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KAFKA UND KEIN ENDE

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Eine Zeitlang schien es, als wäre es stiller um ihn geworden; als hätten sich die Heere seiner Ausleger, nachdem sie die Anfälligkeit seiner Schriften für alle möglichen Deutungen entdeckt und die Routen zu seinem unzulänglichen Labyrinth klar markiert hatten, mit dem Erreichten zufrieden gegeben, als legten sie keinen großen Wert mehr auf die einzig richtige Auslegung seiner dunkelfaszinierenden Texte. Ganze Bibliotheken von Sekundärliteratur außer acht lassend, hielten wir uns an das Gegebene des Wortlautes. Kafkas Wirkung war unablösbar geworden von unserem Dasein und hatte sich ihren Weg in unser Bewußtsein gebahnt. Keiner vor ihm hatte vollkommene Dunkelheit mit so großer Klarheit, Verzweiflung mit so gelassener Nüchternheit dargestellt.

Der Anteil der gediegenen, aber selten ganz widerspruchslos aufgenommenen Untersuchungen (Beißner, Emrich, Sokel, Politzer und einige andere) bleibt gering im Verhältnis zur Masse des gedruckten Materials. Kunterbunt ist das Begriffsarsenal, und wahre Deutungskunststücke zwangen Kafkas Texte in Interpretationsschemen, als wäre Vieldeutigkeit nicht geradezu das Strukturmerkmal dieser Dichtung. Wie oft wurde die „Offenheit aller Möglichkeiten“ in eine eng umrissene, allzu leicht deutbare Problemstellung herabgemindert. Aus einem visionär gesehenen Universum haben sie eine kleine, streng determinierte Angstwelt mit politischer, sozialer oder existenzialistischer Chiffresprache gemacht. Aber „Der Prozeß“ ist keine einfache Justizsatire, „Das Schloß“ keine Aufdeckung der Irrgänge einer grotesken Bürokratie und „Amerika“ nicht der Roman zur Erhellung der sozialen Problematik der Neuen Welt. „Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist...“, heißt es in dem Prosastück „Von den Geichnissen“, als die Kafkas Dichtungen aufzufassen sind.

Wie sich Interpretationsversuche in alle erdenklichen Widersprüche und Doppelsinnigkeiten verrennen können, sei an einem Paradebeispiel, der kleinen Geschichte „Die Sorge des Hausvaters“ (sie umfaßt knapp 67 Zeilen), aufgezeigt Kafka erzählt darin in einer Stilmischung von Ironie, Betroffenheit und minutiöser Sachlichkeit von dem Ding Odradek, einer sternartigen Zwirnspule, die mit Hilfe eines winzigen Querstäbchens und den Strahlen wie auf zwei Beinen aufrecht stehen kann. „Das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres läßt sich übrigens nicht darüber sagen, da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen ist.“ Er bleibt monatelang verschwunden, vermag einfache Fragen zu beantworten und auch zu lachen („es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann“). „Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat hat vorher eine Art Ziel, eine Tätigkeit gehabt, und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. — Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche.“

Im Rahmen des von der Berliner Akademie der Künste im Februar vergangenen Jahres abgehaltenen Kafka-Kolloquiums wurden unter anderem folgende Stellungnahmen diskutiert: Wilhelm Emrich sieht im Rätselding Odradek, das der „Hausvater“ mit Sorge betrachtet und beschreibt, „das Fazit aller der Menschen- und Tiergesellschaft sich vollziehenden Bemühungen“, das ,;inednander und Gegeneinander aller menschlichen Lebens- und Denkvorgänge“. Für Malcolm Pasley (Oxford) schien Odradek „eine Chiffre für Kafka selbst zu sein“. Eine andere, den vorhergehenden widersprechende Interpretation postulierte (ausgehend von Kafkas Briefen an seine zweimalige Verlobte Feiice Bauer) „das Schreiben“ als zentralen Begriff im Leben dieses Realisten der Irrealität. Schreiben bedeutete für ihn Selbsterkenntnis und Wahrheitssuche. „Es ist mein Kampf um die Selbsterhaltung.“ Auf diesen Vorgang des Schreibens sei die Sorge Kafkas in der Rolle des „Hausvaters“ bezogen. Vielleicht habe Kafka sein Leben als Literatur gelebt. Demnach beschreibe er in der kleinen, ihn bedrängenden Geschichte die Sorge des Schreibenden — wobei das Ding Odradek nicht das fertige, abgeschlossene Werk vorstelle, sondern das unfertige, im Entstehen begriffene, das sich immer wieder entziehende, bewegliche. Odradek ist aber zugleich viel mehr als das schriftstellerische, abschließbare Werk; es ist auch das Bewegliche, Nichtberechenbare in Kafka selbst. Mit Recht stehe daher die kurze Geschichte im Mittelpunkt der Interpretation, weil sie einen zentralen Impuls für das Verständnis von Leben und Werk Kafkas bedeute.

