6674239-1961_14_07.jpg
Digital In Arbeit

Jugoslawisches T agebuch

Werbung
Werbung
Werbung

Der Balkanexpreß verläßt Wien 50 Minuten nach Mitternacht. Daß am Südbahnhof kein Laden mehr offenstand und nirgends eine Erfrischung gereicht wurde, war gewiß keine amtliche Bedachtnahme auf den beginnenden Aschermittwoch, meinen Abreisetag. Das ist vielmehr, wie meine Reise bis Vordermazedonien es bald beweisen sollte, eine mißglückte Regie der Generaldirektion der Bundesbahnen, den Passagieren des Balkanexpreß balkanische Rückständigkeit vorzuspielen. Nun ist der Balkan wahrlich nicht so! Im übrigen reichte (gottlob!) ein Fahrdienstleiter durstigen Reisenden frisches Wasser. Aber die Idee, einen Lebensmittel- und Getränkeautomaten auf dem Bahnsteig aufzustellen, fiel keiner maßgebenden Persönlichkeit bisher ein.

Damit nicht genug des „Balkans" (in Wien). Der sogenannte Balkan- „Expreß“ fährt — als Bummelzug durch die Gegend. Naiv vermutete ich am Anfang der Fahrt, das sei der Weinorte und der „Alkoholgrenze“ wegen. Nein, der Balkan-,,Expreß“ hält bis zur Staatsgrenze

Spielfeld-Straß in 23 Stationen — der Zeitungen wegen! Der „Expreß“ ist eine „Postkutsche“, und dieirReiaenden soiktti e4 sidi hierin hundertmal überlegen, noch einmal Jugoslawien aufsuchen zu wollen.

Nach zehnstündiger Fahrt in Zagreb (Agram). Das Denkmal des ersten Kroatenkönigs begrüßt den Besucher und erinnert vor allem den Besucher aus Wien an das schwere Unrecht, das Altösterreich gegen Kroatien setzte. Ich dachte 100 Jahre zurück an das Februarpatent 1861, das den Keim des Dualismus in sich schloß und das Un- gebilde „Österreich-Ungarn“ schuf, ein Ungebilde, das diesseits der Leitha die böhmische und jenseits der Leitha die kroatische Krone und Eigenstaatlichkeit verschüttete und notwendig 1918 auslöste.

Nicht nur in Kroatien, in ganz Jugoslawien fühlte ich mich zu Hause. Hier ist Altösterreich in neuer Fassung entstanden. Bis auf die Deutschen sind fast alle Nationen Altösterreichs vertreten, nur ungleich besser organisiert! Tito lernte aus den Fehlern Altösterreichs. Er baute in Jugoslawien sechs nationale Republiken auf: Kroatien, Slawonien, Serbien, Montenegro, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina. Nationalpolitisch eine geniale Lösung! Wie versagten der Ballhausplatz, vor allem die deutsche Bourgeoisie und Bürokratie in Österreich, und die adeligen Schweinehändler der Pußta. Hätten Franz Joseph und seine Berater doch nur einmal auf die Dreifaltigkeitssäule in Wien auf dem Graben mit den Insignien der heiligen drei Könige Leopold, Stefan, Wenzel hingeschaut, wäre er nur einmal auf der Akropolis von Wien, auf dem Leopoldsberg, gestanden und des geo- politischen Ortes innegeworden, wo die Alpen, Karpaten und Sudeten in ihren Ausläufen an der Donau sich begegnen und begrüßen, er Franz Joseph, hätte die Lösung der nationalen Frage in Altösterreich gefunden.

Wie vor zwei Jahren in Krakau, so fühlte ich mich auch sofort in Agram daheim. Agram heißt ja nicht umsonst Klein-Wien. Auf sieben Hügeln erbaut, könnte auch Klein-Rom sein Name sein. Allerdings ist seit 1945 Agram eine riesige Industriemetropole geworden. Symbol hierfür das (amerikanisch gebaute) Hochhaus auf dem alten Jellacicplatz, am Platz der Republik, das den Stadtkern spaltet. Wohl steht der Alte Markt, sichtbar noch altes Bauernvolk, das die Früchte seiner Äcker, seiner Hände: saftiges Gemüse, knallige Tücher und Teppiche, frei verkauft. Daneben echtes Proletariat, aus überhitzter Industrialisierung geboren, schlecht gekleidet, aber gut genährt, keineswegs verdrossen, ein Menschentum auf Hoffnung hin, das mittags und abends die (gottlob!) großteils autoleeren Straßen und Plätze füllt. Der alte Mittelstand jedoch ist tot. Ein neuer erst im Werden. Ich sehe von den vortrefflich equipierten Polizisten und Militärs ab. Auch von den Funktionären, von den Angehörigen der „neuen Klasse“, die der „Johannes des jugoslawischen Kommunismus", Djilas, mutig beschrieb. Was ich meine, und was ich auch in Polen erlebte, das ist der neue Mittelstand im Ansatz, das sind die Künstler, Wissenschaftler, Schriftsteller, die Dichter und Komponisten. Sie treffen einander gerne in einem mehr als bescheidenen Restaurant auf dem Platz der Republik. Auch ich aß dort und genoß ihre Liebenswürdigkeit und Ungezwungenheit. Frei sprechen sie über alle Fragen und Schwierigkeiten. Sie werden ja nicht mehr so beobachtet, diese Intellektuellen, wie in der Hitler-, wie in der Stalin-Zeit.

