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Kalkutta - Pekings Hoffnung

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„Chairman Mao is our Chairman“ — an weit mehr als hundert Stellen des sagenumwobenen Kalkuttas springt dem Besucher dieses Plakat ins Auge, und es ist die Millionenstadt am Gangesdelta gewiß einer der dankbarsten Agitationsherde der Maoisten oder Naxaliten, wie sie in der indischen Presse genannt werden. Niemand weiß genau, wieviele Millionen zur Zeit diese ehemalige britische Modellstadt bevölkern — die Schätzungen bewegen sich zwischen 1 und 10.

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„Chairman Mao is our Chairman“ — an weit mehr als hundert Stellen des sagenumwobenen Kalkuttas springt dem Besucher dieses Plakat ins Auge, und es ist die Millionenstadt am Gangesdelta gewiß einer der dankbarsten Agitationsherde der Maoisten oder Naxaliten, wie sie in der indischen Presse genannt werden. Niemand weiß genau, wieviele Millionen zur Zeit diese ehemalige britische Modellstadt bevölkern — die Schätzungen bewegen sich zwischen 1 und 10.

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Den Touristen, der nicht weit über den Viktorianischen Kern dieser Halenstadt hinauskomimit, streifen die mannigfaltigen Probleme Kalkuttas nur oberflächlich, und er ist eher geneigt, den von einem überschwenglichen Reiseführer angestellten Vergleich mit Manchester oder Pittsburgh zu glauben, als die mancherorts von Indern geäußerte Behauptung: „Kalkutta ist ein Krebsgeschwür, das im Fleische Indiens wuchert.“ Doch wer das relativ saubere Zentrum Fort Williams verläßt, wird bald mit dem die Stadtverwaltung weit überfordernden Wohnungsproblem konfrontiert. Am Rande von mit Schlaglöchern übersäten Ausfahrtsstraßen findet man eine schier unübersehbare Häufung von Elendsquartieren, wie man sie nicht einmal dem Vieh zumuten möchte. Ebenso wie dieses, genießen die sich in den Zigtausendern bewegendem Obdachlosen eine ungehinderte Bewegungsfreiheit, wenn sie nicht gerade von heftigen Monsun-gewittern unter die Vorbauten zusammengetrieben werden und dort eindrucksvoll darstellen, was das Schlagwort vom „Druck auf den Boden“ in der Vorstellungskraft des Europäers meist nicht zustande bringt. Und nicht viel ermutigender wirkt ein Blick in einige der armseligen Hütten, wo in den gravierendsten Fällen pro Familienmitglied nicht einmal ein ganzer Quadratmeter „Wohnraum“ zur Verfügung steht. Daß solche Verhältnisse ein fruchtbarer Boden für .Chairman Mao“ und seine Ideologie sind und daß die Saat in Form zahlreicher Naxalitengruppen seit etwa drei Jahren sprießt und gedeiht, wird niemanden wundem.

Dennoch wäre es verfehlt, die Schuld an der Misere der ehemaligen Hauptstadt Britdsch-Indiens allein zwischen der Zentralregierung in Neu-Delhi, dem Land Westbengalen und der Stadtverwaltung aufzuteilen. Auch internationale Gremien, wie etwa die Weltbank, wurden spät aber doch aufgerüttelt, und Präsident McNamara zeigte sich nach seinem Besuch in der Slum-Metro-pole regelrecht erschüttert und versprach ein MUliarden-Dollar-Sanierungsprojekt. Die Ford-Foundation brachte bereits mehr als eine Million Dollar für die Nöte der Riesenstadt auf. Doch außer den bei Hilfeleistung von verschiedenen Seiten stets üblichen Koordinationsmängeln — unlängst auch wieder auf einer Entwicklungshilfetagung der Geberländer in Heidelberg kritisiert — ist es ein zum Teil selbstverschuldetes Erbschaftsproblem aus den Tagen der Teilung Bengalens, das dem schon vorhandenen Elend täglich neuen Zufluß verschafft: der Flüchtlingsstrom aus dem östlichen Bengalen, seit 1947 Ostpakistan.

Jeden Tag passieren derzeit bei Basirhat 2000 Flüchtlinge die Grenze vom ebenfalls stark übervölkerten Ostpakistan nach Indien. Diese Zahlenangabe entstammt indischen Quellen und basiert hauptsächlich auf den Aussagen von Grenzbeamten und dem Personal der Auffanglager, welche für diese Masse von fast ausschließlich hiduistischen „Heimkehrern“ nur unzulängliche Versorgungsmöglichkeiten bereithalten. In diesem Jahr kamen bereits mehr als 120.000 Geflüchtete, fanden zu wenige und außerdem oft wasserdurchlässige Zelte vor, setzten ihren Exodus fort und landeten schließlich häufig im Pfuhl der Vorstädte Kalkuttas, wo sie die Schar der halben Million Arbeitsloser wie auch die der Obdachlosen ständig vergrößern. Nicht einmal die Hälfte der Auswanderer konnte dieses Jahr in die Lager anderer Bundesstaaten verfrachtet werden, und die meisten der ein neues Refugium Suchenden, die als Fluchtgrund Lebensmittelknappheit und politische Unsicherheit in Ostpakistan angaben, kamen somit vom Regen in die Traufe. Des weiteren gießen sie Wasser auf die Mühlen des politischen Untergrundes, von dem sie, speziell in Basir-hat und den umliegenden Dörfern, aufgefordert werden, die Wohnungen hier ansässiger Muslim zu okkupieren, was' nur allzu gerne als Revanche für früher erlittene Repressalien befolgt werden dürfte. Die stets latente Gefahr des Ausbruches neuerlicher Religionstumulte scheint vor diesem Hintergrund weiter im Wachsen begriffen. Kalkuliert man zudem noch die acht bis neun Millionen in Ostpakistan verbliebenen Hindus als potentielle Flüchtlinge mit ein, so scheint in Anbetracht der jüngsten täglichen Grenzgängerquote — der höchsten seit dem riesigen Exodus des Jahres 1950 — nur eine Lösungsmöglichkeit dieses akuten Problems gegeben zu sein:

Normalisierung der Beziehungen zwischen Indien und Pakistan!

Doch dies scheint in Anbetracht der mannigfaltigen, glosenden, offenen Fragen zwischen den beiden Staaten eher ein frommer Wunsch denn ein realisierbares Unterfangen. Kaschmir, verschiedene Wassernutzungs-streitigkeiten und nicht zuletzt die ständigen wechselseitigen Beschuldigungen, die religiösen Minderheiten zu unterdrücken, haben das Klima seit dem kurzen Krieg vor fünf Jahren keineswegs entgiftet. Dazu kommt noch die geschickte Balancepolitik Pakistans zwischen Rußland und China, deren Erfolge speziell im letzteren Fall die Einkreisungsfrucht in New-Delhi nähren. So vermehren beide Länder ihre ohnehin schon gravierenden internen Probleme, schieben sich gegenseitig den schwarzen Peter zu — letztlich nur auf Kosten von fast 700 Millionen Menschen — fordern fleißig Entwicklungshilfe und verwenden beträchtliche Budgetsummen für militärische Zwecke.

Kalkutta und mit ihm ganz Westbengalen sind momentan durch diese unerquickliche Situation am schwersten betroffen. An Stelle positiver Lösungsvorschläge liest man in Kommentaren über die mißliche Lage meist Äußerungen wie „Gandhi erklärte, eine Teilung des indischen Subkontinentes sei nur über seinen Leichnam hinweg möglich“ — er überlebte sie fast ein halbes Jahr — oder „Gott liebt das Volk der Bengalen; es besteht Hoffnung, wenn wir seiner Führung folgen und eines nach dem anderen zu ändern trachten“. Der Stellungnahme von Raj-mohan Gandhi, einem Enkel des Mahatma und heute einem der maßgeblichen Publizisten Indiens', daß „die Stunde sehr, sehr spät ist, nicht nur für Kalkutta, sondern für ganz Indien“, wäre noch hinzuzufügen, daß Peking seinen besten Ansatzpunkt für subversive Aktionen mit berechtigten Erfolgsaussichten nur dann verlieren kann, werm die Mentalität des Volkes mehr in die Richtung des „hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“ gelenkt wird. Jedenfalls hat die Stadt des Nobelpreisträgers Rabindranath Tagore berechtigte Aussichten, in der nächsten Zeit vom indischen Sorgenkind Nr. 1 zum Sorgenkind der Weltpolitik aufzurücken.

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