Wenig zutreffend und darum auszuschließen sei die Annahme, im „Hausvater“ Kafkas Vater und in Odradek Franz Kafka, also den Vater-Sohn-Konflikt zu sehen; völlig hinfällig die Spekulation, Odradek „bedeute“ das Christentum. — Der Bericht über die Ergebnisse der Berliner Tagung schloß mit dem Eingeständnis: „Er (Kafka) ist nicht erklärbarer geworden. Er wurde eindringlicher.“ Die Meinung eines qualifizierten Kenners der literarischen Entwicklung, daß Franz Kafka nirgends von so undurchdringlichem Schweigen umgeben sei wie unter seinen Interpreten, setzt ein weniger bekanntes Wort Kafka voraus: „Erwarten Sie von der Erklärung der Dichtung keine Hilfe. Sie werden im besten Fall die Erklärung verstehen... Eingenäht in diese Erklärung werden Sie ... das suchen, was Sie schon wissen, was Wirklich da sein wird, werden Sie nicht sehen.“

Gründlich mißverstanden und abgelehnt hat ihn Bertolt Brecht (wie es Walter Benjamin in seinem Suhrkamp-Bänd-chen ..Versuche über Brecht“ mitteilt). Seine Auffassung deckt sich dabei weitgehend mit der einiger ostdeutscher Dogmatiker. Brecht war durch Kafkas Werk sichtlich beunruhigt, zumal er nur darauf aus war, aus Kafkas Geschichten „praktikable Vorschläge... in der Richtung der großen allgemeinen Übelstände zu suchen, die der heutigen Menschheit zusetzten“. Kafkas einziges Problem sei die Anigst vor dem Amedsenstaat gewesen, die Selbstentfremdung der Menschen durch die Form ihres Zusammenlebens. Aber er habe keine Lösung gefunden und sei nie aus seinem Angsttraum erwacht. Kafkas Perspektive sei die des gescheiteren Kleinbürgers. (Bezeichnend dafür „Odradek“: Brecht deutete die Sorge des Hausvaters als den Hausbesorger.) Freilich nicht der heute geläufige Typ des Kleinbürgers, der Faschist, der nach dem „Führer“ verlangt, sondern der kleine Mann voll „unbelehrbarer Naivität'“, der sich weise dünkt und sich kaum der Lage widersetzt. Schließlich Brechts rüdes Urteil: „... er habe in Prag in einem schlechten Milieu von Journalisten, von wichtigtuerischen Literaten gelebt, in dieser Welt war die Literatur die Hauptrealität, wenn nicht die einzige; mit dieser Auffassung hängen Kafkas Stärken und Schwächen zusammen; sein artistischer Wert, aber auch seine vielfache Nichtsnutzigkeit. Er ist... ein dürftiges, unerfreuliches Geschöpf, eine Blase... auf dem schillernden Sumpf der Kultur von Prag, sonst nichts.“