Ich sprach in der „Österreichischen Lesehalle“. Über die Formen des Benehmens, des Grußes, über „Servus“ und „Handkuß“ als soziologisches Problem. Ich sprach in der Reihe jener Vorträge, die Woche für Woche hier stattfinden und in hervorragender Weise von Dr. H. G. Marek organisiert werden. Wie ist doch diese Lesehalle für Agram wertvoll. Das wissen auch die anderen Staaten. So errichteten die USA, Frankreich und England gleichfalls Lesehallen in Agram. Sie sind stets umlagert, umfragt nach neuer Literatur. Sie sind die Fenster in die westliche Welt, die Tito geöffnet hat.

Am nächsten Tag sprach ich auch iiyėrsitū,' iiÄV,Kra J äer Pro-1 'fessören',' über das Kapital als sozio-' logische Kategorie, als Schöpfer der Geschichte. Vordergründig war die Frage nach den Ideal- und Realfaktoren, die den Teppich der Geschichte weben. Hierauf gab es offene Gespräche und Auseinandersetzungen in der Diskussion, und es gab gegenseitige Einladungen zur Fortsetzung. Die Professoren wünschen Gedankenaustausch mit den österreichischen Universitäten.

Die religiöse Lage ist in den sechs Republiken Jugoslawiens verschieden. Nonnen werden zum Beispiel in Kroatien aus den Spitälern gedrängt — in Serbien überall in Militärspitälern ge sucht und geholt. Freilich ist das Ziel der herrschenden Klasse eindeutig. Daß selbst Kinder am Heiligen Abend und am Christtag im katholischen Kroatien in die Schule müssen, ist grausam. Ebenso ist es wahr, daß eine Gewöhnung an diese Zustände im katholischen Volk vonstatten geht. Die christliche Substanz nimmt ab. Anderseits aber nehmen die Priesterberufe zu. Sie sind stärker, wurde mir von höchsten Würdenträgern der Kirche gesagt, als vor 1941. In einer eigentlichen Krise scheint sich jedoch die Orthodoxe Kirche zu befinden. Dennoch herrscht auch hier Leben. Es zeigte sich mir in einem reifgelittenen, aus dem Jahre 1415 stammenden Mönchskloster in Kalenic. Ich besuchte auch die Begräbniskirche der serbischen Könige in Oplenac. Daß diese dreimal versuchten, sich an Österreich anschließen zu dürfen und taube Ohren am Wiener Hof fanden, kam mir hierbei schmerzlich in den Sinn. Eine Bejahung hätte Sarajewo, den Krieg 1914, den Zusammenbruch 1918 vermieden. Mit Schaudern stand ich daher auch in jenem Gemach der altösterreichischen Gesandtschaft in Belgrad (bewohnt nunmehr vom katholischen Erzbischof von Belgrad), wo unser Gesandter am 28. Juli 1914 dem serbischen Unterhändler die Kriegserklärung abgab, nachdem Franz Joseph, von seinem Außenminister mit einem gefälschten Telegramm über einen — niemals stattgefunde- nenl — Angriff der serbischen Truppen auf österreichisches Reichsgebiet über redet, die Kriegserklärung unterzeichnen zu müssen glaubte.

In Kragujewac! Im Herzen von Serbien. Am 21. Oktober 1941 geschah hier eines der größten Verbrechen der nationalsozialistischen Besatzungsmacht. Die jugoslawische Widerstandsbewegung sollte zerschlagen werden. Mehr als 7000 Knaben und Jungmänner wurden an diesem Tag aus Schulen und Häusern, von Straßen und Plätzen weggeholt und auf den umliegenden Feldern einfach niedergeschossen. Freiwillig gingen auch die Lehrer mit den Schülern in den Tod. Ein bethlehemiti- scher Kindermord im 20. Jahrhundert. Gedenksteine mit vielen Kränzen bezeichnen die Stätte des Grauens. An einem solchen lehnte eine irre Frau. Seit 1941 schreit sie nach ihren er- motdeten Kindern und humpelt wie ein rächender Schatten über die Gottesäcker.

Ein Wirtschaftsfachmann und -führer in Belgrad erklärte mir den neuen, von Tito geprägten Sozialismus. Dieser hob fraglos binnen kurzer Zeit den Lebensstandard der jugoslawischen Völker. Es ist ein „Konkurrenzsozialismus“, worin Kollektive gegen Kollektive, Wirtschaftsvereinigungen gegen Wirtschaftsvereinigungen stehen und wetteifern und am Gewinn dieser Auseinandersetzungen partizipieren; und es ist gleichzeitig eine Wirtschaftsdemokratie, eine Arbeiterselbstverwaltung, worin die gewählten Vertreter mitdenken, mitlenken, heute noch in engem Rahmen, gewiß, aber immerhin in einer Zukunft stehend, die eine Vergenossenschaftung; der Wirtschaft, wie sie die Vogelsang-Schule erstrebt, bedeuten könnte

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung