Kaffeehäuser, revolutionen

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Als erster Schriftsteller arabischer Sprache erhielt Nagib Machfus 1988 den Nobelpreis für LiterAtur. Vor 100 Jahren wurde er geboren.

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Als erster Schriftsteller arabischer Sprache erhielt Nagib Machfus 1988 den Nobelpreis für LiterAtur. Vor 100 Jahren wurde er geboren.

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Eine Gasse, ein Viertel, ein Hausboot am Nil: Zeit seines langen Lebens hat Nagib Machfus Ägypten kaum verlassen und auch sein Schreiben beschränkte sich auf überschaubare Orte. Im Kleinen sah der Schriftsteller die großen Fragen enthalten. Seine Blicke galten vor allem dem alten Kairoer Viertel Gamaliya, in dem er seine Kindheit verbrachte, den Kaffeehäusern und der Midaq-Gasse, der er einen seiner bekanntesten Romane widmete. Die Bewohner einer Gasse oder eines Viertels, die Mitglieder und Generationen einer Familie wurden ihm Symbol für die Gesellschaft und deren Veränderungen. "Manchmal ist die Gasse ein Symbol für das Land, wie in meinem Roman Die Midaq-Gasse, manchmal ein Symbol für das ganze Leben, wie in dem Buch Die Kinder unseres Viertels."

Revolutionen haben Machfus' Leben und Werk geprägt. Als Kind erlebte der am 11. Dezember 1911 geborene Schriftsteller 1919 die Revolution gegen die Briten: "Von tiefstem Herzen betete ich zu Gott, dass die Revolution immerfort währen möge." 1952 die nächste Revolution, die Machfus als autoritär bezeichnete, weil sie - wie die Monarchie, die sie ablöste - die Verfassung nicht achtete. "Revolutionen mögen ja auf die eine oder andere Art ausbrechen, doch sind erst einmal ihre Ziele verwirklicht, muß sich aus ihnen ein institutionelles System entwickeln. Bleiben alle Machtmittel in einer Hand, können auch ihre Ziele abhanden kommen."

Diese Erkenntnisse bleiben ebenso aktuell wie die Problematik, in einem derart komplexen Kräftefeld von Politik und Religion Stellung zu beziehen: sei es für Frieden mit Israel (Machfus setzte sich schon in den 70er Jahren dafür ein und erntete viel Kritik), sei es für Verständnis für jene Palästinenser, die sich gegen israelische Gewalt mit Selbstmordattentaten zur Wehr setzen (auch das sorgte verständlicherweise für Empörung), sei es zuletzt sein Versuch, für seinen verbotenen Roman "Die Kinder unseres Viertels" die Anerkennung der Religionsgelehrten zu erhalten.

Dieser umstrittene Text erschien 1959 zunächst als Fortsetzungsroman, als Buch dann aber in Beirut, nicht in Ägypten. Anspielungen auf Nasser ließen sich darin ebenso finden wie jene auf die jüdischen, christlichen und muslimischen Geschichten. Das nicht näher benannte Viertel (es ist "unser Viertel") ist ein Ort, an dem die Gegenwart Leid und Unterdrückung ist. In den Kaffeehäusern leben die Erinnerungen an die gute alte Zeit. Al Galaawi, der Herr des Viertels, hat sich zurückgezogen, es herrschen Tyrannei und Gewalt, symbolisiert in den Wächtern des Viertels. Macht, Machtmissbrauch, Unterdrückung und was Menschen aus der ihnen übergebenen Welt machen: Themen des Romans, dessen Figuren fiktiv sind, deren religiöse Vorbilder (Adam, Eva, Moses, Jesus, Mohammed etc.) als Modelle aber deutlich zu erkennen sind. Ein Rechtsgutachten der Al-Azhar Universität verbat den Roman. Der Vorwurf der Gotteslästerung kostete den Schriftsteller 1994 bei einem Attentat fast das Leben -und jedenfalls einen Großteil seiner Seh-und Hörkraft: Radikale Islamisten versuchten, Machfus zu erstechen. Sein Schreiben war ihm in der Folge sehr erschwert -und auch das Flanieren durch die Gassen, das er so liebte, musste er einschränken, aus Sicherheitsgründen.

Pharaonisch, sozialkritisch, allegorisch

Dass Machfus Jahrzehnte nach dem Erscheinen des Buches in Beirut, im Jahr 2006, seinem Todesjahr, noch die Bestätigung der ägyptischen Religionsgelehrten einholen wollte, dass das Werk keine Blasphemie sei, erboste seine liberalen Kollegen, etwa Schriftstellerkollegen Najem Wali: "Heute hat Nagib Machfus", schrieb Wali 2006 enttäuscht, "nicht nur seine literarischen Anfänge vergessen, sondern er unterwirft sich auch gänzlich der Hoheit der Zensur. Er nimmt in seinem Bekenntnis sogar die in Schutz, die seinen Roman verbieten ließen, weil sie 'ihn fehlinterpretiert hatten' und erteilt damit dem religiösen Establishment eine Absolution, die ganz 'legale' Befugnis, Bücher zu zensieren, was vom rechtlichen Standpunkt nicht der Fall ist."

Mit dem Verweis auf Machfus' literarische Anfänge spielt Wali auf dessen "pharaonische" Phase an, der man jene Bücher zurechnet, die in den dreißiger Jahren entstanden. In der realistischen, sozialkritischen Phase der 40er und 50er Jahre machte Machfus dann die zunehmende ideologische (und ökonomische) Spaltung der Gesellschaft zum Thema. Die Ästhetik dieser Werke ließe sich aus europäischer Sicht arrogant und ignorant belächeln, denn in Europa hatte die Moderne ja dazu geführt, sich vom sogenannten realistischen Erzählen zu entfernen. Doch für Machfus stellte der realistische Roman eine wesentliche ästhetische Neuerung in der arabischen Literatur dar und eine Möglichkeit, die Wirklichkeit zu beschreiben. Während sich der Staat nach Westen orientiert, verarmen die "kleinen" Leute. 1945 erschien etwa der Roman "Das junge Kairo" (Unionsverlag 2011) über junge Studenten: einer ist Kommunist, einer gehört der Muslimbruderschaft an und einer verkauft sich - aus Armut.

Machfus' Stolz auf die ägyptische Kultur birgt die Gefahr der Romantisierung der alten Welt, andererseits nimmt Machfus wahr, dass die Gesellschaft dabei ist, sich aufzulösen. Den literarischen Durchbruch schaffte Machfus mit seiner Kairo-Trilogie, jenem Werk, das oft mit den "Buddenbrooks" verglichen wurde. Die Veränderungen der Gesellschaft stellte Machfus hier anhand einer Familie dar: dem Kaufmann folgen intellektuelle, dann gesellschaftspolitisch agierende Nachfahren.

Nach seiner Pensionierung als Staatsbeamter folgten auch autobiografische Werke. Unterschiedliche Themen und Stile prägen die oft allegorischen Werke der letzten Jahrzehnte, Religion scheint aber bedeutender zu werden. Machfus bekannte sich zum Islam, gegen Fundamentalismus und für Demokratie; ihm lag am friedlichen Miteinander von Moslems und Christen auch im eigenen Land.

Ein Reisender ohne zu reisen

Machfus kam zeitlebens kaum aus Ägypten hinaus. Ein Reisender war der Schriftsteller vermutlich trotzdem, ein Reisender wie seine literarische Figur Ibn Fattuma ("Die Reise des Ibn Fattuma", 1983), der erkennt, wie ungerecht in seinem "Heimatland" regiert wird. Dieser Nachfahre des Ibn Battuta bricht deshalb auf ("in eine dritte Tasche tat ich all das, was man unterwegs so braucht - Bücher, Hefte und Stifte zum Beispiel") und reist durch andere Länder und Systeme (liberale, sozialistische ...), auf der Suche nach der ersehnten Vollkommenheit.

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