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Jugend ohne Zuflucht

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„Jugend in Not“ — wie oft liest oder hört man nicht heute diesen Ausspruch, der in seiner Kürze die Tragik nicht fassen kann, nichts über das Wesen der Jugend und das Wesen der Not aussagt und somit nur zum Schlagwort geworden ist. Diese Not muß man zutiefst erfühlt, erlitten und bestanden haben, um zu wissen, welchen Gefahren ein gesundes Kind, das in einigermaßen normalen Verhältnissen aufwuchs, mit mehr oder minder geringen Schäden an Körper und Seele entging. Die weniger Glücklichen, denen kein Elternhaus Schutz und Zuflucht bot, waren den Kräften der Vernichtung oft auf das grausamste preisgegeben.

Unter ihnen finden wir die jugendlichen Verbrecher, die Bandenführer, die frühreifen Dirnen und Halbweltgirls, die verwahrlosten Kinder. Wer kennt diese

Typen nicht aus den zahlreichen nach dem Kriege gedrehten Filmen, die die Schicksale unschuldig ins Unglück gestoßener Halbwüchsiger und Kinder schildern! Und doch nimmt man daraus nur die Oberfläche wahr; weit tragischer als jede noch so ehrlich erfundene Filmhistorie, aber weniger effektvoll in der Banalität eines Alltagsschicksals, ist das Leben selbst. Erzieher und Lehrer, Justiz- und Verwaltungsbeamte, die in der Arbeit der Jugendfürsorge stehen und sich ein offenes Gemüt für die Hintergründe und letztlichen Ursachen der sittlichen Verfehlungen bewahrt haben, werden ein Bild von einem der dunkelsten Kapitel der Nachkriegszeit bekommen.

Das Leben in all seinen Variationen wird mit jedem neuen „Fall“ auf die Leinwand seines Seelenempfängers aufgenommen. Äußerlich trägt nun der ver-

wahrloste Jugendliche oder Schüler die Kleidung einer Anstalt, den Stempel der Gemeinschaft, in die er gebannt wurde, um dort meist auf Kosten der Gemeinde oder des Staates mit der Bestimmung in dieser neuen Umgebung zu einem brauchbaren Menschen erzogen zu werden.

Fälle gibt es viele — nervöse, übersensible, frühreife, jedem von ihnen ließe sich eine Fülle von Adjektiven beiordnen, und auch damit wäre der psychologischen Beschreibung nicht Genüge getan. Uber dem „Fall“ müßte mit großen Buchstaben der Oberbegriff „Mensch“ stehen, denn nur mit dieser Einstellung läßt sich überhaupt eine menschliche Beziehung aufrichten, und nur dadurch wird erst eine fruchtbare Arbeit möglich. Betrachtet man die Gesichter der Fürsorgezöglinge, so mag man oft vor dem erschrecken, was aus den Zügen spricht: Härte und Brutalität, Mißtrauen, Verbitterung stehen in eigenartigem Gegensatz zum durchaus Kindlichen, Naiven. Eine Disharmonie findet man auch in den Verhaltungsweisen — sogar schon bei den Jüngsten und Unintelligentesten. Jedes dieser Kinder „ist“ nämlich nicht mehr, was das Wesen des Kindertümlichen ausmacht, es lebt sich nicht mehr von Minute zp Minute aus, sondern es spielt sich selbst und den anderen eine Rolle vor. Man muß tiefer in solch einem jungen Menschen forschen, um bis zur tiefsten Wurzel zu gelangen, aus der die falsche Einstellung allem und jedem gegenüber stammt.

Was kennt solch ein Kind vom Leben denn anderes als Schläge, häusliche Zänkereien, brutale eheliche Zerwürfnisse, Mitnahme bei Bettelfahrten, Heuchelei und Lästertum? Die Umwelt ist feindlich — der Mitmensch ein Feind —, Liebe hat es niemals erfahren, vom Schönen und Edlen kann man nur in den Märchenbüchern lesen. Nun fragt man nicht mehr, warum solch ein Mädel oder Junge eine Rolle spielt, warum sie revolutionieren, warum sie frech und asozial wurden, warum sie aber zutiefst leiden und eine gewaltige Sehnsucht nach Liebe und Verstehen in sich vergraben.

Um diesen Heranwachsenden helfen zu können, bedarf es eines großen pädagogischen Geschicks, einer starken Persönlich-

keit, die in sich selbst bereits den Stürmen gebieten kann, die Ruhe und Gleichmut verbreitet, mit Strenge und Güte den richtigen Weg geht und dadurch dem Haltlosen und Unsicheren als Vorbild gelten kann — vor allem aber niemals müde wird, trotz aller Rückschläge an das Vorhandensein eines guten Kernes zu glauben.

Welche Aspekte weiten sich da wohl vor einem — die theoretischen Möglichkeiten überblickenden — Idealisten. Wäre es nicht möglich, diese negativen Kräfte zu bannen, die Jugend zu aufrechten Menschen zu erziehen, die nicht (so wie es ihnen selbst erging) verantwortungslos neues Leben weitergeben — die ihr eigenes sinnvoll gestalten? Aber damit gerät man ja auch dorthin — wo der Film sein

Happy-End findet und vergißt, daß Sankt Georg nur mit nüchternem Kopf, mit viel Mut und eisernem Willen, aber einem heißen Herzen den Drachen bezwingen konnte. So ehrenwert so viele redliche und mit ernstem Aufwand unternommene Hilfeleistungen für diese schwerbedrohte Jugend sind — sie bleiben stecken, wo sie auf das stärksterziehliche Moment, die Hinführung zum Religiösen, jedes Menschen, auch des verlorensten Eingeborenen, verzichten. Auch wenn die Erziehung dieses unentbehrlichsten Fehlers gewahr ist, hat sie nicht schon den Erfolg in der Hand, aber doch die einzige Gewähr, trotz allem das Ziel erreichen zu können. Es gilt, dem jungen Menschen den sicheren seelischen Zufluchtsort zu weisen.

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