Neue Bewegung und Ruhe kam in die Auseinandersetzung um Kafka, als sich im Mai 1963 aus Anlaß seines 80. Geburtstages kommunistische Literaturkritiker, Philosophen und Schriftsteller auf Schloß Liblitz bei Prag trafen. Damals wurde der Vorwurf der „bürgerlichen Dekadenz“ von Kafka genommen und eine Revision des kommunistischen Kafka-Bildes durchgesetzt. Man hatte erkannt, daß auch der Realismus dialektischen Entwicklungsgesetzen unterliege. Die veraltete Definition des „Realismus“, der sich an der Literatur des 19. Jahrhunderts orientierte, war seither nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Das weltweite Echo und die ungeheuere Breitenwirkung des in seiner Absicht und seinem Schicksal dunkelsten und seltsamsten Werkes der Weltliteratur halten an. Kafkas erstes Buch „Betrachtung“ erschien 1912 in 800 Exemplaren bei Rowohlt und war erst 1924, im Todesjahr, vergriffen. Heute hat allein die Taschenbuchausgabe des Romans „Der Prozeß“ 220.000 Stück überschritten. Man fahndet nach literarischen Doppelgängern und sichtet die immer zahlreicher werdenden Epigonen. Alle unterliegen sie dem Bann dieser Einbildungskraft, kommen zu Kafkaschen Schlüssen und Gedankengängen, schaffen wie er mit den Mitteln des schriftstellerischen Realismus allegorische Menschen und Situationen. Aber indem sie eine darstellerische Methode auf sich und ihre persönliche Lage anwenden, müssen sie die Sinnfülle ihres Vorbilds vereinfachen und verkürzen. So entstanden und entstehen die zahlreichen Kafka-Variationen und Kafka-Klischees im Roman und in der Erzählung. Hatte aber nicht schon der sehr alte Goethe an die jungen Dichter seiner Zeit die Forderung gerichtet: „Poetischer Gehalt aber ist Gehalt des eigenen Lebens.“

Schlecht steht es auch um den dramatisierten, veroperten und verfilmten Kafka. Alle Spielfassungen („Der Prozeß“ von Jean-Louis Barrault und Andre Gide, „Das Schloß“ und „Amerika“ von Max Brod) versagten vor der Phantasie und bildeten nur einen kümmerlichen Ersatz für die Dichtung. In jedem Fall merkte man, wieviel durch die Umwandlung in dde Sphäre des Sichtbaren von Kafkas Denkfiguren verlorenging. Walter Benjamin hat auf das Gestische in Kafkas Figuren aufmerksam gemacht und gemeint: „Kafkas Theater ist ein Weltrtheater, ihm steht der Mensch von Haus aus auf der Bühne.'“ Aber die Bühne, auf der sich Kafkas Gestalten bewegen, ist seine harte, dichte, nahtlos spannende Prosa mit ihrem so stillen Grundton. Sie braucht keine Ergänzung.

In Prag, wo das Stück von Albee „Keine Angst vor Virginia Woolf“ unter dem Titel „Keine Angst vor Franz Kafka“ gespielt worden sein soll, ist man nach seiner Rehabilitierung darangegangen, ihn für die Bühne zu beanspruchen. So brachte ■ Jan Grossmann, Regisseur und Leiter des Theaters am Geländer, eine eigene Dramatisierung des „Prozeß“, der man „absolute Werktreue“ nachrühmte. Dabei schien er es mehr auf die erotischen Phantasien des Josef K. abgesehen zu haben, ließ in der Domszene hinter der Gleichnisauslegung neben der Drohung auch die Verführung anklingen (der Darsteller des Priesters zeigte, barfuß und in gegürtetem Mönchsgewand, weiche, feminine Bewegungen) und konfrontierte Josef K. in der Szene des Gerichtsmalers Titorelli „mit einem wahren Inferno der Erotik“. Offenbar wurde hier Kafka mit allem brünstigen Exhibitionismus des neuen Wellenschlages für die „brillante Vision“ des Regisseurs mißbraucht. In dem Schauspiel „Ein Schloß“ des Prager Autors Ivan Klima heißt der Held Josef Kan und ist der Sohn eines Landvermessers. Auch hier eine unverhüllte und etwas plumpe Anspielung auf Kafka, dessen „Schloß“ in die jüngste Prager Vergangenheit inmitten einer sozialistischen Nachkriegsgesellschaft versetzt wurde.

