist. (Die spätere Entwicklungsstufe braucht keineswegs notwendigerweise mit einer höheren Stufe der Vollendung zusammenzufallen, und letzten Endes ist Entwicklung nicht immer und überall auch Fortschritt.)

Besonders wichtig erscheint es, in unserer Zeit eine Art des Zuhörens auszubilden, die das Ohr* unabh&ngig' 'macht -von dem gewohnten Klangerleben des 19. Jahrhunderts, und Kompositionen verschiedener Ausdrucksrichtungen neu auf sich wirken zu lassen, dann werden sich auch neue Fähigkeiten erschließen. Die heutige Jugend hört schon ganz anders, und dieser neuen Hörfähigkeit verdanken neuzeitliche Komponisten wertvolle Anregungen, zum Beispiel wie für das in England hochentwickelte Jugendorchester komponiert werden soll.

„Es ist schwer, leicht zu komponieren“, gestehen die Komponisten den jungen Musikern, die Werke sollen nicht zu lang, die Tempi nicht zu langsam und nicht zu schnell sein. — Es ist berechtigt, in unserer Zeit von einer neuen Musik, entsprechend der neuen Hörfähigkeit, die sich in der heutigen Jugend heranbildet, zu sprechen, also einer neuen Tonsprache. Diese neue Musik ist nicht auf einen Nenner zu bringen. In der Struktur ihrer bisherigen, nunmehr abgeschlossenen Entwicklung kann eine dreifache Zielsetzung erkannt werden: vollkommene Auflösung der früheren Klangerlebnisse — elementarer Durchbruch neuer Kräfte, selbst der Elektronik — ihre neue Bindung in Form und Gestalt

Man kann die allgemeine Veränderung auch aus dem Schrifttum der letzten Jahre belegen. Herbert Eimert nennt das Zwölftonsystem den „konsequenten Versuch einer neuen Tonordnung in der jüngsten Musikentwicklung“. Hans Jellinek ist der Uberzeugung, daß „die Zwölftonkomposition nicht einfach einen neuen Stil innerhalb der Musik darstellt, sondern vielmehr den Anfang einer neuen Entwicklung auf höherer Ebene“. Ernst Krenek faßt seine Beurteilung in den Worten zusammen: „Wer hoffnungsvoll erklärt, die Zwölftonmusik befinde sich auf der absteigenden Linie, weil er noch von der Mehrzahl der in dieser Technik geschriebenen Werke verwirrt ist, bestätigt nur die Tatsache, daß er noch nicht sein Vorurteile gegen ihm nicht vertraute stilistische Züge überwunden hat. Der Weg, auf dem er zu seinen Vorurteilen gekommen ist, gibt ihm häufig Anlaß, sich einen gebildeten Musiker' zu nennen. Es ist sehr schade, daß er nur halbgebildet ist.“

Die tonalitätsgebundene Musik und die nichttonalitäts-gebundene Musik sind heute zwei konträre Richtungen. Sie werden vielfach in eine Frontstellung gerückt, bei der die Ausschließlichkeit des jeweiligen Standpunktes scharf hervorgehoben wird. Vom Kunstwerk aus betrachtet, als Mittel künstlerischer Aussage, stehen beide gleichberechtigt in unserer Zeit. — Die Klärung des Begriffes „neue Musik“ kann nur unter der objektiven Anerkennung aller Ausdrucksmöglichkeiten erfolgen. Die neue Musik unserer Zeit ist durch die Gleichzeitigkeit und die Gleichberechtigung der tonalen und der atonalen Musik bestimmt. Diese beiden Strömungen sind Pole, die das Bild der Gegenwart beherrschen.

In dieser Gleichberechtigung gestaltet sich auch vielfach der Musikunterricht und die Kompositionslehre an vielen englischen Mittel- und Hochschulen. Darunter mag das Gymnasium in Cirencester im Westen Englands als besonders eindrucksvolles Beispiel erwähnt werden.

Woher kommt es, daß wir Kinder als ausübende Maler und Dichter, ja sogar als Bildhauer als selbstverständlich anerkennen, wir ihnen jedoch viel weniger Eingebung auf musikalischem Gebiet zutrauen? Dazu wird gesagt, daß selbst die einfachste Grundlage der Kompositionslehre viel zu kompliziert sei, um sie Kindern zugänglich zu machen. — Diese Einwände fallen jedoch sofort weg, wenn man einmal erleben konnte, was Kinder musikalisch zustande bringen, und zwar nicht „Wunderkinder“, sondern das normalmusikalische Kind, das sich am Singen und Musizieren ebenso erfreut wie am Malen oder Geschichtenerfinden, das die einfachen Gesetze der Harmonielehre ebenso behandelt wie das Mischen von Farben.

Wir hatten Gelegenheit, ein Kompositionskonzert der Schüler des vorhin erwähnten Gymnasiums zu hören, in dem Knaben und Mädchen ihre eigenen Stücke vorführten. Diese reichten von einer kühnen kleinen Studie für Holzbläser (die der „Komponist“ selbst dirigierte) bis zu einem anspruchsvollen Chorwerk der Oberklassen. In letzterem zeigt sich deutlich die Krise, in der Selbstkritik zum erstenmal mit einem noch natürlichen Instinkt zusammenprallt. Technische Unzulänglichkeiten verschwanden gegenüber der erstaunlichen Fähigkeit einer individuellen Aussage.

In solchen Versuchen zeigt sich der Vorteil, einen so hochbegabten Komponisten wie Peter Maxwell Davies als Musiklehrer zu haben, denn für alle Gelegenheiten, die sich in einer solchen Schule ergeben, kann geeignete Musik geschaffen werden; gerade dort, wo sich so oft die bereits gedruckte „Schulmusik“ als ungeeignet erweist.

Die bloße Anwesenheit eines schöpferischen Musikers gibt der Jugend schon die Begeisterung und auch die Anregung, selbst aktiv zu sein, und die Schüler dieses Gymnasiums werden ständig dazu ermutigt, sobald sie nur imstande sind, ein Instrument zu halten, zu improvisieren und ihre eigene Musik zu komponieren. Solche Musik hat etwas faszinierend Lebendiges und Unmittelbares. Vielfach geschult am Singen mittelalterlicher Choräle und Hymnen, die von den Schülern im einfachen Kontrapunkt, zwei- bis dreistimmig gesetzt, ganz überraschend neue Klänge hervorzaubern, sind sie doch vom Empfinden der gegenwärtigen Jugend getragen.

Das Schulorchester glänzte in zwei Kompositionen von Schülern, die, wie man heute sagt, den Stempel der „Nach-Webern-Periode“ trugen. Die Verwendung von ein paar Noten, karg im Zusammenklang, stellt keine großen technischen Anforderungen an die Ausführenden, und eine ganz zeitgemäße Komposition überrascht den Zuhörer.

Nach dem Erlebnis dieser neuen Art des Musizierens ist es nicht verwunderlich, daß diese Jugend die moderne .-Musik lieber hat und ihr mehr Offenheit entgegenbringt, .„als dies von |hren Eltern gesagt werden kann; und so yer-n steht es sich auch, daß diese Jugend einem Quartett von Bartök vollste Aufmerksamkeit und wirkliches Verständnis entgegenbringt. Die Begriffe „tonal“ und „atonal“ verlieren vollkommen ihre Bedeutung in dieser neuen Art von Musikunterricht, denn diese Jugend weiß, daß sie mit „Tönen“ arbeitet, die sich nach ihren eigenen Gesetzen aneinanderfügen, ihre eigene besondere „Harmonie“ bildend, in der der Begriff „Dissonanz“ vollkommen verschwindet.

Auf Einladung der Gesellschaft für die „Förderung der neuen Musik“ wurde dieses Jugendkonzert in der Royal Academy of Music in London wiederholt, zum Erstaunen und zur Bewunderung der zahlreichen Besucher, aber auch zum Kopfschütteln der noch „Traditionsgetreuen“.

In der mehr verfeinerten Atmosphäre der Mädchenmittelschule Cranborne Chase werden noch höhere Anforderungen an das Hören gestellt. Es wird geübt und erzogen in Vorführungen einer noch fortschrittlicheren Musik von anspruchsvollen Werken, wie Boulez': „Le marteau sans Maire“, und sogar von elektronischen Werken von Stockhausen und anderen Werken, die dieselbe lebendige und verständnisvolle Aufnahme finden.

Auch an dieser Schule wird im Musikunterricht jede Art des Komponierens unterstützt und als „Selbstausdruck“ der Mädchen angesehen und geschätzt. Dieses Komponieren wird allerdings nach den Gesetzen der neuen Musik unterrichtet. In Komposition und Improvisation, die auch im Privatunterricht gelehrt werden, findet die Fünftonskala, die die Grundlage fast aller frühen Volkslieder ist, besondere Anwendung in der „Reihen-“ oder der „seriellen“ Technik, wie sie Schönberg als neue Methode des Komponierens mit zwölf Tönen darstellte. Diese einfachen Fünftonreihen bereiten auch dem Anfänger keine Schwierigkeiten.

Die Schüler dieser beiden hier erwähnten Schulen planen nun, zusammen eine Oper zu schreiben, zu komponieren und auch aufzuführen, der alle Musiker der neuen Richtung schon mit großer Erwartung entgegensehen.

Wenn hier nur auf die musikalische Arbeit von zwei Schulen hingewiesen wurde, so deshalb, um an zwei ungewöhnlichen Beispielen aufzuzeigen, daß die „neue Musik“ in der Jugend erweckt und gepflegt werden kann. Die dabei angewandten Methoden des Musikunterrichtes unterscheiden sich wesentlich von dem Vollstopfen der Jugend mit allzu akademischen „Systemen“ und auch von dem allzu enthusiastischen Selbstausdruck der Schüler, wie er an manchen Schulen und Konservatorien gepflegt wird, wo zu „Schülerkonzerten“ vorbereitet wird, die dann auch in Konzertsälen stattfinden und falsche Hoffnungen erwecken. Enttäuschungen, die sogar zum Aufgeben weiterer musikalischer Aktivität führen können, sind oft die Folge dieser Überforderung.

Die heutige Musiklage verlangt einerseits eine Auslese von geschulten Musikliebhabern, anderseits ein strenges Training der künftigen Berufsmusiker. Die hier aufgezeigte Schulung der Jugend führt zu dieser Forderung durch die frühe Anregung zum Selbstschaffen und das durch dieses Schaffen entwickelte neue Hören, das es den so vorbereiteten Musikern in Zukunft ermöglichen wird, jeder Art des Musikschaffens ein vorurteilloses Interesse entgegenzubringen.

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