Eine richtige Sensation, die zunächst ebensoviel Skepsis wie Neugier auslöste, entstand durch die Veröffentlichung eines bisher unbekannten Schauspiels von Kafka mit dem lUtel „Ein Flug um die Lampe herum“. Die Universal-Edition, Wien, wußte einige Bühnen und Litenaturkenner für das nachgelassene, angeblich vierzig Jahre lang beim Bearbeiter, dem Prager Opernregisseur Ludek Mandaus (Jahrgang 1898), verwahrte Stück zu interessieren. Es sind 39 Szenen eines Personen- und effektreichen Bühnenwerkes, wobei das Manuskript mindestens fünfmal die vollständige Entkleidung einer Schauspielerin vorschreibt. In der alsbald einsetzenden Echtheitsdiskussion mehrten sich die Stimmen, die eine Autorschaft Kafkas ausschlössen. Der bekannte Prager Germaniist Eduard Goldstücker, dem seinerzeit als Hauptiniitiator der Konferenz von LiMice in Verein mit Ernst Fischer (Wien), Roman Karst (Warschau) u. a. die totale Aufwertung Kafkas gelungen war, setzte sich im offiziellen Organ des tschechoslowakischen Schriftsteller-Verbandes mit dem „neuen“ Fund auseinander. Er schloß mit unverhohlener Schärfe: Der Autor des Stückes sei offenbar mit der technischen Seite der Kafkaschen Diktion wohlver-trauit und verdiente Bewunderung für die so gelungene Nachahmung der Kafkaschen Atmosphäre. Aber gerade dadurch habe er sich verraten. „Dort, wo Kafka seine Lebenssituation zu einer geradezu symbolischen Gültigkeit zu steigern vermochte, arbeitet unser Autor mit flacher Analogie.“ Ihn drängte nicht „wie Kafka in jeder Zeile, die er schrieb, eine innere Notwendigkeit zur Gestaltung... sondern die Rücksicht darauf, was zieht. Es zieht Kafka, es zieht ein bißchen Mystik der osteuropäischen Chassiden, es ziehen Nacktheit und Sex auf der Bühne. In Mode sind auch Floskeln der Existenzphilosophie und der Konversation ä la Ionesco, die sich gleich Parallelen erst im Unendlichen treffen“.

Der den Lärm zeitlebens gehaßt und dessen legendäre Scheu vor der Öffentlichkeit ihn von der Bühne fernhielt, notiert augenblicklich hoch auf dem Markt der Sensationen. Das Musiktheater hat ihn für sich entdeckt, der Film läßt ihn nicht los. Nach dem gigantomanischen „Prozeß“ von Orson Welles sind jetzt Maximilian Schell und Rudolf Neolte dabei, „Das Schloß“ zu verfilmen. Nach Schell handelt es sich dabei um eine „ganz einfache Geschichte... ein Schicksal, das jeder versteht“. Man ahnt Schlimmes.

Das „Gib's auf“ des Schutzmannes in Kafkas später Parabel möchte man vielen Bearbeitern zurufen, die sich immer wieder seiner Stoffe bemächtigen. Sie lassen sich den Spaß, Josef K. auf der Bühne sprechen oder singen zu hören oder ihn über die Filmleinwand huschen zu sehen, etwas kosten und sparen zudem nicht mit Einfällen, auch nicht mit fremden. Dabei gibt es zwei Stellen in Kafkas „Aufzeichnungen“, die durchaus Verbindliches aussagen. Die eine: „... im Roman kann uns der Dichter nur das Wichtige zeigen, im Drama sehen wir dagegen alles, den Schauspieler, die Dekorationen, daher nicht nur das Wichtige, also weniger.“ Die andere: „Musik zeugt neue, feinere, kompliziertere und darum gefährlichere Reize. Dichtung will aber die Wirrnis der Reize klären, in das Bewußtsein heben, reinigen und dadurch vermenschlichen. Musik ist eine Multiplikation des sinnlichen Lebens. Die Dichtung dagegen ist seine Bändigung und Höherführunig.“

Vielleicht wird es wieder einmal etwas stiller um Kafka werden, damit auch die ernsthafte Forschung, für die es an Textkritik bis zur endgültigen Ausgabe, an umfassender Bestandsaufnahme und Untersuchung von Kafkas Sprache, an seine Einordnung in den europäischen Zusammenhang so viel zu tun gibt, ihre Arbeiten ungestörter fortsetzen kann. Es ist kaum anzunehmen, daß er in unserer raschlebigen Zeit so bald vergessen wird. Man kann sich eigentlich die Generation noch nicht vorstellen, welche diese zutiefst repräsentative Gestalt unseres Jahrhunderts altmodisch finden könnte und sich darum nicht wünschte, mit ihm vertraut zu werden.

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